# taz.de -- Social Skills fürs Abitreffen: Viel von Nichts
       
       > Unser Autor muss in die Heimat. Er bekommt Tipps von der Verkäuferin im
       > Bord-Bistro und Angst. Und fühlt sich regiert von der Macht der
       > Kategorien.
       
 (IMG) Bild: Balanceakt, wenn alle sagen, was sie haben, aber nicht: was sie machen
       
       Zugbistro, 17.34. Ich bestelle Kaffee. Die Verkäuferin hält das
       [1][Kartenlesegerät] hin und sagt, ich habe sicher eine Frau. Ich solle
       mich hier wie bei ihr verhalten. Wenn ich mache, was sie sage, sei „alles
       gut“.
       
       Lol, was die mir alles unterstellt: Dass ich hetero und verheiratet bin mit
       einer Person, die sich so verhält wie ein Kartenlesegerät und dass alles
       gut sei, solange ich mich ihr unterwerfe.
       
       Ich finde es cute, wie direkt die Mitarbeiterin ist. Und interessant, wie
       selbstverständlich sie mich in ihre Welt ziehen will, die sie als objektive
       Wirklichkeit liest.
       
       Das alles könnte mir scheißegal sein, aber ich habe diesen inneren Drang.
       Will stets wissen, was mich macht. Allumfassendes Spüren, bevor der
       Verstand sich das Erlebte zum Krimi zurecht denkt.
       
       Ich mache, was das Gerät sagt, verberge mein Grübeln hinter einem Lächeln
       und sage danke. Ambiguitätstoleranz ist voll wichtig. Ein Skill, den ich
       morgen noch brauche. Ich fahre zum [2][Abitreffen] an meinen alten Wohnort.
       Je näher ich komme, desto größer die Angst vor der Begegnung mit den
       Ex-Mitschüler*innen. Ich antizipiere Gespräche über Karrieren, Kapital und
       Scham. Ich bin kinder-, beziehungs- und besitzlos, ohne festen Job.
       
       Am Bahnhof holt mich meine Mutter ab. Ich freue mich, sie zu sehen, auch
       weil sie beim Thema Selbstzweifel eine Verbündete ist. Sie sagt, ich sähe
       unglücklich aus. Dabei lächle ich doch die ganze Zeit, oder nicht? Ich
       sollte meine Emotionen besser steuern.
       
       ## Fuckup sein
       
       Beim Abitreffen haben dann alle viel. Lea hat zwei Kinder, ein Haus, zwei
       Autos. Stefan hat drei Kinder, ein Auto. Nele hat kein Haus, aber zwei
       Autos, vier Kinder usw. Und ich? Beantworte fast alle Fragen mit Nein.
       Denke, was ein Fuck-up ich doch bin. Ich fühle mich ironisch gestreichelt
       von der unsichtbaren Hand des Marktes, Hüterin aller Kategorien, die mich,
       die Zug-Mitarbeiterin und Ex-Mitschüler*innen regieren.
       
       Aus Trotz schlüpfe ich in mein 16-jähriges Selbst. Damals lebte ich von
       Bier, Punkrock und Illusionen, ahnte nur wenig vom Kartenlesegerät oder
       Kategorienzwang. Ich werde, dachte ich damals, sowieso von einer
       Bierflasche am Kopf, einem getunten Auto oder von Traurigkeit ohne Ventil
       umgebracht worden sein.
       
       Nichts davon wurde wahr. Heute lebe ich ganz okay außerhalb der Kategorien,
       bin aber ein Loser, wenn ich mich über sie definieren soll.
       
       Als ich mit allen anstoße, überlege ich, ob das alles eher ein Problem der
       Sprache ist, die von Substantiven dominiert wird und Verben verdrängt?
       Dinge haben, Häuser, Kinder, Jobs – statt zu „leben“, zu „lieben“, zu
       „arbeiten“. Haben statt sein. Da kann ich nicht mithalten.
       
       Eine Sache besitze ich im Überfluss, zumindest im Kopf: Müll. Ich wünschte,
       ich könnte ihn leeren wie am PC und dieses raschelnde Geräusch erzeugen.
       Doch er kommt ständig zurück. Ich kann ihn nur loswerden, wenn ich ihn
       durch neuen Müll ersetze. So wie alles, das eigentlich für sich selbst
       stehen könnte, stets einen Begriff benötigt, um zu existieren – um dahinter
       zu verschwinden.
       
       Ich glaube, bevor es Sprache gab, reagierten Menschen nur auf direkte
       Stimuli, alles war einzigartig. Heute filtern Menschen alles durch
       Kategorien.
       
       Wie hätte die Verkäuferin sonst das Gerät erklärt? Ich will es gar nicht
       wissen.
       
       17 Sep 2024
       
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