# taz.de -- Ermittlungsverfahren gegen Telegram-Chef: Härteres Vorgehen
       
       > Die Telegram-Devise lautet: keine Moderation, keine Regeln. Nun wird
       > gegen den Chef ermittelt. Wird es auch für andere Plattformbetreiber
       > ungemütlich?
       
 (IMG) Bild: Protest gegen die Verhaftung von Pawel Durow
       
       Er zeigt sich in sozialen Medien gern beim allmorgendlichen Bad in der
       Eiswanne, kürzlich prahlte er damit, biologischer Vater von 100 Kindern zu
       sein – sein Beitrag gegen den „weltweiten Mangel an gesundem Sperma“. Pawel
       Durow, Techunternehmer und [1][Boss des Messengerdienstes Telegram],
       leidet nicht unter falscher Bescheidenheit. In wenigen Jahren hat er aus
       seiner Wahlheimat Dubai Telegram zu einer der wichtigsten
       Social-Media-Plattformen der Welt aufgebaut. Ende dieses Jahres sollen eine
       Milliarde Menschen das Gratisangebot nutzen.
       
       Nun [2][drohen Durow bis zu 20 Jahre Haft]. Dem Vernehmen nach wusste der
       Unternehmer, dass in Frankreich ein Haftbefehl gegen ihn vorliegt.
       Gleichwohl flog der Staatsbürger Russlands, Frankreichs, der Vereinigten
       Arabischen Emirate und des Karibikstaats St. Kitts und Nevis am
       vergangenen Samstag aus Aserbaidschan nach Paris – und wurde dort
       verhaftet.
       
       Der Vorwurf der französischen Behörden: Telegram leiste Beihilfe zu
       Straftaten wie Kinderpornografie und Drogenhandel, die Plattform weigere
       sich, Informationen über Nutzer, die illegale Inhalte verbreiteten, an
       Behörden weiterzuleiten. Am Mittwoch dieser Woche leitete die
       Staatsanwaltschaft formelle Ermittlungen gegen Durow ein. Ein
       Ermittlungsrichter sah dafür „ausreichende Anhaltspunkte“. Durow kam
       [3][gegen Zahlung einer Kaution] von 5 Millionen Euro frei, darf
       Frankreich aber nicht verlassen und muss sich zweimal pro Woche bei der
       Polizei melden.
       
       Genau wie Durows Anwalt nannte Telegram es in einer Stellungnahme „absurd“,
       dass „eine Plattform oder ihr Eigentümer für den Missbrauch dieser
       Plattform verantwortlich sind“. Die Freiheit, auf Telegram in Gruppen mit
       bis zu 200.000 Nutzern und in Kanälen von unbegrenzter Größe alles zu
       verbreiten, hat Durow zum Markenkern erhoben. Telegram verweist gern
       darauf, dass es für Redefreiheit kämpfe, rühmt sich seiner „prominenten
       Rolle“ für prodemokratische Bewegungen etwa in Iran, [4][Belarus], Myanmar
       und Hongkong. Für Russlands Opposition ist die App heute
       Kommunikationskanal Nummer eins.
       
       ## Einer der wichtigsten Kanäle für Desinformation
       
       Denn Telegram ist verschlüsselt, umging bisher erfolgreich fast alle
       staatlichen Blockadeversuche, und anders als auf anderen großen
       Social-Media-Plattformen gibt es keine Moderation und keine Regeln.
       
       So verbreiten sich etwa auch Livestreamvideos der Attentäter von Halle und
       Christchurch, Darstellungen verstümmelter Leichen Schwarzer Menschen,
       Rekrutierungsanzeigen für den IS oder massenhaft Angebote harter Drogen auf
       Telegram ungehindert. Die Plattform ist heute einer der wichtigsten Kanäle
       für – oft von [5][Russland] gesteuerte – demokratiezersetzende
       Desinformation.
       
       Die dänische Zeitung Politiken nannte Durow einen
       „Meinungsfreiheitsabsolutisten“, eine Bezeichnung, die er wohl auch selbst
       akzeptieren würde. Es ist ein nach rechts anschlussfähiger, [6][libertärer
       Freiheitsbegriff, ähnlich dem von Elon Musk]. Liberale Demokratien, die
       Menschen- und Minderheitenrechte zu verteidigen versuchen, gelten in dieser
       Weltsicht schnell als „autoritär“. Wer, wie Durow, einen Raum schafft, in
       dem Hetze keine Schranken kennt, gilt hingegen als Freiheitskämpfer.
       
       Im Netz folgten viele deshalb Durows Auffassung, dass er keine
       Verantwortung für die Inhalte auf seiner Plattform trage. Der in Neuseeland
       [7][in Auslieferungshaft sitzende Ex-Hacker Kim Schmitz], bekannt als Kim
       Dotcom, twitterte: „Welcome to the club!“ Durow für Straftaten auf Telegram
       belangen zu wollen sei, wie den Apple-Boss Tim Cook anzuklagen, weil
       Verbrecher iPhones verwenden, schrieb ein Nutzer auf X. Durow habe den
       „freiesten Raum für Kommunikation des 21. Jahrhunderts geschaffen“, jetzt
       werde ihm seine Freiheit vom „Land von Liberté, Égalité, Fraternité“
       genommen, schrieb ein anderer.
       
       ## Wie reagiert der Kreml?
       
       Anfang des Jahres hatte Durow kategorisch zurückgewiesen, etwas mit dem
       russischen Staat zu tun zu haben. 2014 musste er Russland verlassen,
       nachdem er sich geweigert hatte, Daten seiner damaligen Plattform VKontakte
       an den russischen Geheimdienst weiterzugeben. 2018 wollte Russland den
       Zugang zu Telegram blockieren, weil sich das Unternehmen geweigert hatte,
       Sicherheitsbehörden Zugang zu verschlüsselten Nachrichten zu gewähren. Nach
       Massenprotesten verzichtete Moskau aber darauf.
       
       Und nach dem [8][islamistischen Anschlag mit 143 Toten Ende März auf die
       Crocus City Hall] bei Moskau blieb der Kreml im Ton moderat: Russischen
       Staatsmedien zufolge wurden die Attentäter über einen Telegram-Kanal des
       afghanischen IS rekrutiert. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte damals, eine
       Blockade von Telegram sei dennoch nicht geplant. Stattdessen ermahnte der
       Kreml Durow lediglich zu „mehr Aufmerksamkeit“.
       
       Dass Moskau Durow nicht mehr als Gegner sieht, dürfte auch damit zu tun
       haben, dass die russischen Truppen in der Ukraine vor allem Telegram zur
       Kommunikation nutzen. Nach Durows Verhaftung stellte Russland sich mit
       bemerkenswerter Chuzpe als Verteidiger der Meinungsfreiheit an seine Seite,
       vermutete politische Motive. Außenminister Sergei Lawrow sagte, die
       Beziehungen zwischen Russland und Frankreich hätten einen „Tiefpunkt“
       erreicht. Der Duma-Vorsitzende Wjatscheslaw Wolodin sah in der Festnahme
       einen Versuch der USA und Frankreichs, die Kontrolle über Telegram zu
       erhalten. „Telegram ist eine der wenigen und zugleich größten
       Internetplattformen, auf die die USA keinen Einfluss haben“, so Wolodin.
       
       Unter den größten Telegram-Channels in Deutschland sind viele rechtsextrem
       oder verschwörungsideologisch und verbreiten Kreml-Propaganda mit oft je
       sechsstelliger Reichweite. Mit Blick auf Durows Festnahme sagte der
       deutsche Vizeverfassungschutzpräsident Sinan Selen, im Bereich
       islamistischer Terror oder Rechtsextremismus gebe es „nicht den Austausch
       wie mit anderen Plattformen“. Telegrams Antworten auf Anfragen seien
       „limitiert“, so Selen. Es gebe Plattformen, die sehr schnell und
       zuverlässig Auskünfte geben. Dazu gehöre Telegram nicht.
       
       ## Grundrechte, Privatsphäre, öffentliche Sicherheit
       
       Allerdings hat Telegram nach Spiegel-Berichten in der Vergangenheit in
       mehreren Fällen von Kindesmissbrauch und Terrorismus Nutzerdaten an das BKA
       weitergegeben. Und über 100 vom BKA an Telegram gemeldete deutsche Kanäle
       und Gruppen seien gelöscht worden.
       
       Telegram verwies nach Durows Festnahme darauf, dass das Unternehmen sich an
       EU-Gesetze „einschließlich des Digital Services Act“ halte. Die Moderation
       „entspricht den Branchenstandards und wird ständig verbessert“. Doch das
       ist fraglich.
       
       Der Digital Services Act (DSA) ist ein im Februar 2024 in Kraft getretenes
       Regelwerk für Social-Media-Plattformen. Es verpflichtet die großen
       Onlineplattformen dazu, selbst gegen sogenannte systemische Risiken
       vorzugehen. Dabei handelt es sich um Bereiche, in denen ein
       unkontrollierter Informationsfluss der Gesellschaft schaden kann:
       Grundrechte, Privatsphäre, Kinderrechte, Diskriminierung, öffentliche
       Gesundheit, Wahlen, die öffentliche Sicherheit und der „zivile Diskurs“.
       Eine neue Abteilung der EU-Kommission prüft, ob die Anstrengungen der
       Konzerne ausreichen. Andernfalls drohen Bußgelder von bis zu 6 Prozent des
       Jahresumsatzes.
       
       Das betrifft aber nur sogenannte Very Large Online Platforms mit mindestens
       45 Millionen Nutzer:innen in der EU. Telegram behauptet, EU-weit nur
       rund 41 Millionen Nutzer:innen zu haben. Deshalb muss der Dienst kein
       „Risikomanagement“ im Sinne des DSA betreiben. Allerdings musste Telegram,
       das lange für die Behörden überhaupt nicht greifbar war, einen
       Bevollmächtigten ernennen. Vertreten wird es nun von einem Dienstleister
       namens EDSR in Brüssel.
       
       ## Defensiv im Kampf gegen Hetze
       
       Die EU-weit zuständige Aufsichtsbehörde ist deshalb das Belgische Institut
       für Postdienste und Telekommunikation (BIPT). Es prüfte seit Mai, ob
       Telegrams Angabe korrekt ist. „Wir haben bisher keine Zahlen erhalten, die
       auf mehr als 45 Millionen monatlich aktive Nutzer hindeuten würden“, sagte
       in der vergangenen Woche ein BIPT-Sprecher.
       
       Der Kommission reichte das nicht: Am Mittwoch leitete sie laut einem
       Bericht der Financial Times selbst eine Untersuchung ein, um zu prüfen, ob
       Telegram in Wahrheit nicht doch über dem Schwellenwert liegt und
       entsprechende Verpflichtungen erfüllen muss.
       
       Gleichwohl wies die Kommission Vermutungen zurück, dass Durows Verhaftung
       etwas mit möglichen Verstößen gegen den DSA zu tun habe. „Die
       strafrechtliche Verfolgung gehört nicht zu den möglichen Sanktionen für
       einen Verstoß gegen den DSA“, sagte ein Kommissionssprecher dem Sender
       Euronews. Der DSA definiert weder, was illegal ist, noch legt er einen
       Straftatbestand fest und kann daher nicht für Verhaftungen herangezogen
       werden. Allerdings verfolge die Kommission die Entwicklungen im
       Zusammenhang mit Telegram und sei „bereit, mit den französischen Behörden
       zusammenzuarbeiten“.
       
       Wie defensiv die Versuche, die Social-Media-Plattformen im Kampf gegen
       Hetze und Desinformation zu regulieren, bisher waren, zeigte sich unter
       anderem daran, dass Telegram mit einer einfachen Selbstauskunft davonkam.
       Lange setzen Regulierer im Westen auf Freiwilligkeit und
       Kooperationsbereitschaft von Techkonzernen. Meta und Google zogen teils
       mit, Musk, Durow und andere wehrten sich nach Kräften. Gut möglich, dass
       Durows Festnahme nun eine insgesamt härtere Gangart gegen die
       Plattformbetreiber einläutet.
       
       31 Aug 2024
       
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