# taz.de -- Buch über Judentum: Eine Wunde, die nicht heilt
       
       > Der deutsch-israelische Soziologe Natan Sznaider untersucht die Spannung
       > zwischen religiöser und säkularer Identität im Judentum und im Staat
       > Israel.
       
 (IMG) Bild: Der von Hamas-Mördern zerstörte Zaun zwischen Gaza und Israel: Natan Sznaider hat das Buch kurz nach dem 7. Oktober fertiggestellt
       
       Auf dem Cover einer Sonderausgabe von Spiegel Geschichte“ waren vor einigen
       Jahren zwei ältere Herren zu sehen. In ein Gespräch vertieft, sitzen die
       beiden vor einem Hauseingang. Sie tragen schwarze, abgewetzte Kleidung,
       Hüte und lange Bärte.
       
       Aufgenommen wurde das Foto 1929 im Berliner Scheunenviertel, wo sich um die
       Jahrhundertwende viele osteuropäische Juden auf der Flucht aus Litauen,
       Polen und der Ukraine niedergelassen hatten. Thema des Spiegel-Heftes waren
       „jüdische Lebenswelten in Deutschland“ – eine, so der Untertitel,
       „unbekannte Welt von Nebenan“.
       
       [1][Natan Sznaider] hat das umstrittene Spiegel-Cover als visuellen
       Ausgangspunkt für sein neues Buch gewählt. Mit „Die jüdische Wunde“ führt
       der Soziologe thematisch und konzeptuell sein Buch „Fluchtpunkte der
       Erinnerung“ (2022) weiter. Ging es darin um die Frage, wie sich Holocaust
       und Kolonialismus analysieren lassen, ohne die verschiedenen partikularen
       Gewalterfahrungen zu relativieren, legt Sznaider seinen Fokus nun auf
       partikulare jüdische Lebenswelten im Ringen um Anpassung an die
       Mehrheitsgesellschaften und dem Streben nach Autonomie.
       
       Sznaider schreibt aus einer jüdisch-israelischen Perspektive, die den
       Zionismus als nationale Befreiungsbewegung begreift, die jüdische
       Lebenswelten nicht nur radikal transformiert hat, sondern diese unter dem
       Vorzeichen der politischen Souveränität fortsetzt. Mit seinem Buch richtet
       sich der Soziologe dezidiert an ein nichtjüdisches Publikum. Ihm geht es
       darum, die Komplexität jüdischer Partikularitäten aufzuzeigen, gerade auch
       um die Leerstellen in den hiesigen Debatten sichtbarer zu machen.
       
       ## Emanzipation und Assimilation
       
       „Die jüdische Wunde“ beginnt mit den öffentlichen Debatten zur jüdischen
       Emanzipation und Assimilation im Deutschland ab Ende des 18. Jahrhunderts.
       Analysiert werden unter anderem Gotthold Ephraim Lessings Drama „Nathan der
       Weise“ (1779) oder Hannah Arendts Auseinandersetzung mit dem Leben der
       Schriftsellerin und Salonnière Rahel Varnhagen (1771–1833).
       
       Schon damals ging es laut Sznaider um den komplexen Widerstreit zwischen
       Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit; zwischen jüdischer agency und der
       Diskriminierung durch Andere; sowie um den Widerstreit zwischen
       partikularen Erfahrungen als Gruppe und den Versprechungen und Verlockungen
       des Universalismus.
       
       In seinem neuen Buch richtet sich Sznaider noch deutlicher gegen die
       Ignoranz und das laute Schweigen auch in progressiven, vermeintlich
       weltoffenen Milieus. „Fluchtpunkte der Erinnerung“ war kurz vor dem
       Documenta-15-Skandal erschienen und wurde zu einem viel beachteten
       Debattenbeitrag. Über einen wissenssoziologischen Blickwinkel versuchte
       Sznaider darin, sich in die Perspektive der anderen hineinzuversetzen und
       über diesen Weg auch die trennenden Unterschiede der Gewaltgeschichten
       hervorzuheben.
       
       Begonnen zum Auftakt der Bürger:innen-Proteste gegen die antiliberale
       Justizreform und fertiggestellt kurz [2][nach dem 7. Oktober], wurde „Die
       jüdische Wunde“ in einer gänzlich anderen Zeit verfasst. An vielen Stellen
       thematisiert – und reflektiert – der Essay die existenzielle
       Verunsicherung, die der Terrorangriff der Hamas bei Juden und Israelis
       ausgelöst hat; Sznaider insistiert, dass eine ambiguitätstolerante
       Erzählung der jüdischen Wunde sich der traumatischen und tragischen
       Vergangenheiten mitsamt ihrer Unversöhnlichkeit stets bewusst sein muss.
       
       Zu dieser Unversöhnlichkeit könnte man auch Sznaiders Polemik gegen
       antiisraelische Agitprop-Exponate und kuratorisches Scheitern auf der
       Documenta 15 zählen. Insgesamt fällt auf, wie sehr seinem Essay eine
       hoffnungsvolle Zukunftsperspektive fehlt. Es wird deutlich, dass „Die
       jüdische Wunde“ in einer neuen, aufwühlenden Zeit enstanden ist, in der
       bestehende Hoffnungen und Gewissheiten schmerzvoll in Frage gestellt
       wurden.
       
       17 Sep 2024
       
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