# taz.de -- Wohnungsknappheit: Opa hat Platz
       
       > Wohnraum gibt es genug. Er sei aber schlecht verteilt, sagt Forscherin
       > Anja Bierwirth. Drei Initiativen zeigen, wie man ihn besser nutzen
       > könnte.
       
 (IMG) Bild: Ein Mensch über 65 wohnt durchschnittlich auf 74,7 Quadratmetern (links). Der Durchschnitt wohnt auf 51,8 Quadratmetern
       
       wochentaz: Frau Bierwirth, müssen wir lernen, anders auf Wohnen und
       Wohnkultur zu schauen? 
       
       Anja Bierwirth: Die Wohnkultur hat sich schon immer sehr verändert. Die
       Konzentration auf die Kernfamilie bis hin zu Singlewohnungen im urbanen
       Raum ist nicht immer schon dagewesen. Wohnen unterliegt einem kulturellen
       Wandlungsprozess, der Zeit braucht. Wenn man die Infrastruktur und die
       Wohnangebote schafft, die es den Menschen ermöglichen, sich zu verändern,
       werden sie das auch tun.
       
       Besonders älteren Menschen wird oft nachgesagt, dass es ihnen schwer fällt,
       sich wohnlich zu verändern. 
       
       Die Frage nach dem Wohnen im Alter hat heute eine ganz andere Dringlichkeit
       und Qualität bekommen, als in früheren Generationen. Es wird gepredigt:
       „Alte Menschen verpflanzt man nicht.“ Aus meiner Erfahrung kann ich sagen,
       dass das nicht stimmt.
       
       Sie setzen sich in Ihrer Forschung viel damit auseinander, wie bestehender
       Wohnraum anders genutzt werden kann. 
       
       Wie will ich wohnen, ist eine große Frage. Dahinter stehen sehr persönliche
       Geschichten. Wir wissen seit Jahren, dass sich immer mehr, vor allem ältere
       Menschen in großen Wohnungen überfordert fühlen. Über alternative Angebote
       für diese Gruppe nachzudenken, ist ein wichtiger erster Schritt. Das bedarf
       Beratung und Förderung und auch eine Kommune, die überhaupt mal auf die
       Menschen zugeht und fragt: „Geht es euch noch gut, so wie ihr wohnt?“
       
       Wie könnte ein Alternativangebot aussehen? 
       
       Dafür muss man wissen, was die Menschen im Einzelfall wollen. Wollen sie
       ihre Wohnung gegen eine kleinere tauschen? Wollen sie gemeinschaftlicher
       wohnen? Oder können sie sich vielleicht vorstellen, Leute ins Haus zu holen
       und so ihre eigene Wohnfläche zu verkleinern? Damit sich die Menschen für
       eine Veränderung entscheiden, muss etwas angeboten werden, was zu ihren
       Wünschen und ihrer Lebenssituation passt. Und sie müssen sich die
       Veränderung leisten können.
       
       Derzeit ist häufig von Wohnraummangel die Rede, vor allem Familien klagen
       darüber, dass sie insbesondere in Großstädten keine passenden Wohnungen
       mehr finden. 
       
       Schaut man sich den Wohnungsbestand an, stellt man fest, dass es eigentlich
       keinen Mangel gibt. Der Bestand ist zu einem großen Teil in einer Zeit
       gebaut worden, in der es noch selbstverständlich war, in Familien zu leben
       und nicht überwiegend in Ein- und Zweipersonenhaushalten.
       Familienfreundlicher Wohnraum ist also eigentlich ausreichend vorhanden, er
       wird nur oft nicht von Familien genutzt. Tatsächlich werden
       Einfamilienhäuser in Deutschland im Schnitt von etwas mehr als zwei
       Personen bewohnt. Der Wohnraum existiert also, [1][er ist nur schlecht
       verteilt.] Einen echten Mangel gibt es bei barrierefreien und
       altersgerechten Wohnungen.
       
       Viele neue Genossenschaften versuchen mittlerweile, alternative Wohnmodelle
       zu etablieren. Ist das eine Lösung? 
       
       Es gab in den letzten Jahren eine unglaubliche Gründungswelle. Vor ein paar
       Jahren war das Thema noch konservativ und verstaubt, da gab es überwiegend
       alteingesessene, teils über 100 Jahre bestehende Wohngenossenschaften. Das
       hat sich geändert. Das ist toll. Aber es reicht nicht aus, denn nicht alle
       Leute können sich privat engagieren.
       
       Sprechen wir über die systemische Ebene. Was muss in Politik und Verwaltung
       passieren, damit der vorhandene Wohnraum anders genutzt wird? 
       
       Nachverdichtungs- oder Umnutzungsprojekte scheitern häufig an Bauplänen und
       Flächennutzungsplänen. Da geht es um technische Normen, die sich etabliert
       haben. Schallschutz, Energieeffizienz, Brandschutz – da gibt es im Wohnbau
       ganz andere Anforderungen als im Nicht-Wohnbau. Wenn ich zum Beispiel
       nachverdichten will, scheitert das oft an der Stellplatzsatzung, die
       vorschreibt, wie viele Pkw-Stellplätze pro Wohneinheit gebaut werden
       müssen. Es gibt Kommunen im ländlichen Raum in Bayern, die weisen mehr als
       zwei Stellplätze pro Wohneinheit aus. Das ist absurd. Die Frage für Politik
       und Verwaltung ist also: Wie kommen wir zu flexibleren, individuellen
       Gestaltungen und Verfahren? Da muss auf Bundesebene, vielleicht sogar auf
       EU-Ebene etwas passieren.
       
       Das klingt sehr umständlich. Dann doch lieber neu bauen? 
       
       Egal ob wir über Städte mit angeblichem Wohnraummangel reden oder über
       ländliche Gebiete, die unter Schrumpfung leiden – alle weisen Neubau aus.
       Die Städter sagen, hier wird das Wohnen zu teuer, wir müssen mehr Angebote
       schaffen, damit die Preise wieder sinken. Die Gemeinden auf dem Land
       meinen, sie müssten schicke neue Einfamilienhäuser bauen, damit die jungen
       Familien herkommen. Neubau scheint immer die Antwort zu sein, für alle
       Fragen von Stadt- und Kommunalentwicklung. Das kann gar nicht sein.
       Deutschland hat ein Flächenziel von netto null Neuinanspruchnahme von
       Flächen im Jahr 2050. Wir sind weit davon entfernt, es zu erreichen.
       
       [2][Unsere Neubaupolitik] steht also im Konflikt mit unseren Flächenzielen? 
       
       Ja. Flächenschutz ist ein bundespolitisches Ziel, aber wenn man den Bund
       oder die Länder fragt, heißt es dort, Stadtentwicklung sei kommunale
       Hoheitsaufgabe und da mischen wir uns nicht ein. Ich finde das eine
       Zumutung für die Kommunen. Sie müssen sich da komplett selbst durchkämpfen.
       Es wäre viel einfacher, gäbe es von Bundes- oder EU-Ebene so etwas wie
       einen Leitfaden zur Flächenneutralität. Der kommunale Neubau frisst neue
       Flächen, aber Bund und Länder helfen auch nicht dabei, das Problem zu
       lösen.
       
       Die Nutzung von Wohnfläche ist also auch eine Frage der Nachhaltigkeit. 
       
       In der Stadt- und Raumplanung wird der Begriff Suffizienz verwendet. Bei
       Suffizienz geht es zwar um Reduktion, aber das Ziel ist nicht der Verzicht,
       sondern ein Qualitätsgewinn. Es gibt in Deutschland viele Menschen, die
       nicht ausreichend Wohnraum zur Verfügung haben. Wenn man diese Menschen
       angemessen mit Wohnraum versorgen will, ohne alle Nachhaltigkeitsziele zu
       reißen, braucht man auch Menschen, die Wohnraum abgeben. In der Gruppe der
       Abgebenden gäbe es viele, viele Menschen, für die das kein Verzicht wäre,
       sondern ein Qualitätsgewinn.
       
       ## Drei Lösungsideen
       
       ## Ein Recht auf Wohnungstausch
       
       Der Mietwohnungsmarkt in den Ballungsräumen ist angespannt. Längst geht es
       nicht mehr nur darum, eine bezahlbare Wohnung zu finden, sondern überhaupt
       eine Wohnung zu finden. Auf Wohnungssuchportalen stehen deshalb nicht nur
       bezugsfertige Mietwohnungen, sondern auch eine Vielzahl von
       Tauschangeboten. Die Idee: Zwei Parteien, die jeweils einen Mietvertrag
       haben und sich verkleinern, vergrößern oder anderweitig verändern wollen,
       stellen ihr Gesuch online und finden eine passende Tauschwohnung. Wenn die
       Vermieter*innen mitspielen und die Miete nicht erhöhen, ist das oft
       eine Win-win-Situation.
       
       In Österreich gibt es sogar ein gesetzlich verankertes Recht auf
       Wohnungstausch. Dort ist im Mietrechtsgesetz geregelt, dass zwei
       Mieter*innen gegenseitig den Vertrag der anderen übernehmen können, wenn
       es dafür wichtige Gründe gibt – Familienzuwachs, gesundheitliche
       Anforderungen oder berufliche Veränderungen zum Beispiel. Auch in der DDR
       gab es in den 1980er Jahren ein solches Recht. [3][Vergleichbares wird auch
       für Deutschland immer wieder gefordert]. Im September 2023 fand auf
       Initiative der Linken eine Expert*innenanhörung im Bundestag statt.
       Doch der Wille zur Umsetzung fehlt bisher, vor allem bei FDP, CDU und AfD
       ist der Widerstand groß.
       
       Immer mehr kommunale Wohnungsunternehmen ermöglichen jedoch freiwillig den
       Tausch innerhalb ihres Bestandes. Mieter*innen der sechs landeseigenen
       Wohnungsbaugesellschaften in Berlin – ihr Bestand umfasst insgesamt 360.000
       Wohnungen – können ihre Wohnung bei gleichbleibender Kaltmiete tauschen. In
       Potsdam versucht die Wohnungsbaugesellschaft Pro Potsdam den Umzug in eine
       kleinere Wohnung durch einen Mietnachlass attraktiv zu machen. Radikal
       gegen Unterbelegung wird dagegen in der Schweiz vorgegangen: Dort haben die
       Mitglieder von Wohnungsgenossenschaften und Mietende städtischer Anbieter
       nicht nur das Recht, sondern meist die Pflicht, ihre Wohnung zu tauschen.
       Es gilt die sogenannte „Plus 1,5 Regel“. Die besagt, dass eine Wohnung nur
       1,5 Zimmer größer sein darf als die Haushaltsgröße. Verkleinert oder
       vergrößert sich der jeweilige Haushalt, bekommen die Bewohner*innen
       innerhalb eines Jahres zwei neue, passende Wohnungen vorgeschlagen.
       
       ## Unterstützung statt Miete
       
       Ältere Dame bietet Studentin gemütliches Zimmer (15 m²) und freut sich über
       Unterstützung im Alltag und ein bisschen Gesellschaft.“ Solche Anzeigen
       findet man häufig unter dem Stichwort: „Wohnen für Hilfe“. Jung zieht zu
       Alt, und die zu groß gewordene Wohnung wird so zur
       generationsübergreifenden Wohngemeinschaft. Meist gilt die Regel: Pro
       Quadratmeter des Zimmers fällt eine Stunde Arbeit im Monat an. Mit Geld
       bezahlen die Untermieter*innen nur Nebenkosten wie Gas, Strom und
       Wasser. Dafür helfen sie beim Einkaufen, gehen im Garten zur Hand oder
       leisten Gesellschaft. Pflegeleistungen sind von der Vereinbarung
       grundsätzlich ausgenommen. Die genaue Abmachung wird in einem
       Kooperationsvertrag festgehalten.
       
       In Kiel gibt es das Modell seit 2012. „Die Nachfrage besteht
       kontinuierlich, häufig auch von internationalen Studierenden“, sagt Kerstin
       Klostermann vom Studentenwerk Schleswig-Holstein. Die richtige
       Wohnpartnerschaft zu finden ist dabei nicht immer leicht: Sprachbarrieren
       können die Vermittlung erschweren. Um derartige Startschwierigkeiten aus
       dem Weg zu räumen, begleitet die Wohnvermittlerin des Studentenwerks die
       Beteiligten von der Suche über das Kennenlernen bis hin zum Einzug. In 29
       Städten bieten Studierendenwerke, kommunale Einrichtungen oder
       Wohlfahrtsverbände derzeit „Wohnen für Hilfe“ an.
       
       Laut [4][Einsamkeitsbarometer] des Bundesministeriums für Familie,
       Senioren, Frauen und Jugend fühlen sich Menschen über 75 besonders häufig
       einsam. Eine generationenübergreifende Wohngemeinschaft kann durch
       Gesellschaft, gemeinsamen Alltag und Aktivitäten gegensteuern. Die Jüngeren
       profitieren andersherum von der Lebenserfahrung der Älteren, sie engagieren
       sich sozial und können günstig wohnen. Das Prinzip „Wohnen für Hilfe“ nutzt
       also nicht nur den vorhandenen Wohnraum effizienter, sondern hat zugleich
       positive soziale Effekte. Inzwischen nutzen auch immer mehr
       Alleinerziehende, Menschen mit Behinderungen und Familien solche Angebote.
       
       ## Umbau statt Neubau
       
       Die Eigentumswohnung ist zu groß geworden, der Dachstuhl könnte noch
       ausgebaut werden, oder das Einfamilienhaus ließe sich mit einem zweiten
       Eingang leicht in zwei Wohnungen aufteilen? Es gibt viele Senior*innen, die
       nicht gerne aus ihrem Zuhause und der vertrauten Umgebung ausziehen
       möchten, aber auch viel ungenutzten Platz haben.
       
       Im schwäbischen Tübingen gibt es seit 2020 ein Angebot, das ihnen dabei
       helfen soll, die private und individuelle Umnutzung im Bestand zu
       erleichtern. Die Stadt will auf diese Weise bezahlbaren, mietgebundenen
       Wohnraum schaffen. Unter dem Titel „Haben Sie noch Platz?“ wird eine
       kostenlose architektonische Erstberatung angeboten, die Einstiegshürden
       beim Umbau senken soll. „Oft geht es erst einmal darum zu klären, ob eine
       Umnutzung überhaupt möglich ist und wenn ja, wie sie finanziert werden
       kann“, sagt Julia Hartmann, Wohnraumbeauftragte der Stadt Tübingen. Die
       Bürger*innen kommen mit ihren Bauplänen in die Beratungsstelle, die mit
       den Baurechtsbehörden zusammenarbeitet, und deshalb die baurechtliche
       Situation schnell und unkompliziert abklären kann.
       
       So ein Umbau dauert seine Zeit. Von der Erstberatung bis zum Einzug in das
       umgebaute Haus vergehen mindestens ein bis eineinhalb Jahre. 30 größere
       Beratungen hat die Beratungsstelle bis 2024 durchgeführt, drei Umbauten
       wurden umgesetzt. Zuletzt wurde das Dachgeschoss eines Reihenhauses
       ausgebaut und das Haus in zwei Wohnungen geteilt. Oben wohnt eine junge
       Familie, unten die Hausbesitzer in der barrierearmen Wohnung. Dass bisher
       nur zehn Prozent der Beratungen tatsächlich umgesetzt wurden, liegt laut
       Hartmann auch an der Coronapandemie, auf deren Höhepunkt die Kampagne
       startete. Außerdem gebe es viele Hürden: „Das Baugesetzbuch und die
       Förderlandschaft sind extrem [5][auf den Neubau ausgerichtet]. Der Umbau im
       Bestand wird stiefmütterlich behandelt“, sagt Hartmann.
       
       Inzwischen interessieren sich aber auch andere Kommunen für das Tübinger
       Projekt.
       
       28 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Neue-Wohnflaechenstatistik/!5613733
 (DIR) [2] /Wohnungsnot-und-Klimaschutz/!5898548
 (DIR) [3] /Passender-Wohnraum-durch-Wohnungstausch-/!5637119
 (DIR) [4] https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/einsamkeitsbarometer-2024-237576
 (DIR) [5] /Berliner-Neubau--und-Mietenpolitik/!5980167
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Amelie Sittenauer
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Zensus
 (DIR) wochentaz
 (DIR) Zukunft
 (DIR) Wohnraum
 (DIR) Wohnungsnot
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Altersarmut
 (DIR) Altersvorsorge
 (DIR) GNS
 (DIR) Wohnungstausch
 (DIR) Wohnraummangel
 (DIR) Wohnungswirtschaft
 (DIR) Schwerpunkt LGBTQIA
 (DIR) Zensus
 (DIR) Zensus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Wohnungsnot in Berlin: Wechseln statt Tauschen
       
       Mit einem neuen Programm soll Schwung in den lahmenden Wohnungstausch der
       Landeseigenen gebracht werden. Ob es funktioniert, ist fraglich.
       
 (DIR) Vermittlung von Wohngemeinschaften: Bei Oma ist ein Zimmer frei
       
       Viele Seniorinnen und Senioren sitzen allein in großen Wohnungen, während
       junge Menschen keine Bleibe finden. Ein Projekt in Berlin will das ändern.
       
 (DIR) Neuer Wohnraum wegen Homeoffice: Vom Büro zum Wohnzimmer
       
       Die Umwandlung nicht mehr benötigter Büros könnte 60.000 neue Wohnungen
       schaffen. Laut einer Studie wäre die Umstrukturierung aber teuer.
       
 (DIR) Zensus 2022: Nur 969 Menschen divers
       
       Erstmals hat der Zensus Menschen gezählt, die als „divers“ gemeldet sind.
       Die Zahlen liegen der taz vor. Warum sind sie so niedrig?
       
 (DIR) Zahlen des Zensus 2022: Fast zwei Millionen leere Wohnungen
       
       Trotz Wohnungsmangel gibt es laut Statistischem Bundesamt viel ungenutzten
       Wohnraum – besonders auf dem Land und in Ostdeutschland.
       
 (DIR) Bevölkerungszahlen im Zensus 2022: Berlin, sie haben dich geschrumpft
       
       Die Ergebnisse des Zensus 2022 liegen vor – Städten wie Berlin fehlen auf
       einmal zigtausende Menschen. Das hat zum Teil ganz reale Folgen.