# taz.de -- Späte Rehabilitation: Ein mutiger Richter
       
       > Kritik an der NS-Vergangenheit eines niedersächsischen Ministers brachte
       > Helmut Kramer 1978 eine Disziplinarverfügung ein. Nun wurde sie
       > aufgehoben.
       
 (IMG) Bild: Ein Mahnmal erinnert an die Verfolgung Homosexueller als „Sittlichkeitsverbrecher“ in der NS-Zeit
       
       Bremen taz | Die Befreiung der bundesdeutschen Justiz vom Erbe des
       Nationalsozialismus nach 1945 [1][war ein langer Kampf]. Der Richter Helmut
       Kramer, inzwischen 94 Jahre alt, ist ein leuchtendes Beispiel dafür. Ihm
       wurde – noch 1978 – als „Disziplinarvergehen“ vorgeworfen, dass er
       kommentarlos Auszüge einer Dissertation seines Justizministers verbreitet
       hatte. Der Minister hatte sich mit einer Doktorarbeit über die „leitenden
       Grundgedanken bei der Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher“ als
       Jurist qualifiziert. Das war 1936 gewesen. Der Autor: Hans Puvogel,
       Mitglied der NSDAP.
       
       Offenbar wurde das in der Nachkriegsgeschichte „vergessen“. Stolze 45 Jahre
       hat es gedauert, bis die Nachfolgerin von Justizminister Puvogel zu der
       Einsicht gekommen ist, dass der kritische Hinweis auf diese Nazi-Schrift
       für einen Berufsrichter kein „Dienstvergehen“ sein dürfe.
       
       Der angehende Jurist Puvogel hatte damals im Wortlaut geschrieben: „Nur ein
       rassisch wertvoller Mensch hat innerhalb der Gemeinschaft eine
       Daseinsberechtigung. Ein wegen seiner Minderwertigkeit für die Gemeinschaft
       nutzloser, ja schädlicher Mensch ist dagegen auszuscheiden. (…) Die große
       Aufgabe selbst darf nicht durch irgendwelche kleinlichen
       Kompetenzstreitigkeiten gehemmt und in ihrer Wirksamkeit lahmgelegt
       werden.“ Es ging konkret um Homosexualität. Das deutsche Volk, da war
       Puvogel 1936 sicher, „begrüßt heute zumindest die Ausrottung des
       Sittlichkeitsverbrechers und damit die Verhütung seiner asozialen
       Nachkommenschaft.“
       
       Als sein akademisches Werk 1978 öffentlich wurde, erklärte Puvogel, das
       seien eben nationalsozialistische und völkische Vokabeln, wie sie dem
       Charakter der Zeit entsprochen hätten – kein Grund, vom Amt zurückzutreten.
       Er habe sich nach 1945 als guter Demokrat qualifiziert. Der damalige
       Ministerpräsident Niedersachsens, Ernst Albrecht (CDU), fand das
       ausreichend und machte ihn 1976 zum Justizminister.
       
       ## Niemand fragte nach der Dissertation
       
       NSDAP-Mitglied Hans Puvogel betätigte sich bald nach Kriegsende wieder
       politisch. Er zog in den Kreistag Verden ein, vermutlich für die „Deutsche
       Partei“, ein Sammelbecken alter NSDAP-Mitglieder. 1962 wechselte er zur CDU
       über, 1972 wurde er Verdener Landrat und blieb das auch nach seinem
       Rücktritt vom Ministeramt. 1973 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz
       verliehen.
       
       Noch heute rühmt sich übrigens in Achim eine Rechtsanwaltskanzlei „Puvogel
       & Partner“ auf ihrer Webseite, sie sei von Hans Puvogel 1946 gegründet
       worden. Auch da wird der Titel seiner akademischen Qualifikation und auch
       der Grund seines Rücktrittes 1978 verschwiegen. Sein Enkel Thomas Puvogel
       führt die Kanzlei mittlerweile in dritter Generation.
       
       Als Puvogel 1976 Justizminister wurde, hatte offenbar niemand nach seiner
       Dissertation gefragt. Zwei Jahre später dauerte es einige Wochen
       öffentlicher Debatte, bis Puvogel zurücktrat. Und Helmut Kramer, damals
       Richter am Oberlandesgericht Braunschweig, wurde strafversetzt – in einen
       Zivilsenat. Der Braunschweiger Oberlandesgerichtspräsident Rudolf
       Wassermann, ein engagierter Sozialdemokrat, leitete ein förmliches
       Disziplinarverfahren gegen Kramer ein, weil der „seine Pflicht zu einem
       achtungswürdigen Verhalten gegenüber einem Dienstvorgesetzten verletzt“
       habe. Das Verfahren wurde zwar nach vier Monaten eingestellt, enthielt aber
       die Bemerkung, es habe sich um eine „Dienstpflichtsverletzung“ gehandelt.
       
       Im Juni hat die heutige [2][Justizministerin Kathrin Wahlmann] (SPD) nun
       die alte Verfügung mit der Dienstpflichtverletzung aufgehoben und stellte
       dabei „ausdrücklich fest, dass ihr dienstliches Verhalten den Pflichten
       eines Richters entsprochen hat“.
       
       Damals sei die Begründung gewesen, so Wahlmann, „es stehe dem Richter
       ebenso wenig wie dem Beamten zu, seinem Vorgesetzten Verfehlungen
       vorzuwerfen oder dessen Ansehen durch Verbreitung von Tatsachen im Bereich
       der Behörde zu untergraben, selbst wenn die Tatsachen zutreffend seien.“
       
       Dagegen beharrt die Puvogel-Nachfolgerin Wahlmann 46 Jahre danach darauf,
       dass „eigenständiges Denken und sachliche Kritik für einen funktionierenden
       Rechtsstaat, insbesondere für die Judikative, konstitutiv“ seien. Die
       „Indienstnahme der Justiz durch den Nationalsozialismus“, so Wahlmann,
       „wurde nach dem Krieg häufig mit der Rolle des Rechtspositivismus
       begründet. Inwieweit dies zutrifft, kann hier dahinstehen.“
       
       Wahlmann will sich offenbar nicht mit der unkritischen Tradition ihres
       Ministeriums auseinandersetzen. Immerhin dankt sie Kramer dafür, dass er
       sich durch seine kritische Haltung „besonders um unsere Verfassung verdient
       gemacht“ habe. „Dr. Helmut Kramer war jahrzehntelang das Gewissen der
       niedersächsischen Justiz“, betonte sie. Er habe in „herausragender Weise“
       im Sinne der Aufarbeitung von Justizunrecht in der NS-Zeit und dessen
       Fortwirkung in der Bundesrepublik gewirkt.
       
       Kramer selbst sagte, er freue sich vor allem darüber, dass mit der
       Aufhebung der Disziplinarverfügung von 1978 auch das damals noch
       herrschende obrigkeitsstaatliche Richterbild zurückgewiesen werde.
       
       Helmut Kramer hatte sich 1978 von seiner Strafversetzung nicht entmutigen
       lassen, im Gegenteil. Besonders engagiert war er in dem Fall Erna Wazinski
       gewesen, der sein Rechtsverständnis geprägt hat: 1944 war die damals
       19-Jährige als „Volksschädling“ hingerichtet worden. Ihr „Verbrechen“: Sie
       hatte in den Trümmern des ausgebombten Hauses ihrer Familie nach
       Gegenständen gesucht und einen Koffer mit Kleidung und etwas Schmuck
       mitgenommen, in dem Glauben, er gehöre ihrer Mutter. Noch 1965 war das
       Todesurteil des NS-Sondergerichtes als rechtmäßig bestätigt worden, eine
       Braunschweiger Strafkammer erklärte, das Urteil sei rechtsstaatlich in
       jeder Beziehung einwandfrei und „den Umständen nach sogar zwingend geboten“
       gewesen.
       
       Kramer war entsetzt über seine Richterkollegen und ließ nicht locker. Er
       erreichte eine Wiederaufnahme des Verfahrens, die 1991 mit einem Freispruch
       für Erna Wazinski endete. Erst mit dem „Gesetz zur Aufhebung
       nationalsozialistischer Unrechtsurteile“ von 1998 gelten solche
       Volksschädlings-Urteile offiziell als Unrecht.
       
       [3][Erna Wazinski] war in der JVA Wolfenbüttel hingerichtet worden. Über
       Jahre hatte sich Kramer – gegen den Widerstand des niedersächsischen
       Justizministeriums – dafür eingesetzt, dass dort eine Gedenkstätte
       errichtet wird. Seit 1990 nun gibt es in der JVA Wolfenbüttel den Gedenkort
       mit der langen Liste der dort Hingerichteten.
       
       ## Kramer blockierte den Pershing-Stützpunkt Mutlangen
       
       Der Pazifist Helmut Kramer war übrigens auch dabei, als Richter und
       Staatsanwälte 1987 mit einer Sitzblockade den Zugang zum
       Pershing-Stützpunkt Mutlangen blockierten. Die Beteiligten wurden damals
       wegen Nötigung verurteilt. Kramer ging dagegen an. 18 Jahre später hob das
       Bundesverfassungsgericht das Urteil als verfassungswidrig auf mit der
       Begründung, solche Sitzblockaden seien keine „Nötigung“.
       
       Kramer wollte es auch nicht hinnehmen, dass die Bundeswehr nicht für die
       Bombardierung zweier Tanklastzüge in Kundus im Jahre 2009, bei der mehr als
       90 Menschen starben, zur Verantwortung gezogen werden sollte. Er
       kritisierte die Bemühungen der Bundesregierung, eine Sonderzuständigkeit
       der Justiz für Bundeswehrstrafsachen zu schaffen, und stellte Strafanzeige
       gegen Unbekannt.
       
       Kramer, der unter anderem auch an der Universität Bremen gelehrt hat, wurde
       für sein Engagement vielfach ausgezeichnet. Er erhielt unter anderem den
       Hans-Litten-Preis, den Fritz-Bauer-Preis und das Bundesverdienstkreuz
       Erster Klasse.
       
       Über den unermüdlichen „Richter, Mahner, Streiter“ für ein liberales,
       rechtsstaatliches Deutschland, den inzwischen 94-jährigen Helmut Kramer
       gibt es eine Oldenburger Universitätsschrift von 2021. Eigentlich wäre sein
       Leben ein biografisches Buch wert. Die offizielle Rücknahme seiner
       „Dienstpflichtverletzung“ würde darin sicher nur als Fußnote vorkommen.
       
       13 Aug 2024
       
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