# taz.de -- Luftbild-Auswerter über Blindgänger: „Die Welt sauberer machen“
       
       > Schleswig-Holsteins Kampfmittelräumdienst sucht ZeitzeugInnen und Fotos,
       > die Aufschluss über Blindgänger im Zweiten Weltkrieg geben können.
       
 (IMG) Bild: Narbe im Boden: Krater einer kontrolliert gesprengten US-Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg, hier 2009 in Vechta
       
       taz: Herr Bock, warum sucht der Kampfmittelräumdienst jetzt erstmals
       Zeitzeugen zu Blindgängern des Zweiten Weltkriegs? 
       
       Alan Bock: Weil wir im Zuge der Digitalisierung die Qualität unser
       Informationen verbessern und den Umfang der vorhandenen historischen
       Dokumente erweitern wollen. Wir möchten die Kampfmittelbelastung im Land
       bestmöglich erfassen. Am Ende möchten wir auf der digitalen Karte das
       heutige Grundstück anklicken können und alle Informationen über sein
       „Schicksal“ während des Zweiten Weltkriegs sehen. Dafür erhoffen wir uns
       Informationen wie Privatfotos, Zeitzeugenberichte, Karten, Informationen
       über Bombenabwürfe und Blindgänger sowie vieles weitere auch in Stadt-,
       Kreis- und Kirchenarchiven. Diese wertvollen historischen Quellen sind noch
       längst nicht erfasst.
       
       Mit welchem Material arbeiten Sie bislang? 
       
       Wir werten Kriegsluftbilder der britischen und US-amerikanischen
       [1][Alliierten] aus. Außerdem sichten wir alliierte Angriffsdaten und
       Angriffschroniken, sodass wir genau sagen können, wann welche Bombenlast
       auf welches Gebiet geworfen wurde.
       
       Weiß man, wie viele Bomben auf Schleswig-Holstein fielen? 
       
       Aus Listen der Alliierten geht hervor, dass auf Schleswig-Holstein 45.000
       Tonnen fielen, 29.000 davon auf [2][Kiel]. Insgesamt existieren 126.000
       Kriegsluftbilder, von denen der Kampfmittelräumdienst 97.000 hat. Die
       fehlenden könnten wir unter anderem bei der britischen Krone kaufen, aber
       angesichts der Haushaltslage fehlt dafür das Geld.
       
       Sie müssen die Bilder wirklich kaufen? 
       
       Inzwischen ja. Ende der 1980er-Jahre durften sich die deutschen
       Bundesländer die Bilder im Zuge eines bilateralen Vertrags für fünf Jahre
       von den Briten ausleihen und selbst projizieren bzw. kopieren. Dann gingen
       die Fotos wieder zurück, und was damals im Rahmen der Leihfrist nicht
       eingearbeitet werden konnte, müssen wir seither einzeln kaufen, für 100 bis
       120 Euro pro Foto.
       
       Wie entstanden diese Fotos? 
       
       Man muss sich das so vorstellen: Am Montag sind die Briten hergeflogen und
       haben Luftbilder potenzieller Ziele gemacht. Am Dienstag haben sie die
       Bomben abgeworfen. Am Mittwoch sind sie nochmal wiedergekommen, um das
       Ergebnis zu fotografieren und zu dokumentieren. Entstanden sind Bilder aus
       ca. 6.000 Metern Höhe. Hinter unserem Zeitzeugen-Aufruf steckt auch die
       Idee, Nahaufnahmen der Zerstörungen am Boden zu bekommen.
       
       Waren auch in Schleswig-Holstein die Städte am stärksten betroffen? 
       
       Betroffen waren Regionen mit starker Rüstungsindustrie – natürlich der
       [3][Marinestützpunkt Kiel], aber auch die Ölraffinerie in Hemmingstedt an
       der Westküste und die kriegswichtige Bahntrasse in Neumünster.
       
       Wie viele Blindgänger vermuten Sie noch in Schleswig-Holstein? 
       
       Schwer zu sagen. Von den rund 1.100 schleswig-holsteinischen Gemeinden sind
       90 laut Kampfmittelverordnung als antragspflichtig ausgewiesen. Das heißt,
       wenn Sie dort bauen wollen, müssen Sie bei uns, dem Kampfmittelräumdienst,
       anfragen, damit wir die entsprechenden Luftbilder überprüfen.
       
       Wurden die wichtigsten Städte nach 1945 systematisch abgesucht? 
       
       Nein. Sie konnten bauen, wo Sie wollten. Es gab lediglich die Empfehlung,
       das Gebiet auf Blindgänger prüfen zu lassen. Die Verpflichtung für besagte
       90 Gemeinden, den Räumdienst anzufragen, besteht seit 2012.
       
       Wie viel Prozent Blindgänger gibt es generell? 
       
       Es sind im Schnitt zehn bis 15 Prozent, die nicht explodiert sind und noch
       im Boden liegen. Zurzeit finden wir in Schleswig-Holstein ein, zwei Stück
       pro Monat. Mit der Räumung werden wir aber wohl noch Jahrzehnte beschäftigt
       sein.
       
       In welchen Regionen liegen die meisten? 
       
       Das hält sich zwischen Stadt und Land die Waage. Derzeit kommen wegen des
       Breitband-Ausbaus an der Westküste zum Beispiel viele Anfragen aus dem
       ländlichen Bereich.
       
       Und was könnten die nun erhofften Privatfotos zeigen? 
       
       Schäden an Haus und Hof zum Beispiel. Im Zweiten Weltkrieg gab es ein
       Kriegsschadensamt, dem gegenüber man den Schaden dokumentieren konnte, um
       Kompensation zu bekommen. Solche Bilder wurden von offiziellen Fotografen
       des NS-Regimes gemacht, aber auch von Privatleuten. Wir erhoffen uns
       darüber hinaus Informationen über versprengte oder vergrabene Munition,
       Absturzstellen oder detonierte und blindgegangene Bomben. Vielleicht weiß
       jemand: Hier ist ein Flieger abgeschossen worden. Auch das möchten wir
       dokumentieren.
       
       Haben Sie schon Erfahrungen mit Zeitzeugenberichten? 
       
       Ja. Oft rufen gerade nach Bombenentschärfungen Zeitzeugen an, um auf
       weitere mögliche Blindgänger hinzuweisen. Bei älteren Menschen, die den
       Krieg noch erlebt haben, kommen solche Erinnerungen oft wieder hoch, wenn
       sie von einer Bombenentschärfung erfahren.
       
       Wie gehen Sie dann vor? 
       
       Wir treffen uns vor Ort mit der Person, hören zu, schreiben mit und
       versuchen die Angaben mit unseren Unterlagen abzugleichen: Gab es einen
       Angriff an diesem Tag, gibt es Luftbilder? Dann gehen wir, wenn möglich,
       mit dem Zeitzeugen an den betreffenden Ort. Manchmal haben sie recht,
       manchmal nicht. Da hat man sich zum Beispiel in der Koppel geirrt. Oder
       derjenige meint mit Blindgänger nicht, wie wir, eine Fliegerbombe, sondern
       eine Kanonenkugel oder eine Patrone. Aber auch das räumen wir natürlich
       weg, wenn wir es finden.
       
       Sie sind seit 25 Jahren Kriegsluftbild-Auswerter. Ist das nicht belastend? 
       
       Natürlich sieht man auf diesen Bildern jeden Tag das Unheil des Zweiten
       Weltkriegs. Aus 6.000 Metern Höhe erkennt man allerdings keine Menschen,
       keine Verletzten oder Toten, sondern „nur“ die großen Bombenkrater.
       Außerdem ist diese Arbeit sinnstiftend: Wenn man draußen vor Ort einen
       Blindgänger geortet, den Sondiertrupp geholt und die [4][Entschärfung
       v]eranlasst hat: Dann ist das ein toller Erfolg, und man denkt: Wir tun
       irgendwie etwas Gutes. Wir versuchen die Welt etwas sauberer zu machen.
       
       11 Jun 2024
       
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