# taz.de -- Soziologe Christopher Wimmer über Armut: „Die Politik bietet ihnen nichts an“
       
       > Immer wieder werde armen und marginalisierten Menschen vorgeworfen,
       > selbst schuld an ihrer Lage zu sein, kritisiert der Soziologe Christopher
       > Wimmer.
       
 (IMG) Bild: In einer Schlange bei der Lebensmittelausgabe der Tafel Oberhausen
       
       taz: Herr Wimmer, im Streit um den Haushalt soll gerade im Sozialen massiv
       gespart werden. [1][Jeder Fünfte] in Deutschland ist von Armut oder
       sozialer Ausgrenzung bedroht. Für [2][Ihr Buch „Die Marginalisierten“]
       haben Sie mit Betroffenen gesprochen. Was haben diese Menschen gesagt? 
       
       Christopher Wimmer: Sie haben vor allem mit der Mär aufgeräumt, dass es
       absolute Armut, Ausgrenzung und Marginalisierung in Deutschland nicht gebe.
       Sie haben mir deutlich und plastisch gezeigt, was es bedeutet, wenn man
       nicht genug Geld für Miete und Essen hat, wenn es an allen Ecken und Enden
       mangelt. Und sie haben gezeigt, dass man diesen Menschen nicht vorwerfen
       kann, sie seien selbst schuld an ihrer Lage, sondern dass es systematische
       Gründe gibt, warum sie sich ganz unten befinden.
       
       Was für Personen waren das? 
       
       Alle Interviewten haben unterhalb der Armutsgrenze gelebt. Die meisten
       waren Langzeiterwerbslose. Häufig kam Obdachlosigkeit, Krankheit oder ein
       zurückliegender Gefängnisaufenthalt hinzu. Einige Interviewte [3][waren
       auch Alleinerziehende] oder [4][von Altersarmut betroffen]. Bei den
       Interviewten kamen also Risiken zusammen, die dazu führten, dass diese
       Menschen ausgegrenzt und marginalisiert werden.
       
       Sie schreiben von marginalisierten statt von armen Menschen. Was ist der
       Unterschied? 
       
       Marginalisierung ist mehr als nur materielle Armut. Betroffene können nicht
       am sozialen, kulturellen und politischen Leben teilhaben. Ebenso beinhaltet
       Marginalisierung einen symbolischen Aspekt. Das heißt, es kommt zu
       Ausgrenzung und Stigmatisierung durch Politik und Mehrheitsgesellschaft,
       dass Marginalisierte selbst an ihrer Lage schuld seien. So wird ihre
       Situation immer weiter zementiert.
       
       Haben sich diese Menschen selbst als arm und marginalisiert wahrgenommen? 
       
       Soziologische Studien haben immer wieder gezeigt, dass sich selbst arme
       Menschen häufig zur Mitte der Gesellschaft zählen. Aber alle, mit denen ich
       gesprochen habe, hatten an ihrer sozialen Position ‚ganz unten‘ überhaupt
       keine Zweifel. Teilweise haben sie sich selbst sogar als ‚letzter Dreck‘,
       ‚Müll‘ oder ‚Aussatz der Gesellschaft‘ bezeichnet.
       
       Hatten sie Hoffnung, dass sich ihre Lage verbessert? 
       
       Vereinzelt gab es noch ein wenig Hoffnung. Das waren aber Befragte, die
       meist aus der Mittelschicht stammten und durch ein biografisches Ereignis
       in ihre derzeitige soziale Situation kamen, wie Trennung oder
       Wohnungsverlust. Bei der Mehrheit herrschte jedoch Hoffnungslosigkeit.
       Diese Menschen kamen überwiegend bereits aus marginalisierten Familien. Das
       heißt, sie haben schon in ihrer Kindheit Armut und Ausgrenzung erlebt.
       Insbesondere das Ausmaß an Gewalt, das sie als Kinder erlebt haben, hat
       mich erschüttert.
       
       Warum wehren sich diese Menschen nicht gegen ihre Situation? 
       
       Dass sie sich nicht wehren, stimmt nicht ganz. Sie wollen zwar vielleicht
       nicht Mitglied in einer Partei oder Gewerkschaft werden – diese
       Organisationen bieten den Menschen aber auch nichts an. Wovon ich in meinen
       Interviews aber durchaus erfahren habe, sind Formen von
       Selbstorganisierung, gegenseitiger Unterstützung und Selbsthilfe, die diese
       Menschen praktizieren. Dabei geht es um praktische Tipps und Tricks, wo man
       zum Beispiel einen Schlafplatz finden kann oder wie man am besten beim Amt
       durchkommt.
       
       Was müsste sich gesellschaftlich ändern? 
       
       Zunächst müsste die [5][Grundsicherung erhöht werden]. Das ist eine
       wichtige Maßnahme, um die materielle Lage armer Menschen zu verbessern.
       Fast noch schwieriger ist aber, die symbolische Ebene zu verändern. Da geht
       es nicht nur darum, wie gesellschaftlich über arme und marginalisierte
       Menschen diskutiert wird, sondern auch darum, dass mit ihnen und nicht nur
       über sie gesprochen wird. Da gibt es noch enormen Handlungsbedarf.
       
       15 May 2024
       
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 (DIR) [3] /6-Punkte-Plan-fuer-Alleinerziehende/!5994707
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