# taz.de -- 100 Jahre „Der Zauberberg“: Die große Gereiztheit
       
       > Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ steht 2024 im Zentrum der Aktivitäten
       > von Lübecks Thomas-Mann-Gesellschaft. Aktuelle Bezüge gibt es reichlich.
       
 (IMG) Bild: Hier residiert unter anderem die Deutsche Thomas-Mann-Gesellschaft: die Fassaden der Mengstrasse 4 und 6 in Lübeck
       
       Für Literaturinteressierte ist es eine magische Adresse: Die Deutsche
       Thomas-Mann-Gesellschaft (TMG) residiert in der Mengstraße 4 in Lübeck –
       dort, wo die Familie Mann einst wohnte und wo die „Buddenbrooks“
       angesiedelt sind. Dieser Roman hat Thomas Mann und seine Vaterstadt
       unsterblich gemacht.
       
       „Wir haben fast tausend Mitglieder, das ist sehr viel für eine literarische
       Gesellschaft“, sagt Hans Wißkirchen, der der 1965 gegründeten TMG mit
       Ortsvereinen in Bonn, Berlin und Hamburg seit 2006 vorsteht. „Meist gibt es
       unmittelbar nach dem Tod eines Schriftstellers eine Aufmerksamkeits-Delle,
       sagt Wißkirchen. „Bei [1][Thomas Mann] hat sich schon wenige Jahre nach
       1955 das Interesse kontinuierlich gehalten. Das lag nicht zuletzt am
       sukzessiven Erscheinen der Tagebücher ab 1975, die der einflussreiche
       Kritiker Marcel Reich-Ranicki besprochen hat.“
       
       In diesem Jahr steht „Der Zauberberg“ im Zentrum der wissenschaftlichen
       Aktivitäten. Die Aktualität des [2][1924] erschienenen Romans ist
       frappierend. Liest man das vorletzte Kapitel, „Die große Gereiztheit“,
       scheint es unmittelbar um uns zu gehen: „Was gab es denn? Was lag in der
       Luft? – Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld.“
       
       In Lübeck beleuchtet die Ringvorlesung „Magic Mountain – Visiten der
       Gegenwart“ den Jahrhundertroman. Auch bei den von der TMG organisierten
       [3][Thomas-Mann-Tagen im September] ist „Der Zauberberg“ zentral: „Unsere
       Jubiläumsaktivitäten gehen von einer doppelten Zeitgenossenschaft aus: Was
       1924 spürbar war, die Heraufkunft eines großen Krieges, die große
       Gereiztheit einer Zeitenwende, kann 2024 auch passieren!“, sagt Wißkirchen.
       
       Die Kaskade von „Zauberberg“-Beschäftigungen in diesem Jahr wird in das
       Jahrbuch der TMG eingehen. Es versammelt die neuesten Forschungsergebnisse
       zu Leben und Werk von Thomas Mann, bildet das Kondensat dessen, was die TMG
       an Betrachtungen und Kontroversen anstößt. Mit dieser Mischung aus
       wissenschaftlichen und öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten ist sie das
       bedeutendste Forum der Thomas-Mann-Forschung weltweit.
       
       „Bei Mann findet man keine Eindeutigkeiten, auch dadurch bleibt er
       aktuell.“ Wißkirchen staunt immer wieder, wie anschlussfähig Mann sei für
       neue Ansätze – ob es nun um seine Demokratie-Auffassung geht oder um
       Geschlechteridentität. „Thomas Manns Credo lautete: ,Mir liegt an den
       Wenigen und an den Vielen.' Insofern hat er immer die Wirkung auf die
       Leserschaft im Blick gehabt.“
       
       Genauso hält es die TMG. Sie fördert den wissenschaftlichen Austausch über
       Thomas Mann sowie den Dialog zwischen Wissenschaft und Leserschaft. Sie
       kooperiert mit der Schweizer Thomas-Mann-Gesellschaft in Zürich und mit der
       Heinrich-Mann-Gesellschaft in Lübecks Mengstraße. Wo gibt es das schon,
       zwei so ungleiche, literarisch hochproduktive Brüder und „ihre“
       Gesellschaften an einem Ort.
       
       Im Zweiten Weltkrieg, in der Palmsonntag-Nacht 1942, vom 28. auf den 29.
       März, wurde [4][Lübeck] von britischen Alliierten bombardiert, als Revanche
       für die schweren deutschen Luftangriffe auf Coventry. Auch Lübecks
       Marienkirche gegenüber dem Buddenbrookhaus wurde schwer getroffen. In einer
       Rundfunkrede der BBC, aufgenommen im kalifornischen Exil, sagt Thomas Mann:
       „Aber ich denke an Coventry und habe nichts einzuwenden gegen die Lehre,
       dass alles bezahlt werden muss.“
       
       Die Kühle der Formulierung zeigt eine Eigenheit des Mann’schen Schreibens –
       die intellektuelle Brechung von Gefühlen, obwohl das Herz geblutet haben
       muss. Dass die [5][Thomas-Mann-Gesellschaft] Manns Werk scharf befragt und
       dessen Mehrdeutigkeit lebendig hält, ist in dieser überhitzten Zeit wichtig
       – ebenso, es zu lesen.
       
       15 Apr 2024
       
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