# taz.de -- Buch über die Boomer: Generation Plauderton
       
       > Heinz Bude skizziert die Babyboomer, die nun in Rente gehen. Das
       > Generationsbuch hat Schwächen – aber auch ein paar funkelnde Ideen.
       
 (IMG) Bild: Die Boomer – noch ein bisschen Flokati, aber auch schon Fönfrisur
       
       Die Boomer sind die erste Generation, in der Burnout und Depression zum
       Massenphänomen wurden. Beides sind Kollateralschäden der Doktrin, sich
       selbst zu verwirklichen und ein einmaliges Individuum mit vollumfänglichem
       Glücksanspruch zu werden. Das war ein Effekt des Übergangs von der Fabrik-
       zur Wissensgesellschaft, der Kollektiv- zur Ichgesellschaft und ganz schön
       anstrengend.
       
       Die Boomer, folgt man dem [1][Soziologen Heinz Bude (Jahrgang 1954)],
       hatten es nicht so mit Ernst und Pathos. Die großen Befreiungserzählungen
       waren in den späten 1970er und 1980er Jahren vorbei. Angesichts von Aids
       und Tschernobyl kultivierte diese (politische) Generation den Gestus des
       Durchwurschtelns und fasste später eine innige Zuneigung zu Angela Merkel,
       der Königin des Pragmatismus.
       
       Wenn ein Babyboomer wie Bude über die Generation der Babyboomer, also die
       heute 60- bis 70-Jährigen schreibt, liegen unvermeidlich Fallen im Weg. Die
       Selbsthistorisierung hat zwangsläufig blinde Flecken. Die Distanz, die
       Historisierung braucht, kann nicht haben, wer in Deutungskämpfen steckt,
       auch wenn die bei den Boomern nicht sonderlich dramatisch sind. Die Boomer
       haben, [2][anders als die 68er,] keine Renegaten hervorgebracht, die die
       eigenen Irrtümer sezierten.
       
       Zum Renegaten gehört der Wahrheitsanspruch – und den haben die jüngeren
       Geschwister der 68er schon früh mit Ironie pulverisiert. Budes Boomer
       lernten in Schule und Universität, dass es immer zu viele von ihnen gab,
       sie besetzten in den 80er Jahren Häuser und lasen Merve-Bücher. In den
       90ern fanden sie den Neoliberalismus nicht so übel. Heute schauen sie als
       saturierte Turnschuhe-Rentner im Eigenheim gefasst dem Ende entgegen, das
       am Horizont zu ahnen ist.
       
       ## Peergroup als Generation
       
       Mit diesem Bild tappt Bude in eine zweite, vermeidbare Falle des
       Generationengenres. Sie besteht in einem rhetorischen Kniff. Man rechnet
       die eigene Peergroup (das akademische Milieu) zur Generation hoch und lässt
       weg, was nicht passt. Mit ungefähr 60 Jahren, so Bude, sind die Boomer in
       ihrer „Prominenzphase“, in der man „als öffentliche Person eine gewisse
       Bedeutung beanspruchen kann“.
       
       Das mag für Politiker, CEOs oder Professoren so sein – 60-jährige
       Lehrerinnen und Busfahrer, Bauern und Erzieherinnen dürfen solche Passagen
       mit einer gewissen Verblüffung lesen.
       
       „Seiner Klasse kann man mit Energie und Geschick vielleicht entkommen,
       seiner Generation nicht“, so Bude. Dieses Wortgeklingel radiert aus, dass
       Generation [3][keine harte Kategorie wie Klasse], Ethnie oder Geschlecht
       ist, sondern etwas Vages hat. Generationen sind wissenschaftlich gesehen
       windige Phänomene.
       
       Der Soziologe Martin Schröder hat versucht, die Differenzen zwischen den
       Generationen im Verhältnis zu Arbeit, Sex, Politik etc. empirisch
       nachzuweisen – und kam zu dem Ergebnis, dass Boomer und Millennials eher
       Fiktionen sind, die geglaubt werden, weil sie einleuchtend klingen.
       
       ## Generation statt Klasse
       
       Bei Bude überblendet der Generationenbegriff den Klassenbegriff – das führt
       zu einem bonbonfarbenem Bild der sozialen Lage der Boomer, die
       „mehrheitlich im schuldenfreien Eigentum, oft mit viel Platz und
       entsprechend großer Zufriedenheit“ wohnen. Das ist nur die halbe Wahrheit.
       Denn knapp die Hälfte wohnt zur Miete und wird ab 2030 mit einer Rente von
       800 Euro auskommen müssen. Budes gemütliches Bild einer
       Wohlstandgeneration, bar aller materiellen Sorgen, [4][steht empirisch auf
       äußerst wackeligen Füßen].
       
       Auf die Gefahr hin, beckmesserisch zu wirken: Holger Meins war nicht der
       erste RAF-Tote. Dass Fritz Bauer 1979 über die „Holocaust“-TV-Serie
       diskutiert haben soll, ist unwahrscheinlich, weil er 1968 starb.
       
       Wo bleibt das Positive? Vielleicht sollten wir diesen Text nicht an Empirie
       messen. Man sollte ihn eher als eine mit Zahlen angereicherte, geistreiche
       Erfahrungsprosa lesen, in der die blitzende Sentenz mehr zählt als die
       Fakten.
       
       Das klingt so: „Viele Boomer mit einem Hochschulabschluss an einer
       westdeutschen Universität erinnern sich mit dem,Atomkraft Nein
       danke'-Aufkleber an das Sausen der Waschmaschine in der WG, an eine
       Susanne, die mit einem Follow-me-Lächeln am VW-Kleinbus lehnt, und an die
       Suhrkamp-Bücher im Billy-Regal, in denen irgendwo die Wahrheit döst.“
       
       ## Westdeutsche Männer
       
       Bude meidet zudem einen typischen Fehler der Generationsprosa – die
       Verkürzung auf westdeutsche Männer. Die Boomerinnen profitierten von dem
       Aufstieg durch Bildung in den 70er Jahren spektakulärer als die Männer. Die
       Ost-Boomer tauchen als eine Art verzerrter Spiegel ihres westlichen
       Pendants auf, als Generation, die in der DDR von der Gründergeneration
       Honecker &Co bis zum Ende von der Macht ferngehalten wurde.
       
       „Auf beiden Seiten der Mauer nahmen die Boomer hin, was nicht zu ändern
       war. Im Osten glaubten sie weder an den Sozialismus noch an seinen
       Untergang, im Westen weder an den Kapitalismus noch an dessen Überwindung.“
       Nach 1989 schüttelten beide den Kopf übereinander. Die West-Boomer
       wunderten sich über eine Gesellschaft ohne „Psychoanalyse und Pizza“, die
       Ostler über Paartherapie.
       
       „Abschied von den Boomern“ ist keine soziologische Studie. Zu sich kommt
       der Text nicht durch stringente Argumentation, sondern durch assoziatives
       Schlendern und einen melancholischen Plauderton. Zieht man die Verengung
       auf die Akademiker ab, hat der Text etwas Funkelndes.
       
       Vielleicht sollten wir Generationen nicht als faktenbasierte Kategorien
       verstehen – sondern als Geschichten, die wir uns erzählen, um in dem
       Wimmelbild Gesellschaft nicht völlig die Orientierung zu verlieren. Bude
       liefert, sieht man über die genretypische Hybris hinweg, eine mitunter
       elegante Erzählung über die Jahre, die wir kannten.
       
       [5][Heinz Bude ist mit seinem Buch „Abschied von den Boomern“ auch am
       13.02. im taz Talk zu Gast.]
       
       6 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Soziologe-Heinz-Bude-im-Gespraech/!5785826
 (DIR) [2] /Streitgespraech-Aly-vs-Rutschky/!5189291
 (DIR) [3] /Buecher-ueber-Klassengesellschaft/!5960866
 (DIR) [4] https://www.wiwo.de/finanzen/immobilien/altersarmut-studie-warnt-deutschland-wohnt-sich-arm/21186868.html
 (DIR) [5] /!vn5988471/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Reinecke
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Babyboomer
 (DIR) Milieu
 (DIR) Herkunft
 (DIR) Generationen
 (DIR) Soziologie
 (DIR) Kolumne Einfach gesagt
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Rote Armee Fraktion / RAF
 (DIR) Schwerpunkt Wohnen ist Heimat
 (DIR) Millennials
 (DIR) Schlagloch
 (DIR) Sozialer Zusammenhalt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Beständige Langzeitbeziehungen: Akut doll von Belang
       
       Ob in Zeitungen, Magazinen oder Podcasts, es wimmelt von Texten und
       Interviews über Langzeitbeziehung. Dabei ist Instabilität doch auch eine
       Chance.
       
 (DIR) Umziehen im Alter: Neuanfang ist immer möglich
       
       Die Umzugsfreudigkeit der über 65-Jährigen steigt. Ein Altersforscher
       erklärt, woran das liegt, und vier Pensionist:innen erzählen von ihren
       Erlebnissen.
       
 (DIR) SEK sucht Rentner: Deutsche wieder mobilisiert
       
       lm Regionalverkehr von NRW wurde die RAF-Vergangenheit erfolgreich
       nachgestellt: Denunziation, Kopfgeld, Spezialeinsatzkräfte – alles war
       dabei.
       
 (DIR) Umzug im Rentenalter: Auf die Parkbank nach Altötting
       
       Im Alter dahin, wo es billiger ist? Rentner:innen in Deutschland
       riskieren eher Altersarmut, anstatt umzuziehen. Anders in den USA.
       
 (DIR) Der ökonomische Generationenkonflikt: In verschiedenen Welten
       
       Das allgegenwärtige Krisennarrativ belastet Jüngere mehr als Ältere. Kein
       Wunder, sitzen viele von denen doch oft in abbezahlten Eigenheimen.
       
 (DIR) Zum Freiheitsbegriff: Überfluss und Erschöpfung
       
       Einstige Gesellschaftsentwürfe verhießen eine Zukunft von grenzenlosem
       Reichtum. Die heutigen sind eine Spur deprimierender.
       
 (DIR) Soziologe Heinz Bude im Gespräch: „Das Ende des Neoliberalismus“
       
       In der Krise begreifen die Menschen, dass sie einander brauchen, sagt der
       Soziologe Heinz Bude. Nur die Parteien hätten das noch nicht verstanden.