# taz.de -- Getötete israelische Geisel: Für Yotam z“l
       
       > Israelische Soldaten erschossen in Gaza drei Geiseln, darunter
       > Schlagzeuger Yotam Haim. Sein Tod ist unbegreiflich. Ein Abschiedsbrief.
       
 (IMG) Bild: Der Schlagzeuger Yotam Haim war Geisel der Hamas und wurde aus Versehen von der israelischen Armee erschossen
       
       70 Tage warst du in [1][Gefangenschaft der Hamas]. Am Morgen des 7. Oktober
       hast du ein Video aufgenommen und an deine Mutter geschickt. Darin sind im
       Hintergrund die Schüsse der in das Kibbuz Kfar Aza einfallenden Terroristen
       zu hören. Du ranntest zurück in den Schutzraum.
       
       Um 10:45 Uhr hast du die letzte Nachricht an deine Familie geschickt, in
       der es hieß, dass die Terroristen in dein Haus kommen, dass sie dein Haus
       anzünden und auf die Tür des Schutzraums schießen. Und du schriebst, dass
       du deine Familie liebst und dass sie das wissen sollen, falls du nicht
       überlebst. Neun Minuten später warst du im Gazastreifen.
       
       Eine Woche wusste deine Familie nicht, wo du bist. Dein Haus hatten die
       Terroristen in Schutt und Asche gelegt. Von dir fehlte jede Spur. Später
       erst wurde deine Familie informiert, dass du als Geisel verschleppt
       wurdest. Deine Mutter beschreibt diesen Moment so: „Diese Nachricht war,
       als würde ich ihn zurückbekommen.“ Weil sie da wusste, dass du noch lebst.
       
       Im Kibbuz Gvulot in der Negev-Wüste wurdest du geboren, später hast du dir
       in Kfar Aza dein eigenes Leben aufgebaut, fernab vom überfüllten, teuren
       und lauten Tel Aviv. Nah an der Natur, umgeben von Hunden und Katzen – und
       deinem Schlagzeug, auf dem du manchmal stundenlang für eure nächste
       Bandprobe mit Persephore gespielt hast. Als „wahnsinnig talentierten
       Drummer“ bezeichnen dich alle, die dich spielen gehört haben. Musik war
       eines der wichtigsten Dinge in deinem Leben, sagte dein Bruder Tuval. Am 7.
       Oktober solltest du abends in Tel Aviv auftreten.
       
       ## Solidaritätskampagne für Geisel
       
       In den letzten 70 Tagen sind deine Mutter Iris und dein großer Bruder Tuval
       um die Welt gereist, um über dein Schicksal zu berichten und dafür zu
       kämpfen, alle Geiseln zu befreien und den Krieg zu beenden. Dabei sagte
       deine Mutter, dass der einzige Weg, mit all dem umzugehen sei, positiv über
       dich, ihren Sohn, zu denken. Das sei, was sie zusammen halte. Die Hoffnung,
       dass du gesund zurückkommst. „Wir werden lachen, wir werden singen, wir
       werden tanzen, zusammen“, sagte sie.
       
       Drei Wochen nach dem 7. Oktober haben deine Familie und deine
       Freund*innen die Kampagne „Bring Yotam Back“ ins Leben gerufen. Sie
       hatten die Idee, dass Drummer, die sich mit dir solidarisch zeigen wollten,
       kurze Cover von Songs deiner Lieblingsbands wie Metallica, Iron Maiden oder
       Foo Fighters aufnehmen und der Kampagne zur Verfügung stellen könnten.
       Damit wollten sie die Aufmerksamkeit dieser großen Bands erreichen, um den
       Druck zur Freilassung der Geiseln zu erhöhen.
       
       Deine Freund*innen wie die der israelischen Bands Useless ID oder Kids
       Insane oder die Sängerin Netta Barzilai erhielten viel Solidarität,
       hauptsächlich von der israelischen Musikszene. In Deutschland waren es
       Bands wie ZSK, Egotronic oder die Antilopengang, [2][die die Kampagne
       unterstützten]. Sonst blieb es weitestgehend still. Jetzt berichtet das
       Rolling Stone Magazin über deinen Tod.
       
       Du hast nicht mitbekommen, wie groß [3][das Schweigen der internationalen
       Musik- und Clubszene] nach dem 7. Oktober war. Wie sie deine Freund*innen
       und deine Familie, wie sich dich, so empfinde ich es, größtenteils im Stich
       gelassen hat. Du hast nicht mitbekommen, mit welchen antisemitischen
       Nachrichten sie überzogen wurden, weil sie sich für deine Freilassung
       einsetzten. Dabei sind sie Teil der israelischen Linken, die seit Jahren
       die israelische Politik kritisiert, die sich gegen die Besatzung
       ausspricht, Rassismus gegen Palästinenser*innen und arabische
       Israelis anprangert.
       
       Diese Linke war es, die vor dem 7. Oktober monatelang gegen die Regierung
       von Benjamin Netanyahu auf die Straße ging. Aber das scheint nicht zu
       zählen. Weil sie Juden sind. Weil du Jude bist. Bis heute bekommen deine
       Freund*innen in Nachrichten vorgeworfen, sie wären zu pro-israelisch. Sie
       werden antisemitisch angefeindet, weil sie sich für dein Leben einsetzten.
       In Gesprächen mit meinem Freund der Band Kids Insane merkte ich: Diese
       zusätzliche Enttäuschung und den Schmerz darüber kann ihnen niemand nehmen.
       
       ## Untersuchungen zum IDF-Vorgehen
       
       Am 15. Dezember wurdest du und zwei weitere Geiseln, Samer al-Talalka und
       Alon Shamriz, versehentlich von IDF-Soldaten bei Shujaiyeh im Gazastreifen
       erschossen. 70 Tage hast du um dein Leben in Gaza gekämpft, wie alle
       anderen Geiseln, die dort waren, die dort noch sind. Wie viele andere, die
       in Gaza fliehen mussten, täglich um ihr Leben fürchten und dabei sterben.
       70 Tage warst du ohne deine Medikamente, die lebensnotwendig für dich sind.
       [4][Laut vorläufigen Berichten] sollt ihr zu dritt einen Stock mit einem
       weißen T-Shirt daran gehalten haben, eine weiße Fahne. Tage zuvor hatte ein
       Soldat vermerkt, dass an einem Gebäude „SOS“, „help“ und „3 hostages“ auf
       Stoffreste geschrieben wurde.
       
       Von der IDF wurde dies jedoch als mögliche Falle der Hamas vermutet. Als
       ihr entdeckt wurdet, hielt man euch für Hamas-Kämpfer. Nach Berichten der
       IDF trafen die Schüsse zuerst Samer und Alon, du ranntest zurück in das
       Gebäude. Ein Kommandeur befahl demnach den Soldaten, nicht weiter zu
       schießen, doch einer von ihnen hörte nicht auf. Er sah die weiße Fahne
       nicht. Die gesamten Umstände eures gewaltsamen Todes müssen aufgeklärt
       werden.
       
       Die IDF hat bereits gesagt, dass diese Tragödie zu vermeiden gewesen wäre
       und Verantwortung übernommen. Deine Familie und die Familien der anderen
       Geiseln werden sich dafür einsetzen, dass es Aufklärung gibt, dass
       Konsequenzen gezogen werden, dass die anderen Geiseln zurückkommen und
       dieser Krieg aufhört.
       
       Als ich Freitagabend von deinem Tod erfuhr, fühlte es sich an, wie bei so
       vielen Nachrichten seit dem 7. Oktober. Es war, als würde mir jemand mein
       Herz und meine Seele herausreißen, durch einen Fleischwolf jagen, mir die
       Überreste hinhalten und sagen, jetzt schau, was du damit machst, wie du
       dein gebrochenes Herz und deine zerrissene Seele wieder an dich nimmst und
       versuchst das zu verstehen, was du gerade gehört hast. Der Überfall auf
       dein Kibbuz und dein Haus, deine Entführung, dein Tod, all das ist nicht zu
       verstehen.
       
       ## Den Tod verarbeiten
       
       Im Judentum liegen Tod und Leben oft nah beieinander. So auch vergangenen
       Shabbat. Ich bin in die Fraenkelufer Synagoge in Berlin gegangen, um die
       Geburt des Sohnes einer Freundin zu feiern, sie beim Birkat HaGomel Gebet,
       ein Dankesgebet, was nach Genesung einer schweren Krankheit, einer
       gefährlichen Reise oder einer Geburt gesagt wird, zu unterstützen und den
       Kleinen in der Community willkommen zu heißen.
       
       Als ich ankam, hatte der israelische Sicherheitsmann schon die drei
       Geiselplakate von dir und den anderen beiden Toten abgenommen. Sie lagen
       nun auf einem Regal unter der Jiskor-Tafel, die der verstorbenen und
       ermordeten Gemeindemitglieder gedenkt.
       
       Wenn aus der Torah gelesen wird, wird traditionell Mi Sheberach gesprochen.
       Das Gebet, in dem wir Gott für gewöhnlich um die Heilung der Kranken
       bitten. Mi Sheberach sind die ersten zwei Worte, die so viel wie
       der*diejenige, der*die segnet bedeuten.
       
       Seit dem 7. Oktober werden in vielen jüdischen Gemeinden verschiedene
       Versionen des Mi Sheberach gesprochen, für die Ermordeten, für die sichere
       Rückkehr der Entführten und die Soldat*innen. Als das Mi Sheberach begann,
       zog ich meinen Tallis (Gebetsschal) von meinen Schultern über den Kopf und
       weinte leise hinein. Während ich abwechselnd mit Tallis und Pulloverärmel
       über mein Gesicht fuhr, rannten fröhlich Kinder durch den Gebetsraum,
       wiegte meine Freundin ihr Neugeborenes. Kinder bedeuten Leben, ging mir
       dabei durch den Kopf. Dein Leben ist jetzt zu Ende.
       
       Vom Mi Sheberach wechselten wir zum Kaddisch, das Gebet für die Toten und
       zum El Maleh, das Gebet, das bei deiner Beerdigung diese Woche gesagt
       wurde, um für die Ruhe deiner Seele zu bitten. Auf deiner Beerdigung sangen
       Musiker*innen deine Lieblingssongs.
       
       Dein Tod verändert uns, Yotam. Ich weiß nicht, wie wir diesen verarbeiten
       sollen. Doch was ich weiß, ist, dass wir dich in Erinnerung behalten werden
       als der liebevolle, einfühlsame und talentierte Mensch, der du warst. Und
       ich weiß, dass wir weiterhin die Musik von Persephore und die deiner
       Lieblingsbands hören werden. Dass wir die Forderungen deiner Familie nach
       Aufklärung und Konsequenzen unterstützen werden. Und dass wir deinen Namen
       sagen werden, immer wieder. Yotam Haim z“l.
       
       20 Dec 2023
       
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       ## AUTOREN
       
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