# taz.de -- Êzîdische Diaspora in Deutschland: Abschiebestopp auf Zeit
       
       > Der Irak ist für êzîdische Frauen und Kinder gefährlich, darum schiebt
       > sie NRW vorerst nicht mehr ab. Aber die Bundesregierung bleibt bisher
       > untätig.
       
 (IMG) Bild: Êzîd*innen protestieren im Oktober mit einem Hungerstreik gegen Abschiebung im Regierungsviertel
       
       Berlin taz | Als erstes Bundesland hat Nordrhein-Westfalen am Montag einen
       Abschiebestopp für êzîdische Frauen und Kinder verhängt. Der entsprechende
       Erlass des zuständigen NRW-Ministeriums für Flucht und Integration gilt
       zunächst für drei Monate, also bis zum 18. März 2024.
       
       Der Erlass kann einmalig um drei Monate verlängert werden. Und das Land
       scheint gewillt, diese Verlängerung zu beschließen, sollte sich keine
       bundesweite Lösung erzielen lassen. Damit würde das Land seine rechtlichen
       Mittel ausschöpfen, um [1][Abschiebungen von Êzîd*innen] unabhängig vom
       Bund temporär auszusetzen.
       
       Die Landesregierung erklärt den Schritt mit Verweis auf die „erheblichen
       Gefahren“ wie „Zwangsprostitution, Verschleppung und Versklavung“ für
       êzîdische Frauen und Kinder in den Siedlungsgebieten im Nordirak. Dabei
       beruft sich das Land nicht nur auf Berichte von
       Menschenrechtsorganisationen, sondern auch auf den Lagebericht des
       Auswärtigen Amtes. Dieser sei in der Hinsicht „sehr deutlich.“ Leider, so
       heißt es in der Erklärung weiter, „ziehe das für Rückführungen bzw. deren
       Aussetzung zuständige Bundesinnenministerium daraus keine Konsequenzen.“
       
       Aus Sicht von NRW-Fluchtministerin Josefine Paul ist das ein gravierendes
       Versäumnis. Paul berichtet, sie habe sich bei Faesers Ministerium „mehrfach
       und über einen längeren Zeitraum für einen bundesweiten Abschiebestopp
       eingesetzt“. Die Bemühungen seien jedoch bisher erfolglos geblieben.
       Aufgrund der „verheerenden menschenrechtlichen Situation, insbesondere für
       Frauen und Kinder“, ruft sie, „das BMI und Ministerin Faeser nochmals dazu
       auf, schnellstmöglich eine rechtssichere Perspektive“ für die in
       Deutschland lebenden Êzîd*innen zu schaffen.
       
       ## Menschenrechtssituation im Irak fragil
       
       Das Bundesinnenministerium hingegen sieht sich nicht in der Verantwortung
       und verweist auf die Länder. „Wenn die Innenministerkonferenz (IMK) auf
       Antrag eines Landes einen Abschiebungsstopp beschließt“, schreibt ein
       Sprecher auf Rückfrage der taz, bestünde die Kompetenz des Bundes darin,
       sein Einvernehmen zu erteilen. In der letzten Innenministerkonferenz im
       Dezember wurde kein solcher Antrag gestellt. Im Juni 2023 hat die IMK zwar
       die Schutzanerkennung von Êzîd*innen aus dem Irak besprochen, jedoch
       ebenso keinen Abschiebestopp beschlossen.
       
       Ob das Land NRW eine Abstimmung zu einem bundesweiten Abschiebestopp für
       Êzîd*innen erneut auf die Tagesordnung der IMK setzen wird, hält sich das
       zuständige Ministerium für Flucht und Migration offen. Die nächste IMK
       findet voraussichtlich im Juni 2024 in Potsdam statt. Zu diesem Zeitpunkt
       würde dann auch die Verlängerung des aktuell beschlossenen
       NRW-Abschiebestopps auslaufen.
       
       Ob sich weitere Bundesländer am temporären Abschiebestopp in NRW ein
       Vorbild nehmen, ist derzeit ebenso ungewiss. Auf taz-Rückfrage antworteten
       die Innenministerien von Hessen, Bayern, Berlin und Niedersachsen, dass sie
       sich zunächst weiter an den Vorgaben des Bundesamtes für Migration und
       Flüchtlinge (BAMF) orientieren werden. Dieses hatte bereits im Jahr 2017
       den gruppenbezogenen Schutzstatus für Êzid*innen aufgehoben und auf eine
       Einzelfallprüfung umgestellt.
       
       Dass Êzîd*innen bundesweit wieder vermehrt in den Irak abgeschoben
       werden, ist nicht nur vor dem Hintergrund der dort bedrohlichen
       Menschenrechtslage für Êzîd*innen politisch brisant. Erst im Januar
       dieses Jahres hat der Bundestag den Überfall des Islamischen Staat (IS) auf
       die êzîdischen Siedlungsgebiete im Nordirak in 2014 [2][einstimmig als
       Genozid anerkannt] und sich zudem ausdrücklich zum Schutz êzîdischen Lebens
       bekannt.
       
       ## 5.000 bis 10.000 Êzîd*innen bedroht
       
       Für Düzen Tekkal, die sich mit ihrer [3][Menschenrechtsorganisation Háwar
       Help] für die [4][Interessen der Genozid-Überlebenden] einsetzt, sollte
       daraus ganz selbstverständlich ein bundesweiter Abschiebestopp folgen. Dass
       das nicht der Fall ist, sondern mittlerweile Menschen Abschiebebescheide
       bekommen, die hier ein Studium oder eine Ausbildung begonnen haben, ist für
       Tekkal ein Vertrauensbruch. „Der Bundestag hat sich mit Nachdruck zum
       Schutz êzîdischen Lebens verpflichtet. Wenn ein Jahr später Êzîd*innen
       abgeschoben werden, muss man die Frage stellen, ob der Beschluss des
       Bundestags nur Symbolpolitik war“, sagt sie.
       
       Schätzungen der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl zufolge sind 5.000 bis
       10.000 in Deutschland lebende Êzîd*innen von Abschiebung in den Irak
       bedroht. Im Oktober gab es ein Camp und einen Hungerstreik von Betroffenen
       vor dem Bundestag. Unter anderem Tekkal und Háwar Help hatten parallel dazu
       einen [5][offenen Brief an die Bundesinnenministerin] geschrieben und darin
       einen bundesweiten Abschiebestopp gefordert. Eine Reaktion der
       Innenministerin gab es auch darauf nicht.
       
       Den aktuellen Vorstoß aus NRW bezeichnet Tekkal als einen „Anfang, der die
       Richtung vorgibt für einen bundesweiten Abschiebestopp für Êzîd*innen.“
       Auch wenn sie besorgt sei, „was über die drei Monate hinaus passiert, und
       vor dem Hintergrund, dass êzîdische Männer nicht Teil des Beschlusses sind
       und Familien so fürchten müssen, getrennt zu werden“. Dennoch zeige der
       NRW-Abschiebestopp, dass politischer Druck wirkt, so Tekkal. Andere
       Bundesländer sollten sich nun ein Beispiel daran nehmen, bis es zu einem
       bundesweiten Abschiebestopp kommt, so Tekkal.
       
       21 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Ueberlebende-des-Genozid-an-den-ziden/!5978191
 (DIR) [2] /Bundestag-ueber-Genozid-an-ziden/!5906527
 (DIR) [3] https://www.hawar.help/de/
 (DIR) [4] /Genozid-an-zidinnen-2014/!5948101
 (DIR) [5] https://innn.it/abschiebestopp
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tobias Bachmann
       
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