# taz.de -- Crack breitet sich aus: Höllisch high
       
       > Immer mehr Menschen rauchen Crack. Das hat drastische Folgen für
       > Konsumierende und Sozialarbeiter:innen.
       
 (IMG) Bild: Beim Rauchen knistert es: Crackkonsum auf der Straße in Berlin
       
       André Beck ist ein unauffälliger Typ. Er ist mittleren Alters, trägt eine
       Brille, saubere Jeans und Pullover, seine Figur ist hager. Es sei schon mal
       mehr an ihm dran gewesen, sagt Beck, „aber man vergisst halt zu essen“. In
       seinem Gesicht hat er ein paar aufgekratzte Wunden, oberhalb der Schläfe.
       Sie sind das Einzige, was darauf hinweist, dass er krank ist, suchtkrank.
       Beck konsumiert Crack, jeden Tag.
       
       Was macht das mit ihm? „Es ist, als würde ich gesteuert, von irgendetwas
       Bösem in meinem Gehirn. Etwas ganz Bösem.“
       
       Ein Tag im September, André Beck sitzt im Café des [1][Drogenhilfezentrums
       Indro e. V.] in Münster. Beck, 50 Jahre alt, hat die Beine ausgestreckt.
       Die Schultern leicht gebeugt erzählt er von Abgründen, Ängsten und
       Abstürzen. Von Kokain und Kontrollverlust. Vor ihm steht ein Kaffee, der 50
       Cent kostet. Der Preis gilt für ihn und seine „Kollegen“, wie er die
       anderen hier nennt. Die meisten leben von Sozialhilfe, weil sie wegen ihrer
       starken Sucht nicht arbeiten können.
       
       André Beck heißt eigentlich anders. Wir anonymisieren ihn wie alle anderen
       Drogenkonsument:innen in diesem Text, weil die Abhängigkeit von
       psychoaktiven Substanzen von weiten Teilen der Gesellschaft geächtet wird.
       Die Personen, mit denen die taz gesprochen hat, wollen nicht dauerhaft im
       Netz im Zusammenhang mit ihrer Krankheit auffindbar sein.
       
       Die Zahl der Menschen, die wie Beck täglich Crack konsumieren, steigt in
       Deutschland aktuell massiv an. Crack ist mit Backpulver oder Natron
       versetztes und aufgekochtes Kokain, die Konsument:innen kochen die
       Mixtur meist selbst auf. Durch das Erhitzen entstehen kleine Steinchen, die
       in der Crackpfeife geraucht werden. Crack nennt man die Droge, weil sie
       dabei beim Rauchen knistert – „crackle“ heißt das auf Englisch.
       
       Nicht nur Crack, auch Freebase ist in der Szene angesagt. Dafür wird Kokain
       mit gesundheitsschädlichem Ammoniak erhitzt, auch hier entstehen rauchbare
       Steinchen.
       
       In den Straßen von Frankfurt am Main, Hamburg, Dortmund oder Berlin ist
       nicht zu übersehen, dass der Konsum von Crack und Freebase aktuell stark
       zunimmt. Nahe dem Frankfurter Hauptbahnhof, in der Taunusstraße, sitzen
       alle paar Meter Abhängige mit ihren Crackpfeifen in Hauseingängen. Am
       Berliner Leopoldplatz bietet sich ein ähnliches Bild. Laut dem
       [2][UN-Global Report on Cocaine] von 2023 ist Crack in ganz Europa auf dem
       Vormarsch. Lag das Verhältnis von Kokainkonsument:innen und
       Crackraucher:innen im Jahr 2011 noch bei 1:1, ist es inzwischen fast
       bei 1:2.
       
       Auch die Zahl der Drogentoten ist gestiegen. Laut dem
       [3][Drogenbeauftragten der Bundesregierung] starben im Jahr 2022 insgesamt
       1.990 Menschen an den Folgen des Konsums illegaler Substanzen, zehn Jahre
       zuvor waren es noch 944. Davon gehen 90 Todesfälle auf den Konsum von
       Kokain oder Crack zurück, zwei Jahre zuvor waren es 48 Tote. Auch die
       Fälle, bei denen ein Mischkonsum in Verbindung mit Crack oder Kokain zum
       Tod führte, sind gestiegen: auf 417 im Jahr 2022. Die Sorge ist groß, dass
       sich die Lage weiter verschärft.
       
       Woher kommt diese Entwicklung? Was unterscheidet Crackkonsument:innen
       von Usern anderer harter Drogen? Und was bedeutet die Zunahme für unser
       Hilfesystem?
       
       André Beck erzählt, wie er als junger Mann in seiner Heimatstadt Bielefeld
       von einem Dealer angefixt und heroinabhängig wurde. Es folgen zweieinhalb
       Jahre Gefängnis, dann Substitution, dann ein Neuanfang in Münster. Als
       seine Partnerin an Krebs stirbt, fällt er wieder ins Bodenlose. „So bin ich
       auf die Kokainschiene gekommen“, sagt er. Bis er sich fängt und es schafft,
       kontrolliert zu konsumieren.
       
       „Gekochtes Kokain“, nennt Beck den Stoff, zu dem die Mitarbeiter:innen
       der Suchthilfe Crack oder Freebase sagen. Weil Crackrauchen auch innerhalb
       der Szene verpönt ist, die Konsument:innen stigmatisiert werden – als
       die, die die Kontrolle über ihr Leben endgültig verloren haben –, finden
       viele andere Ausdrücke.
       
       André Beck erzählt eine Viertelstunde konzentriert seine Geschichte. Viele,
       die regelmäßig Crack rauchen, schaffen so etwas nicht, sie sind zu unruhig.
       Durch das Fenster des Cafés im ersten Stock schaut man hinunter auf die
       enge Straße. Die Tür zum Suchthilfeverein gleicht dem Eingang eines
       Bienennests. Männer und Frauen gehen ein und aus, viele Male innerhalb von
       wenigen Minuten, hektisch. Andere sitzen in Grüppchen auf dem Bordstein
       gegenüber, nesteln an Jacken, Taschen oder Konsumbesteck herum.
       
       Zwei Frauen um die 40 ziehen abwechselnd an einer kleinen Pfeife. Manche
       haben kaum intakte Klamotten am Körper, einige offene Wunden. Die meisten
       sind ausgemergelt, mit fahler Haut. Andere fallen nicht weiter auf. Viele
       tragen Baseball-Cappys oder Kapuzenpullover, als wollten sie sich
       verstecken.
       
       Man fragt sich, wo der ganze Stoff herkommt, der hier konsumiert wird. In
       Münster fand eine 2019 von der Polizei einberufene Ermittlungskommission
       heraus, dass der größte Teil des Cracks aus den Niederlanden in die Stadt
       gelangte. Allein in den ersten drei Monaten nach Gründung der Kommission
       erfolgten 33 Festnahmen, in 15 Fällen wurden die mutmaßlichen Dealer in
       Untersuchungshaft genommen, darunter viele aus dem nahe gelegenen
       Nachbarland. Das sei viel für eine so kleine Stadt, sagt ein Sprecher der
       Polizei.
       
       Der Europäische Drogenbericht von 2022 benennt Hamburg, Rotterdam und
       Antwerpen als zentrale Häfen, über die Kokain nach Europa kommt. Die
       sichergestellten Mengen sind dabei seit 2016 stark gestiegen. Wurden damals
       noch 70,9 Tonnen Kokain beschlagnahmt, waren es im Jahr 2021 bereits 303
       Tonnen Kokain – so viel wie noch nie. „Europa wird seit einigen Jahren mit
       hochpotentem Kokain geflutet“, erklärt Suchtforscher Daniel Deimel, der an
       der Katholischen Hochschule Aachen Professor für Klinische Sozialarbeit
       ist.
       
       Nach der Pandemie habe das überall verfügbare Kokain in der Drogenszene
       voll eingeschlagen. „Die Abhängigen waren während der Pandemie hoch
       belastet, die Hilfsangebote für sie waren eingeschränkt“, sagt Deimel. „Der
       expandierende Kokainmarkt traf so auf eine extrem vulnerable Gruppe.“
       
       Globale politische Entwicklungen haben häufig direkte Auswirkungen auf den
       Drogenhandel in Europa. In Kolumbien, wo ein Großteil der Kokapflanzen für
       die Weiterverarbeitung zu Kokain angebaut wird, hatte die Guerilla der FARC
       den Drogenhandel bis 2016 unter ihrer Kontrolle. Nach dem Friedensvertrag
       und der Auflösung der FARC teilte sich der Markt auf. Seither sind viele
       verschiedene kriminelle Gruppen am Kokainhandel beteiligt. Es kam zu einer
       enormen Überproduktion von Kokain, die Preise fielen.
       
       Kolumbien ist nur ein Beispiel, wie politische Entwicklungen den Markt mit
       illegalen Substanzen in Europa beeinflussen, Afghanistan ist ein weiteres:
       Die Taliban setzen nach jüngeren Berichten nun tatsächlich das Verbot des
       Mohnanbaus durch. Bald dürfte deshalb weniger Heroin auf dem europäischen
       Markt sein. Schon jetzt werden ihm vermehrt synthetische Opioide wie
       Fentanyl oder Nitazene beigemischt, die weitaus gefährlicher sind.
       
       Fachleute warnen davor, dass diese künstlichen Stoffe sich bald durchsetzen
       und es dann zu viel mehr Drogennotfällen kommt. Ein weiterer Effekt könnte
       sein, dass die Abhängigkeit von anderen Substanzen, etwa Kokain oder Crack,
       wächst. Das wäre aus mehreren Gründen problematisch.
       
       Neben André Beck sitzt Stefan Engemann, Sozialarbeiter, Leiter und
       Vereinsvorsitzender von Indro. Das hektische Treiben vor dem Haus bereitet
       ihm Sorgen. „Unsere Arbeit hat sich in den letzten Jahren sehr verändert“,
       sagt er. Der Hauptgrund dafür seien das gestiegene Angebot von Kokain und
       der wachsende Konsum seiner rauchbaren Varianten, also Crack und Freebase.
       
       Anders als Heroin wird Crack von deutlich mehr Menschen auf offener Straße
       konsumiert. Man sieht es auch hier in Münster: Im Hauseingang gleich
       nebenan steht ein Mann mit dunkler Jacke und dunklem Bart und stopft sich
       eine Pfeife. Erst kommt Asche in den Pfeifenkopf, damit das Crack nicht
       sofort verbrennt, dann der kleine, weiß-gelbliche Klumpen. Der Mann wirkt
       hochkonzentriert, er scheint nichts um sich herum wahrzunehmen, außer der
       kleinen Pfeife in seiner Hand.
       
       Crack wirkt kurz, aber heftig. Beim Rauchen wird es über die Lunge so
       schnell aufgenommen wie auf keinem anderen Weg, erklärt Dietmar Paul,
       Chefarzt der Klinik für Abhängigkeitserkrankungen am Bürgerhospital
       Frankfurt. Er gilt als einer der führenden Crackexperten. „Der Stoff flutet
       enorm schnell im Gehirn an. Es entsteht ein Rausch, der vielleicht zwei bis
       maximal zehn Minuten anhält.“ Die Droge wirkt damit völlig anders als
       Heroin.
       
       Während Heroin eine Halbwertszeit von vier bis sechs Stunden hat, lässt die
       Wirkung bei Crack sehr schnell nach. Wer es konsumiert, will fast
       augenblicklich wieder neuen Stoff. Eine Konsumeinheit Crack enthält etwa
       0,1 bis 0,2 Gramm Kokain, das pro Gramm in Deutschland zwischen 60 und 100
       Euro kostet.
       
       Für das Verlangen nach Crack spielen die Neurotransmitter eine große Rolle.
       Sobald die Lunge den Dampf inhaliert hat, schüttet das Gehirn welche aus,
       sie wandern zu den Rezeptoren. Zwischen Neurotransmitter und Rezeptor
       sammelt sich für einen kurzen Moment eine große Menge an Dopamin oder
       Serotonin: Glückshormone.
       
       „Das hat den Effekt, dass man für einen ganz kurzen Moment konzentrierter,
       leistungsfähiger, selbstbewusster und kreativer ist“, sagt der Arzt Dietmar
       Paul. Man fühlt sich euphorisch, soziale und sexuelle Hemmungen fallen weg.
       Zugleich aber verspüren Crackkonsument:innen weder Durst noch Hunger,
       weshalb viele unterernährt sind. Eine weitere Folge des Konsums ist oft ein
       starker Juckreiz, der sogenannte Dermatozoenwahn, wörtlich
       „Haut-Tier-Wahn“.
       
       Die Konsument:innen sehen dabei vermeintlich, wie ihnen Insekten aus
       der Haut krabbeln. Sie kratzen sich auf, die Wunden verheilen schlecht oder
       gar nicht, auch wegen der Unterernährung vieler Konsument:innen. So lassen
       sich auch André Becks Wunden erklären. Um der Appetitlosigkeit etwas
       entgegenzusetzen, versuchen es manche Suchthilfevereine mit
       hochkalorischer Flüssignahrung. Auch deshalb, weil Konsument:innen
       teils so schlechte Zähne haben, dass sie nichts Festes kauen können.
       
       ## Die Droge macht auch reizbar und aggressiv
       
       Die sichtbare Verelendung der crackabhängigen Menschen sei das eine, ihre
       phasenweise geminderte Frustrationsschwelle das andere, sagt der Leiter der
       Münsteraner Suchthilfeeinrichtung, Stefan Engemann. Neben dem
       unterdrückten Grundbedürfnis nach Nahrung gebe es noch ein Problem – den
       Schlafentzug bei exzessivem Crackkonsum und seine Folgen: Denkstörungen,
       Halluzinationen und Reizbarkeit.
       
       Kombiniert mit einem gepushten Ego, verursache das im Alltag immer wieder
       „kleinere Reibereien, bis hin zu handfesten, gewaltsamen
       Auseinandersetzungen“, und die gestalteten sich zuletzt immer enthemmter,
       sagt Engemann. Einige Szenezugehörige suchten deshalb Schutz beim Verein
       Indro, was das Team vor Herausforderungen stelle. Immer öfter müssten sie
       schlichten. So habe neulich ein Mann im Streit mit einem anderen Mann ein
       Messer gezogen – in den Räumlichkeiten des Vereins. Das sei die bisher
       schlimmste Eskalation gewesen, die er hier erlebt habe.
       
       Das Problem: „Wenn jemand Heroin überdosiert, können wir ihm Naloxon geben“
       – ein Nasenspray, das die Wirkung des Opiats eine Zeit lang reduziert oder
       aufhebt – „und dann ist wieder gut“, sagt Engemann. Bei Crackusern jedoch
       sind die Folgen eines hohen Konsums – die Überreizung, die Aggression, das
       Wahnhafte – psychiatrisch, dafür gebe es bislang kein „Gegenmittel“. „Also
       bleibt uns nur, mit ruhiger Stimme und ausgleichendem Gemüt auf die Person
       einzureden, ein Glas Wasser zu reichen, in der Hoffnung, dass er oder sie
       sich beruhigt.“ Wenn das nicht hilft, folgen Polizeieinsatz und Hausverbot.
       „Damit ist am Ende niemandem geholfen.“
       
       Am nächsten Morgen im Vorraum des Vereins Indro. Noch ist die Tür aus
       Milchglas verschlossen, doch immer mehr unruhige Schatten tauchen dahinter
       auf.
       
       Der Druck scheint nach innen durchzudringen, die
       Sozialarbeiter:innen und Praktikant:innen eilen durch die Räume
       und an ihre Plätze: Café, Pumpentheke, wo benutzte Spritzen gegen neue
       getauscht werden, K-Raum. Das K steht für Konsum, Indro hat 2001 den ersten
       offiziellen Konsumraum in Nordrhein-Westfalen eröffnet. Ein kleiner,
       gekachelter Raum mit zwei Kabinen zum inhalativen Gebrauch, also Rauchen,
       und vier Plätzen zum intravenösen Gebrauch, also Spritzen.
       
       Das K-Raum-Team besteht heute aus Eva Gesigora und zwei Kolleg:innen, sie
       regeln das Ein-und-aus-Gehen. Gesigora, 42, ist Krankenpflegerin und
       Sozialarbeiterin. Sie wirbelt durch den engen Vorraum, ständig verschwinden
       ihre Hände in kleinen Schubladen oder Boxen, ziehen Desinfektionstücher
       hervor, vergeben Pflaster, Kanülen oder Vitamintabletten. Auch ein
       „Crackpack“ mit Einmalpfeife aus einem Glasröhrchen ist im Sortiment. Doch
       das komme selten zum Einsatz – weil im K-Raum kaum Crack oder Freebase
       konsumiert wird.
       
       Eva Gesigora sagt, es sei selbst für ein so niedrigschwelliges Angebot wie
       Indro schwierig, jene, die exzessiv Crack konsumieren, in die Einrichtung
       zu holen.
       
       Ähnlich erlebt es auch Astrid Leicht vom Berliner Drogenhilfeverein
       Fixpunkt. Der Verein vertritt – wie Indro – einen akzeptierenden und
       vorurteilsfreien Ansatz in der Betreuung von Drogenkonsument:innen. An
       einem Herbsttag haben die Sozialarbeiterin und ihr Kollege Sebastian Bayer
       in den Hof des Fixpunkt-Büros in Berlin-Kreuzberg geladen. Cracksüchtige
       seien ruhelos, auch wegen des permanenten Schlafdefizits, sagt Leicht, sie
       könnten sich deshalb nicht lange in geschlossenen Räumen aufhalten.
       
       „Konsumräume oder Konsummobile können nur funktionieren, wenn sie auch eine
       angrenzende öffentliche Fläche haben.“ Es brauche mehr von diesen Flächen –
       natürlich müssten diese Orte reguliert und beaufsichtigt werden, es müsse
       gewaltfrei zugehen.
       
       Mit drei Drogenkonsummobilen ist Fixpunkt in verschiedenen Vierteln in
       Berlin unterwegs, unter anderem an den Hotspots Stuttgarter Platz in
       Charlottenburg und am „Leo“, dem Leopoldplatz in Wedding. Dort ist an dem
       Konsummobil ein Ort eingerichtet, an dem die Drogensüchtigen geduldet
       werden. Zwei Unterstände sind dort, auf den Bänken darunter hocken
       Dutzende, die fixen oder Crack rauchen. Fast nur Männer, zwischen 20 und
       50. Dealer fragen, ob man „Steine“ kaufen will – zum Teil werden die Steine
       inzwischen auf der Straße fertig angeboten, man muss sie gar nicht mehr
       aufkochen, nur noch rauchen.
       
       Am „Leo“ sei die Szene eine Weile noch größer gewesen, sagt Bayer. Nun
       konsumieren zum einen wegen der kühlen Witterung weniger Menschen draußen.
       Zum anderen, so Astrid Leicht, sei die Polizei im Herbst sehr aktiv am
       Leopoldplatz gewesen und habe für Verdrängung gesorgt: „Das Übliche halt.“
       So werde das Problem in den nächsten Bezirk weitergeschoben.
       
       Der Konsum auf öffentlichen Plätzen wird auch in Münsters pittoresker
       Innenstadt als Problem erachtet. Mehrmals wurde die Szene dort vertrieben.
       Ein runder Tisch von Ordnungsamt, Quartiersmanagement und sozialen
       Hilfseinrichtungen wie dem Indro sprach ihr schließlich einen festen Ort
       zu, einen Teil des Bremer Platzes, am Hintereingang des Münsteraner
       Hauptbahnhofes.
       
       Dieser soll nun so umgebaut werden, dass er den Bedürfnissen der Szene
       entspricht: kostenlose Toilette, Trinkwasserbrunnen, Segel für Schatten und
       gegen Regen, Sichtschutz. Aktuell ist der Platz noch eine Baustelle, die
       Fertigstellung verzögert sich.
       
       Astrid Leicht und Sebastian Bayer von Fixpunkt in Berlin erachten den
       Umgang mit Crackkonsument:innen hierzulande als rückständig. „Die
       Drogenhilfe in Deutschland geht viel zu oft an den Bedürfnissen der
       Crackabhängigen vorbei“, sagt Leicht. Sowohl Gesundheitseinrichtungen als
       auch Kommunen wüssten zu wenig über die Substanz und ihre Konsumsymptome.
       
       In den USA, wo man schon länger mit dem Crackproblem zu kämpfen hat, sei
       das anders. Dort habe sich das sogenannte Kontingenzmanagement als sehr
       effektiv erwiesen. Es basiert auf klassischen lerntheoretischen Prinzipien:
       Die Konsument:innen werden für Abstinenz und für cleane Urintests
       belohnt – zum Beispiel mit Wertgutscheinen. In Deutschland kenne man das
       Modell dagegen kaum, beklagt Leicht.
       
       Ihr Kollege Bayer sagt, man müsse das soziale Umfeld der
       Drogengebraucher:innen entsprechend ihren Bedarfen gestalten. Wenn
       sich die Rahmenbedingungen änderten, ändere sich auch das Konsumverhalten.
       „Geben wir ihnen doch mal eine Wohnung und Beschäftigung – und dann gucken
       wir, was von der Sucht übrig bleibt“, sagt Bayer.
       
       In etwa so hat das im Leben von Jonas Witte eine Zeit lang gut
       funktioniert, vor dem Fall. Der 27-Jährige, jungenhaftes Gesicht, Dreads
       und Mütze, betritt den Konsumraum von Indro. Auf der Schulter trägt er
       einen großen Seesack, an dem eine eingerollte Isomatte hängt. Witte bewegt
       sich leise und behutsam. Er möchte sich Kokain spritzen, bittet um
       Spritzbesteck und etwas Wasser, um das Kokain darin aufzulösen. Er schiebt
       seinen Seesack unter den Edelstahltisch und verteilt die Komponenten auf
       der sterilen Oberfläche. Die Finger, ein bisschen zittrig, aber flink,
       greifen das eine, dann das andere – ein Prozess, automatisiert, es könnten
       die Hände eines Krankenpflegers oder Arztes sein.
       
       Nachdem Jonas Witte fertig ist, erzählt er seine Geschichte: Er wurde in
       einer Kleinstadt im Ruhrpott geboren. Sein Vater sei heroinabhängig
       gewesen, habe die Familie verlassen, als Jonas noch ein kleines Kind war.
       Seine Mutter beschreibt er als „alternativ“. Sie habe nur gekifft, sei
       immer sehr liberal gewesen.
       
       Auf dem Gymnasium habe er sich politisiert. „Ich war gegen alles, gegen das
       System, wollte nicht mehr mitmachen.“ Er bricht die Schule ab. Das habe ihm
       auch dabei geholfen, sich dem zu entziehen, was er nicht gut aushält – den
       Kontakt zu anderen Menschen. Wegen einer Sozialphobie sei er in
       psychiatrische Behandlung gekommen, habe dort Benzodiazepine gekriegt. Ein
       Beruhigungsmittel, das schnell abhängig machen kann.
       
       Als die stationäre Therapie beendet war und er nach Hause kam, begann das
       Craving – also das starke Verlangen bei Entzug – nach Benzos. Er habe sich
       dann in der Szene umgehört, sei schnell an Ersatz gekommen. Doch da habe es
       noch was im Angebot gegeben, Heroin, das Zeug, von dem sein Vater nicht
       weggekommen war. Schon immer habe er verstehen wollen, warum. Er probierte
       es aus. Bald fand er sich in einer Abwärtsspirale wieder: Seine körperliche
       Toleranz wuchs, er konsumierte mehr und mehr, um noch etwas von dem High zu
       spüren. Das Geld wurde knapp, er begann zu stehlen. Jugendhaft blieb ihm
       erspart, es folgte eine Entgiftung nach der anderen.
       
       Wurde Jonas Witte wegen seines Vaters abhängig – ist es möglicherweise eine
       genetische Veranlagung? Oder gibt es eine Art „Suchtpersönlichkeit“?
       Grundsätzlich gilt, so der Stand der Wissenschaft: Jeder Mensch kann eine
       Sucht entwickeln, unabhängig von seinen Vorfahren oder von der sozialen
       Herkunft.
       
       Das sagt auch Eva Gesigora von Indro: „Man darf nicht vergessen: Drogen
       machen auch einfach Spaß, deswegen trinken Menschen Bier, rauchen Cannabis,
       konsumieren sogenannte Partydrogen.“ So banal könne eine Abhängigkeit ihren
       Anfang nehmen. Viele Konsument:innen bei Indro würden außerdem oft
       scherzhaft von „Selbstmedikation“ sprechen. Da sei etwas Wahres dran, sagt
       Gesigora. Der Konsum von psychoaktiven Substanzen erleichtere einigen ihren
       psychischen Leidensdruck.
       
       Trotzdem gibt es Faktoren, die eine Suchterkrankung begünstigen können. Die
       „genetisch festgelegte Bereitschaft“ spielt laut einer Broschüre der
       [4][Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen] eine Rolle sowie die
       persönlichen Stärken und Schwächen eines Menschen, zum Beispiel im Umgang
       mit Gefühlen. Und dann ist da noch die „Umwelt“, also die allgemeinen
       Lebensumstände: Hat ein Mensch eine sichere Wohnsituation? Ein stabiles
       soziales Umfeld? Positive Vorbilder, Perspektiven, Möglichkeiten der
       Teilhabe?
       
       Für Jonas Witte geht vieles davon eine Zeit lang in Erfüllung. Er bekommt
       einen Platz in einer Einrichtung für betreutes Wohnen im Münsterland und
       wird substituiert. Vier Jahre bleibt er dort, wird abstinent, fängt eine
       Ausbildung zum Koch an, arbeitet in einer Gaststätte, „ziemlich oldschool“
       sei die gewesen, aber die Arbeit habe ihm Spaß gemacht.
       
       Witte hat nun das, was Sebastian Bayer von Fixpunkt für die wichtigste
       Grundvoraussetzung für eine Heilung hält: Wohnung, Struktur und
       Beschäftigung. Doch irgendwann wird es stressig, die langen Arbeitszeiten,
       der Druck. „Ich hab es nicht mehr ausgehalten“, sagt Witte und senkt den
       Blick. Er wird rückfällig, fliegt aus dem Wohnprojekt, verliert auf einen
       Schlag alles und landet in Münster, wo ihn „immerhin niemand kennt“.
       
       Seit einem Jahr lebe er nun wieder auf der Straße. Tagsüber sitzt er mit
       einem Becher in der Stadt. Wenn er genug Geld zusammenhat, geht er zum
       Bremer Platz und holt sich Kokain, den Stoff, nach dem sein Körper
       verlangt. Im K-Raum von Indro bekomme er steriles Material und könne in
       Ruhe konsumieren, nicht heimlich in einem Hauseingang, das ist ihm wichtig.
       
       Jonas Witte ist wie André Beck jemand, der kontrolliert konsumiert, sich
       selbst Regeln auferlegt, einen Tag die Woche „frei machen“ zum Beispiel,
       oder nie mehr als so und so viel Gramm am Tag oder in der Woche. Aber das
       gelingt wenigen, und das sind meist die Älteren, die schon seit Jahrzehnten
       mit Methadon substituiert sind, ihren Körper und ihre Konsummuster gut
       kennen. Disziplin und Willensstärke spielen vermutlich ebenso eine Rolle.
       Solche Konsumierende sind für Engemann und Kolleg:innen noch erreichbar.
       Im Gegensatz zu jenen Crackusern, die die Kontrolle vollends verloren
       haben.
       
       ## Es fehlt das Methadon für Cracksüchtige
       
       Dass die Sozialarbeit mit Heroinabhängigen effektiver ist, liegt auch am
       synthetischen Opioid Methadon, das als Ersatz für Heroin gegeben wird. Auf
       den Konsum von Methadon folgt kein Rausch, es baut sich im Körper langsamer
       ab als Heroin, so bleibt der Suchtdruck aus. Bereits 1992 wurde die
       Substitutionstherapie [5][mit Methadon] gesetzlich verankert und das
       Angebot in den nuller Jahren flächendeckend ausgebaut. Eine
       Substitutionstherapie für Crackkonsument:innen ist noch nicht in
       Sicht. Allerdings forschen Wissenschaftler:innen bereits seit einigen
       Jahren an Medikamenten, darunter [6][verschiedene Arten von Amphetaminen].
       
       „Man müsste eine Substanz finden, die genauso aktivierend ist wie Crack und
       eine längere Halbwertszeit hat“, sagt Dietmar Paul vom Bürgerhospital
       Frankfurt. Doch die Studienlage gebe bislang nicht viel her, es bleibe
       nichts anderes übrig, als weiter Modellprojekte anzuschieben.
       
       Solange ein Forschungserfolg nicht abzusehen ist, müssen Städte und
       Kommunen mit dem Crackkonsum erst einmal umgehen. Auch in der Politik gebe
       es einen enormen Nachholbedarf, sagt Suchtforscher Daniel Deimel aus
       Aachen. „Es fehlt an Wissen über die Droge.“ In Reaktion auf die
       Crackzunahme hat nicht nur in Münster die Polizei eine
       Ermittlungskommission einberufen.
       
       Auch in Dortmund richtete die Stadt kürzlich einen Sonderstab ein und
       intensivierte die Zusammenarbeit mit der Polizei. „Die Politik wirkt oft
       überfordert. Sie steht unter öffentlichem Druck, da Drogenszenen als
       soziale Konfliktherde wahrgenommen werden. Es wird dann häufig mit
       repressiven Maßnahmen reagiert, was nicht zielführend und nachhaltig ist“,
       sagt Deimel.
       
       Wie es anders gehen könnte, zeigt Portugal. 2001 wurden dort jegliche
       Drogen entkriminalisiert. Der Besitz von Betäubungsmitteln für den
       Eigenbedarf ist seither eine Ordnungswidrigkeit und keine Straftat. [7][Die
       Kriminalität im Zusammenhang mit Drogenhandel] und -besitz ging zurück, es
       werden weniger Haftstrafen verhängt, das Stigma wurde reduziert.
       
       Von 100.000 Heroinkonsument:innen Ende der Neunziger ging die Zahl
       zurück auf 25.000 im Jahr 2018. Auch die [8][Zahl der konsumbedingten
       Todesfälle] ist gesunken. Gestiegen wiederum ist die Zahl von
       Konsument:innen in Therapie. Erst nachdem die Mittel für die
       Drogenhilfe in den 2010er Jahren massiv gekürzt wurden, hat auch Portugal
       wieder mehr Probleme mit einer offenen Drogenszene.
       
       „Wir brauchen auch in Deutschland eine Entkriminalisierung von
       konsumierenden Menschen. Das wäre zielführend in Bezug auf Crack, aber auch
       auf alle anderen Substanzen“, ist Deimel überzeugt. Die Prohibition habe
       keine suchtpräventive Wirkung – weder für Jugendliche noch für Erwachsene.
       
       Wie Deimel sprechen sich viele Suchtforscher:innen für eine
       Entkriminalisierung aus. Allerdings ist in Deutschland schon die
       Legalisierung von Cannabis umstritten, eine Entkriminalisierung von derart
       schädlichen Drogen wie Crack dürfte auf absehbare Zeit schwerlich
       durchzusetzen sein. In Münster neigt sich der Arbeitstag für Stefan
       Engemann und seine Kolleg:innen dem Ende zu.
       
       Als die letzten suchtkranken Frauen und Männer gegangen sind, versammeln
       sich die Sozialarbeiter:innen im kleinen Innenhof. Sie sitzen auf
       gestapelten Kisten, trinken Bier, unterhalten sich über den Tag.
       
       Zwei Notfälle gab es heute. Zwei Frauen, beide um die 40, seien im K-Raum
       weggekippt, beide hätten sie aber mit Sauerstoff schnell wieder auf die
       Beine bekommen. Es sind die beiden Frauen, die den Tag über abwechselnd
       Crackpfeife geraucht haben. Mischkonsum sei wahrscheinlich die Ursache für
       den Kollaps gewesen, zu wenig Essen, zu wenig Wasser.
       
       „Die beiden sind gerade ziemlich hart unterwegs“, sagt eine Mitarbeiterin
       und wirkt dabei selbst etwas mitgenommen. Was glauben sie, warum Kokain,
       insbesondere Crack, so beliebt ist? „Ich denke, das ist auch ein Produkt
       unserer Leistungsgesellschaft“, sagt die Sozialarbeiterin. „Sich einmal –
       wenigstens kurz – wie jemand fühlen, der jemand ist. Einmal nicht der Loser
       sein, zu dem einen unsere Gesellschaft macht, wenn man suchtkrank ist.“
       
       Trotz aller Ratlosigkeit ist da auch Hoffnung bei den
       Indro-Mitarbeiter:innen. Der neue Bremer Platz soll bald fertig werden, das
       könnte die Lage bei ihnen beruhigen. Vielleicht gibt es dann auch wieder
       eine größere Nähe zwischen Konsumierenden und Sozialarbeiter:innen, die das
       Helfen erst möglich macht.
       
       Mittelfristig hoffen sie auf die Forschung, auf das Kokainsubstitut, das
       Crackkonsument:innen aus der Suchtspirale holt.
       
       Und langfristig? „Eine legalisierte, staatlich regulierte Abgabe aller
       psychoaktiven Substanzen wäre super“, sagt Eva Gesigora. Wenn
       Konsument:innen nicht mehr stigmatisiert würden, würde das viele ihrer
       Probleme auf einen Schlag lösen. Das Geld, das der Staat durch den Verkauf
       einnähme, wäre in Prävention, Aufklärung und die Bekämpfung von Armut und
       Ausgrenzung gut investiert. Ob sie glaubt, das noch zu erleben? „Ich hoffe
       es.“
       
       4 Dec 2023
       
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 (DIR) [3] https://www.bundesdrogenbeauftragter.de/presse/detail/2022-erneuter-anstieg-bei-zahl-der-drogentoten/
 (DIR) [4] https://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/Broschueren/Suchtmedizinische_Reihe_Drogenabha%CC%88ngigkeit-BFREI.pdf
 (DIR) [5] https://portal.dimdi.de/de/hta/hta_berichte/hta146_bericht_de.pdf
 (DIR) [6] https://www.akdae.de/fileadmin/user_upload/akdae/Arzneimitteltherapie/AVP/Artikel/201702/078.pdf
 (DIR) [7] https://www.opensocietyfoundations.org/uploads/c3319201-5e77-41a6-8c77-8c5f5ec659d0/portugal-report-german-20120315.pdf
 (DIR) [8] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/rausch-und-drogen-2020/321822/internationale-drogenpolitik/
       
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