# taz.de -- Spielfilm über Kindheit in Irland: Wenn Kinderreichtum zu Armut führt
       
       > Mangelnde Liebe und Gleichgültigkeit: Colm Bairéads Spielfilm „The Quiet
       > Girl“ schildert ergreifend eine Kindheit im Irland der achtziger Jahre.
       
 (IMG) Bild: „Sie spricht so viel wie nötig“: Catherine Clinch als Cáit in „The Quiet Girl“
       
       Aus dem Mittelalter stammt der Spruch „A maid should be seen but not
       heard“, der sich generationsübergreifend in kruden Erziehungsvorstellungen
       niederschlug. Die neunjährige Cáit (Catherine Clinch) vermeidet beides: Sie
       versteckt sich gern. Mucksmäuschenstill liegt sie dann unter dem Bett oder
       unter dem Gras, das noch immer kniehoch auf der klassisch-irlandgrünen
       Wiese steht, weil ihr Vater (Michael Patric) das Geld in der Kneipe
       versäuft, mit dem ihre Mutter (Kate Nic Chonaonaigh) eigentlich die
       Erntehelfer bezahlen sollte.
       
       Dass sie nicht viel spricht, ist also nicht verwunderlich. Doch ihr
       Schweigen lässt das dunkelhaarige Mädchen mit den neugierigen Augen zu
       einem Fremdkörper werden, einer Außenseiterin, der auch [1][beim Vorlesen
       in der Schule die] Stimme stockt, und die ihren zickigen Schwestern und der
       Enge des kleinen Hauses nichts entgegensetzen kann.
       
       Es sind aber nicht die sichtbar prekären Verhältnisse im ländlichen Irland
       des Jahres 1981, unter denen die Protagonistin in [2][„The Quiet Girl“
       leidet. Es ist, und das wird bereits in den ersten Szenen von Colm
       Bairéads] Adaption einer Kurzgeschichte von Claire Keegan klar, die
       schmerzhafte und unverständliche seelische Vernachlässigung, der das
       Mädchen ausgesetzt ist. Eine Vernachlässigung, die aus Überforderung und
       Ignoranz rührt: Ihr Vater schaut sie nie an, während er die Wut auf sein
       Leben mit fünf und bald sechs Kindern (Cáits Mutter ist wieder schwanger)
       durch Pferdewetten und dunkles Bier runterzuspülen versucht, ihre Mutter
       hat ohnehin so viel zu tun, dass kein Fünkchen Aufmerksamkeit mehr übrig
       ist.
       
       Nachts hört Cáit ihre Eltern darüber sprechen, sie bis zur Geburt des neuen
       Geschwisterkinds zu einer Cousine der Mutter zu bringen, das etwas ältere
       Paar Eibhlín (Carrie Crowley) und Seán (Andrew Bennett) wohnt drei
       Autostunden entfernt. Und so lädt der Vater Cáit in seinen klapprigen Ford,
       um sie wie eine Last abzugeben, ohne Koffer, und ohne Abschiedsgruß.
       
       ## Auf Augenhöhe mit dem Mädchen
       
       Wie sehr sich die Erfahrungen, die Cáit im Laufe dieses Sommers machen
       wird, von ihrem gewohnten Umfeld unterscheiden, inszeniert Regisseur
       Bairéad bereits beim ersten Treffen mit der neuen Kurzzeit-Pflegemutter.
       Denn nachdem die Erwachsenen um Cáit eigentlich immer nur um die Rumpfmitte
       herum hinter und neben ihr zu sehen waren, hockt die fremde Frau sich zur
       Begrüßung des Kindes hin, um auf Augenhöhe zu sein. Und um das stille
       Mädchen endlich einmal wirklich zu „sehen“.
       
       Es geht viel um Blicke, um Blickwinkel und die doppelte Bedeutung des
       „Sehens“ in Bairéads anrührendem Film, der sein Drama so ruhig und poetisch
       entfaltet wie ein trauriger, irischer Folksong: Wenn Eibhlín mit Cáit zu
       einer nahen Quelle geht, um Wasser zu schöpfen, spiegelt sich das Grün der
       Bäume in der Kelle, beim gemeinsamen Kuhstallputzen mit dem wortkargen Seán
       nähern sich die beiden langsam an.
       
       Das Trauma, das die Sommer-Pflegeeltern mit sich herumtragen und das der
       Grund für die Kinderkleidung in Cáits Zimmer und die mit Autos und
       Eisenbahnen bedruckte Tapete an der Wand ist, kündigt sich ohne viel
       Aufhebens an – und wirkt fast logisch: Die einen jammern darüber, was sie
       zu viel, die anderen vermissen das, was sie verloren haben.
       
       Bairéads Film spiegelt nicht nur die unsensible Art und Weise, in der
       Erwachsene vielerorts bis in die 80er Jahre (und zuweilen bis heute) mit
       den Bedürfnissen ihrer Kinder umgingen, sondern auch das Dilemma der
       hochkatholischen Insel, auf der der Kinderreichtum einerseits von Gott und
       der Gesellschaft verlangt wurde, sich aber andererseits kaum mit der
       materiellen Not vereinbaren ließ.
       
       ## Überforderte Eltern
       
       Die Problematik überforderter Eltern ist universal und zeitlos, die
       [3][eigenwillig-schöne gälische Sprache], die im Film von fast allen
       gesprochen wird, verstärkt die Authentizität und Abgeschiedenheit der
       Handelnden. Und weil die beeindruckende Debütschauspielerin Catherine
       Clinch den unsagbaren Schmerz ihrer Figur mit aller kindlichen Offenheit
       bei gleichzeitig vorgegebener Zurückhaltung spielt, ist das Ergebnis
       ergreifend.
       
       „Sie spricht so viel wie nötig“, verteidigt Seán, für den die Begegnung mit
       Cáit irgendwann ebenso heilsam wird wie für sie, das Mädchen gegenüber
       einer geschwätzigen Nachbarin, die – wie einige andere Nebenfiguren – trotz
       an sich durchgehend überzeugender Darstellung ein wenig zu stereotyp
       ausgedacht ist. Doch kitschig wird der Film nie, noch versteckt er sich vor
       seinem Dilemma: Am Ende kann man Kindern, die nicht unter körperlicher
       Gewalt, sondern unter Gleichgültigkeit und mangelnder Liebe leiden, nicht
       wirklich helfen.
       
       Man kann nur hoffen und wünschen (und, wenn man Ire ist, vermutlich auch
       beten), dass das Mädchen die Resilienz irgendwann in sich oder in seiner
       Umgebung findet. Vielleicht auch in dem abgegriffenen „Heidi“-Roman, durch
       den sie mit Hilfe von Seán ihre Lesekünste verbessert. Er könnte sogar
       dabei helfen, sich an die eigene Stimme zu gewöhnen.
       
       15 Nov 2023
       
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       ## AUTOREN
       
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