# taz.de -- Debatte um Jugendgewalt in Berlin: Das Gefühl reicht nicht
       
       > Jugendliche hätten an Silvester in Kauf genommen dass jemand stirbt,
       > behauptet der Regierende Bürgermeister. Belegen kann er das nicht.
       
 (IMG) Bild: Wer ein Foto oder Video sieht, weiß noch längst nicht alles
       
       Die Aussage Kai Wegners (CDU) ließ aufhorchen. Die Qualität von
       Jugendgewalt habe sich verändert, „man nimmt mittlerweile in Kauf, dass man
       Feuerwehrleute und Polizisten schwer verletzt. Oder mehr: man nimmt es in
       Kauf, dass auch der Tod eines Menschen möglich ist“, sagte der Regierende
       Bürgermeister bei der [1][Pressekonferenz nach dem dritten Gipfel gegen
       Jugendgewalt am Dienstag]. „Das waren Anschläge auf das Leben von
       Rettungskräften“, sagte er zu der vergangenen Silvesternacht. Jugendliche,
       die vor Totschlag nicht zurückschrecken? Das klingt in der Tat schlimm. Und
       nach einem großen Problem.
       
       Doch ein großes Problem liegt hier bei Wegner selbst. Denn der Regierende
       Bürgermeister stützt diese Einschätzung auf seine persönlichen Eindrücke
       und sein Gefühl. Auf Nachfrage, ob denn Gerichtsurteile inzwischen
       untermauert haben, dass Jugendliche an Silvester den Tod von Menschen in
       Kauf genommen hätten, sagte er: „[2][Da brauche ich keine
       Gerichtsverhandlungen. Sondern da haben mir die Bilder und die
       Darstellungen] der Polizistinnen und Polizisten und der Feuerwehrleute
       gereicht.“
       
       Als Regierender Bürgermeister muss er aber mehr parat haben. Fast zehn
       Monate sind vergangen seit den Silvesterkrawallen. Es gab nicht nur den
       Austausch in den drei Jugendgipfeln. Es gab intensive Gespräche mit Trägern
       aus der Jugendarbeit, [3][Erfahrungsberichte aus
       Gewaltpräventionsangeboten] und direkte Kontakte zwischen Jugendlichen und
       Feuerwehrleuten.
       
       Und es gab Gerichtsverhandlungen. Allerdings stand bei keiner dieser
       Verhandlungen bisher im Raum, dass im Rahmen der Silvesterkrawalle ein
       Tatverdächtiger willentlich der Tod von Menschen in Kauf genommen hätte.
       Das ist deshalb so klar, weil bei Verdacht auf versuchten Totschlag der
       Fall vor einem Schwurgericht beim Landgericht angeklagt wird. Die
       bisherigen Fälle wurden aber nach Auskunft des Strafgerichts alle vor dem
       Amtsgericht verhandelt.
       
       ## 11 Täter verurteilt
       
       Das, [4][was in der Silvesternacht passiert ist], war nicht harmlos.
       Insgesamt 150 Verfahren leitete die Staatsanwaltschaft nach eigenen Angaben
       ein. In 41 Verfahren erhob sie Anklage, 15 Fälle sind vor Gericht bisher
       verhandelt worden, 11 Täter wurden verurteilt. 68 Verfahren wurden
       eingestellt, 54 davon allerdings deshalb, weil die Staatsanwaltschaft
       keinen Tatverdächtigen „namhaft machen“ konnte. 8 Verfahren sind noch
       offen.
       
       In drei Fällen wurden die Täter wegen Angriff auf Vollstreckungsbeamte mit
       teils gefährlicher Körperverletzung verurteilt, in zwei Fällen wegen
       gefährlicher Körperverletzung. Außerdem gab es vier Verurteilungen wegen
       Verstoß gegen das Waffengesetz und eine wegen gefährlicher Körperverletzung
       und Verstoß gegen das Sprengstoffgesetz.
       
       Diese Urteile beruhen auch auf den Aussagen der Einsatzkräfte aus der
       Nacht, die Wegner noch so lebendig im Ohr hat. Wegner sollte genau deshalb
       auch diese Urteile heranziehen, um Aussagen über die Qualität der Gewalt zu
       machen. Denn diese einzuordnen und zu bewerten, das muss er schon den
       Richter*innen überlassen.
       
       Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass Wegner aus einem Gefühl heraus
       dramatisiert. In der Debatte um den Görlitzer Park hatte er behauptet, dass
       [5][Dealer dort Minderjährige in die Prostitution treiben würden] – die
       Polizei hatte dazu keine Erkenntnisse.
       
       ## Fußball mit der Feuerwehr
       
       Wegner tut auch den Einsatzkräften keinen Gefallen, wenn er sie mit dem
       Gefühl in die kommende Silvesternacht schickt, dass es da draußen welche
       gibt, die ihnen nach dem Leben trachten. Damit fällt er auch weit hinter
       die bisherigen, beim zweiten Gipfel beschlossenen Maßnahmen zurück:
       Inzwischen haben sich Feuerwehrleute und Jugendliche in den Bezirken zum
       Fußballspiel und Austausch getroffen. Wegner allerdings [6][hat sich
       gedanklich nicht vom Tag eins nach der Silvesternacht hinwegbewegt].
       
       Seine Aussage, dass Jugendliche auch den Tod Anderer in Kauf nähmen, nutzte
       Wegner am Dienstag dazu, um die Notwendigkeit für Repressionen zu
       untermauern. Die Polizei werde an Silvester Recht und Gesetz auf den
       Straßen durchsetzen, kündigte der Regierungschef an. Das klang scharf. Aber
       auch etwas vage.
       
       Wegner unterstrich daneben auch die Bedeutung der Prävention. Hier bezog er
       sich auf die Expertise aus der Jugendhilfe, zitierte Aussagen von
       Fachleuten, legte seine eigenen Erkenntnisgewinne dar. „Ich will, dass
       Berlin [7][ein Chancenlabor] ist für junge Menschen“, sagte er. Kein Kind,
       kein Jugendlicher solle zurückbleiben. Was er zur Prävention sagte, klang
       deutlich informierter und weniger aufgeregt, Wegner wirkte sicherer.
       
       Prävention ist wohl mehr sein Ding. Er sollte den Schwerpunkt darauf legen.
       Und aufhören, mit nicht gedeckten Behauptungen Dringlichkeit für
       Repressionen herbeizureden. Denn die können leicht gerade aufgebautes
       Vertrauen wieder zerstören.
       
       28 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [6] /Integrationsdebatte-nach-Silvester/!5903491
 (DIR) [7] https://youtu.be/aO188556I3g?t=117
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Uta Schleiermacher
       
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