# taz.de -- Sommer an der Krummen Lanke: Die Erotisierung des Körpers
       
       > Fast nackt ist spannender als komplett ausgezogen. Mit der sexuell
       > geladenen Atmosphäre am Strand von Tel Aviv können Berliner Seen nicht
       > mithalten.
       
 (IMG) Bild: Am Strand von Tel Aviv
       
       Im internationalen Vergleich erlebt Berlin einen sehr ruhigen Sommer.
       Während eines Spaziergangs am Ufer der Krummen Lanke im Süden der Stadt
       staune ich über die unvorstellbare Ruhe. Die Leute lesen Bücher,
       unterhalten sich leise, und außerdem – man kann sich dem nicht entziehen –
       sind viele von ihnen nackt. Wenig entfernt von mir tauchen zwei muslimische
       Frauen mit Kopftuch auf. Die beiden tun sich erkennbar schwer damit, ihren
       Platz in dieser [1][entspannten FKK-Umgebung] zu finden.
       
       Meine eigene Situation ist, wie ich feststellen muss, gar nicht so anders,
       komme ich doch aus einem Land, das zwar sehr liberal ist – einerseits –,
       auf der anderen Seite aber auch sehr konservativ. Lässiges Nacktsein ist in
       Israel etwas Seltenes. Bei uns stecken beide Seiten, die sexuell befreiten
       Liberalen wie auch die [2][frommen Radikalen aus ultraorthodoxen Städten
       wie Bnei Berak], tief in einer Art Erotisierung des Körpers. Beide Seiten
       fassen den Körper als sexuell, extrem sexuell, ja fast als ausschließlich
       sexuell auf.
       
       In diesen heißen Sommertagen laufen Frauen in Tel Aviv in supereng
       anliegenden dünnen Strumpfhosen herum. Dabei ist ihnen selbst wie auch
       ihrer Umgebung völlig klar, dass diese spektakuläre Zurschaustellung der
       Schöpfung, ihre Bereitwilligkeit, sich der Welt zu zeigen, an sich schon
       sexuell ist. Oder wenigstens: auch sexuell. Der Sexualität der Körper ist
       hier nicht zu entkommen.
       
       Auch die Frauen in Bnei Berak, die bei dieser Hitze vermummt in formlosen
       langen Röcken und mit Tüchern um den Kopf herumlaufen, fassen den Körper
       und die Körperlichkeit als etwas komplett Sexuelles auf. Daher auch der
       ständige Versuch, sich zu verhüllen und zu verstecken, denn Sexualität ist
       gefährlich, tödlich. Beide Seiten sind geprägt von der konservativen und
       repressiven Haltung des rabbinischen Judentums zur Sexualität.
       
       ## Protest gegen die radikalen Frommen
       
       Die Erotisierung des Körpers ist in weitem Maße eine Rebellion gegen diese
       Haltung, was wiederum unter den radikalen Religiösen zu einer weiteren
       Verhärtung des rabbinischen Konservativismus führt. Zwar gibt es in Israel
       den durchaus [3][verbreiteten Trend zurück zur Natur und New Age]. Diese
       Kreise zielen in gewisser Weise darauf ab, den Körper zu entsexualisieren,
       allerdings ohne großen Erfolg. Ihr gesamtgesellschaftlicher Einfluss ist
       überschaubar. Der israelische Körper bleibt sexuell, der auf ihn gerichtete
       Blick umrahmt ihn als sexuell, und er reagiert sexuell.
       
       Am Strand von [4][Tel Aviv laufen Frauen im Tanga] herum. Sie sind beinahe
       nackt. Aber diese Fast-Nacktheit ist sexuell. Und das Ausziehen ein
       erotischer Akt. In Deutschland aber wird die Nacktheit erstaunlicherweise
       zu etwas Alltäglichem. Der Körper wird seiner Sexualität entledigt und zu
       etwas Sachlichem, etwas Funktionalem. Hier bedarf es keinerlei Esoterik, um
       sich von der Erotisierung des Körpers zu befreien.
       
       Es scheint, als sei das alles keine große Sache. [5][Michel Foucault]
       argumentierte, dass der Körper und das Geschlecht an sich nicht interessant
       seien. Interessant werde beides erst durch den Diskurs, der in der
       westlichen Kultur darüber geführt wird, der Diskurs, der Körper und
       Geschlecht zu etwas Geheimem macht, zu etwas, das um jeden Preis verborgen
       bleiben muss.
       
       Nur hat es den Anschein, dass die Leute in Deutschland gleichzeitig mit der
       Kleidung auch den Diskurs abgelegt haben. Als hätten Hunderte Jahre
       Protestantismus den Körper von sexuellen Konnotationen abgekoppelt und ihn
       so völlig befreit. Der Körper weckt keinerlei Faszination mehr. Sigmund
       Freud und Michel Foucault haben an der Krummen Lanke nichts mehr zu suchen.
       
       Aus dem Hebräischen von Susanne Knaul
       
       2 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Streit-um-Oben-Ohne-Baden-in-Berlin/!5869372
 (DIR) [2] https://www.haaretz.com/israel-news/2023-08-24/ty-article/.premium/womens-protest-march-begins-through-ultra-orthodox-bnei-brak/0000018a-27cc-da97-a7cb-67fe9f190000?lts=1693572129488
 (DIR) [3] https://www.haaretz.com/life/2021-10-31/ty-article-magazine/.highlight/i-went-to-cover-spencer-tunicks-nude-shoot-at-the-dead-sea-and-ended-up-naked/0000017f-e36b-d75c-a7ff-ffef2db40000
 (DIR) [4] https://www.haaretz.co.il/magazine/2023-08-30/ty-article-magazine/.highlight/0000018a-45c1-dfe7-abef-e7f5cc8e0000
 (DIR) [5] /Zum-30-Todestag-von-Michel-Foucault/!5039258
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hagai Dagan
       
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