# taz.de -- Aggression im öffentlichen Raum: Wutbürger am Fenster
       
       > Rausgelassene Aggressionen können auch für Außenstehende beunruhigend
       > sein. Unsere Kolumnistin sucht bislang erfolglos nach Wegen, damit
       > umzugehen.
       
 (IMG) Bild: Wirklich nur in absoluten Ausnahmefällen süß: öffentliches Gebrüll
       
       Am Samstag war draußen Geschrei. Aus dem Fenster sah ich auf einen großen
       und kräftigen Mann, der vier Leute anschrie. Die vier Leute, wie ich dem
       Geschrei nach einer Weile entnehmen konnte, gehörten zu den Zeugen Jehovas.
       Ich hätte es auch gleich erkennen können, anhand ihrer Kleidung. Ich weiß
       nicht, ob die Zeugen Jehovas ihre eigenen Läden haben, denn so sehen sie
       aus, als ob sie alle im gleichen Laden einkaufen.
       
       Alles an ihnen ist gebügelt, nie habe ich einen Zeugen Jehova an meiner Tür
       gesehen, der irgendwie verlottert oder auch nur lässig gekleidet war, weder
       sah ich einen in Sneaker noch mit Basecap. Es muss dieser zeitlose,
       modefreie Kleidungsstil [1][für ihre Religion] sehr wichtig sein. Ich habe
       nicht viel übrig für die Zeugen Jehovas, aber ich würde sie deshalb nicht
       anschreien, wenn sie an meiner Tür klingeln, sie schreien mich ja auch
       nicht an.
       
       Der Mann, der diese vier Zeugen Jehovas anschrie, trug ein T-Shirt und
       führte ein Fahrrad mit sich, aber irgendwann wurde er so wütend, dass er
       das Fahrrad auf die Straße warf und sich ihnen brüllend näherte. Seinem
       Geschrei konnte ich entnehmen, dass es ihm nicht gefiel, dass sie an den
       Türen klingelten.
       
       ## Er brüllte immer lauter
       
       Möglicherweise rechtfertigten sie sich, aber ich konnte sie einfach nicht
       hören, sie sprachen sehr leise und zeigten keinerlei Regung, weder in ihren
       Gesichtern, noch mit ihren Gesten, wie sehr der Mann auch brüllte, und er
       brüllte immer lauter.
       
       Dann bekam ich einen Anruf und dann ging ich duschen. Als ich an das
       Fenster zurückkehrte, brüllte der Mann immer noch, aber nicht mehr vor
       meinem Fenster, sondern in der Nachbarstraße, wo ich ihn nicht mehr sehen
       konnte. Die Zeugen Jehovas sah ich just alle vier auf dem Bürgersteig davon
       eilen. Der Mann brüllte in der Nachbarstraße, wo ich ihn nicht sehen
       konnte, anscheinend nun jemand anderes an. Eine Frau kam in meinen
       Sichtbereich, sie telefonierte mit der Polizei, ich war erleichtert.
       
       Ich weiß in solchen Situationen, wenn zum Beispiel jemand, den ich nicht
       sehen kann, jemanden anbrüllt, den ich auch nicht sehen kann, nicht, was
       ich tun soll, ich kann die Lage einfach nicht einschätzen und bin froh,
       wenn jemand anderes es kann und handelt.
       
       ## Wut macht krank
       
       Der Mann tauchte wieder auf, der Hass kam wie eine Fontäne aus seinem Mund,
       so ein Hass!, ich konnte mir gut vorstellen, dass er Lust hatte, jemanden
       umzubringen. Aber dann ging er weg und die Polizei kam und sprach mit zwei
       Frauen und drei Kindern, die von irgendwoher angelaufen gekommen waren.
       
       Am Abend las ich auf Instagram, dass es gesünder sei, Ärger so schnell wie
       möglich zu vergessen, denn er könnte einen krank machen, Krebs könnte man
       davon kriegen. Ich konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, ob ich also
       in solchen Fällen meine negativen Gefühle von mir wegschieben soll? Aber
       ist es denn nicht richtig, über solche Sachen wütend zu werden? Über
       Ungerechtigkeiten, Gemeinheit, Gewalt? Ich komme mit dieser Frage einfach
       nicht zu Rande.
       
       In Bremen hat jetzt bei der Bürgerschaftswahl eine Partei [2][zehn Prozent
       der Stimmen] bekommen, die sich Bürger in Wut nennt. Ich frage mich, ob der
       Mann mit dem Fahrrad ein solcher Bürger in Wut ist oder sein könnte und ob,
       wenn nun diese Wutbürger mehr werden – und es kommt mir wirklich so vor –,
       ich als Antwort darauf und im Interesse meiner Gesundheit lernen soll,
       meine eigene Wut zu vergessen. Und ob mir das hilft und ob uns das allen
       hilft. Und eigentlich frage ich mich, wie ich mit meiner Hilflosigkeit
       umgehen soll.
       
       21 May 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katrin Seddig
       
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