# taz.de -- Ausstellung von Marc Camille Chaimowicz: Sehr real, doch künstlich entrückt
       
       > Im Brüsseler Ausstellungshaus WIELS darf die Kunst in einem schön
       > nostalgischen Rundgang von Marc Camille Chaimowicz einfach nur Kunst
       > sein.
       
 (IMG) Bild: Marc Camille Chaimowicz, „Nuit américaine“, Installationsansicht im WIELS, Brüssel, 2023
       
       Ausstellungen, die das Künstliche, Kultivierte, die Andersartigkeit von
       Kunst gegenüber dem Alltäglichen hervorheben, sind derzeit nicht gerade in
       Mode. Auf den aktuellen Biennalen oder im Berliner Ausstellungsbetrieb
       favorisiert man lieber eine Kunst, die ihre Rolle im aktivistischen
       Gebrauchswert sieht, eine „Systemrelevanz“ sicherstellt.
       
       Doch selbst die bestgemeinte Kunst kann nicht die Welt retten. Wie denn?
       Und auch die aktivistischste künstlerische Praxis bleibt auf Formen der
       Veranschaulichung angewiesen. Auch sie muss aushandeln und symbolisieren,
       um einen Daseinsgrund und vielleicht ein bisschen Aufmerksamkeit zu
       generieren.
       
       In Brüssel, im Kunsthaus WIELS, hat [1][Marc Camille Chaimowicz] mit „Nuit
       américaine“ nun eine Ausstellung eingerichtet, die in Sachen künstlerischer
       Künstlichkeit geradezu provokant daran erinnert, wie schön anders eine
       Kunst sein kann, wenn sie auf sich selbst hält, ohne „große“ Kunst sein zu
       müssen.
       
       Über drei Räume und mit vergleichsweise einfachen Mitteln entfaltet
       Chaimowicz, 1947 im Paris der Nachkriegszeit geboren und später nach London
       übergesiedelt, einen hochsubjektiven Rundgang. Dieser lässt sich auch als
       Lehrstück verstehen, wozu Kunst einerseits in der Lage ist und was sie
       andererseits nicht können muss.
       
       Als choreografiertes Ambiente eröffnet die Installation „Celebration?
       Realife“. Sie ist das aus allerhand trivial-mysteriösen Fund- und
       Flohmarktstücken, Büchern, Bildern und Zeitungsausrissen, Lämpchen und
       Bühnenscheinwerfern, langsam verblühenden Blumensträußen, Konfetti und
       Diskokugeln lose zusammengestellte, von Duft, Licht, Musik und Erinnerungen
       durchzogene Entrée zur Brüsseler Schau.
       
       ## Musterbeispiel queerer Ästhetik
       
       1972, auf dem Höhepunkt der betont rationalen Conceptual Art, wurde das
       Ensemble erstmals im Glam-Rock-begeisterten London präsentiert.
       Mittlerweile ist es ein Musterbeispiel queerer Ästhetik, Chaimowicz brachte
       es dann 2000 zu seiner aktuell aufgeführten Form. Die silbern gestrichenen
       Wände erinnern an Warhols berühmte Factory, aber auch daran, dass ein
       bisschen Chic im Partykeller selbst unter widrigen Umständen leicht zu
       haben ist. Nostalgie ist hier eh schwer zu vermeiden.
       
       Halb Bühne, halb offen gelegte Lebens- und Arbeitssituation ist „The Hayes
       Court Sitting Room“ (1979–2023) eine Art Reliquie. In diesem Raum mit
       handgemachten Tapeten, dem sorgsam ausgewählten, teils selbst entworfenen
       Mobiliar, den Büchern und Bildern, dem Tisch mit Alkoholika hat der
       Künstler jahrzehntelang gelebt.
       
       Jetzt ist dieses Environment in vier Teile zerschnitten, die Wände wie ein
       Filmset aufgefächert, die abgenutzten Requisiten dabei fast aufdringlich
       real exponiert und dennoch künstlich entrückt. Wie bei echten Reliquien
       auch bleibt Nicht-Eingeweihten unklar, wo ihr Nutzen, wo ihr Wert liegt –
       was ihre Aura nicht schmälern muss.
       
       Zuletzt zeigt Chaimowicz eine Art Briefroman, eine während der Pandemie am
       Küchentisch entstandene Collage. Adressiert an die Kuratorin der Brüsseler
       Schau, Zoë Gray, identifiziert sich Chaimowicz in „Dear Zoë“ (2020–2023)
       mit [2][Gustave Flauberts] Romanfigur Emma, die berühmte Madame Bovary.
       Flaubert ließ seine Heldin in Bücher flüchten und die angelesene, fiktive
       Welt bis zur bitteren Tragödie nachleben.
       
       Und da genau verläuft jene Grenze, die zwischen der Wirklichkeit der Kunst
       und all den anderen Realitäten vermittelt. Dank der Kunst aber lässt sich
       auch ein Gespür dafür entwickeln, auf welcher Seite man selber gerade ist.
       
       28 Apr 2023
       
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