# taz.de -- Kurzfilm „Der Tote im Livestream“: Holger Meins’ Spukbild
       
       > Das Foto des toten Holger Meins hat die Kunstwelt inspiriert. Christian
       > Bau nimmt das zum Anlass für einen diskussionswürdigen Film.
       
 (IMG) Bild: Gespenstisch: In der Auktion durchbricht das Foto des Aufgebahrten die Übermalung
       
       Bei einer Kunstauktion, also auf einem Altar des hoch kapitalistischen
       Systems, erscheint das berühmte Bild vom toten Holger Meins, eine der
       Ikonen des antikapitalistischen Kampfes in den 1970er-Jahren. Warum, bleibt
       rätselhaft: Ist es ein Versehen, ein subversiver Akt à la Banksy, ein
       perfider Marketingtrick oder eine paranormale Erscheinung?
       
       Der Hamburger Filmemacher Christian Bau weiß selbst keine Antwort auf diese
       Frage, die sich bei seinem Kurzfilm „Der Tote im Livestream“ aufdrängt.
       Aber weil das Geheimnis nicht gelüftet wird und weil hier so viele
       philosophische, filmästhetische, politische und esoterische Aspekte
       angerissen werden, kann man über diesen nur achtminütigen Film stundenlang
       diskutieren.
       
       Christian Bau zeigt darin Aufnahmen vom Livestream einer Kunstauktion im
       Jahr 2012, die er damals von einem Bildschirm abgefilmt hatte. Versteigert
       wurde das Bild „Abstraktes Bild (H.M.)“ von [1][Gerhard Richter], und es
       wurde schließlich für 390.400 Euro verkauft.
       
       Das Gemälde ist einfarbig weiß mit den grauen Schlieren der Pinselstriche.
       Seine Bedeutung erhält es aber durch das, was man nicht mehr sieht, weil
       Richter es übermalt hat: das ikonografische Foto des aufgebahrten
       Filmemachers und [2][RAF]-Terroristen Holger Meins. Er war 33-jährig am 9.
       November 1974 in der Justizvollzugsanstalt Wittlich an den Folgen eines
       Hungerstreiks in der Haft gestorben. Aber dort, wo bei der
       Online-Versteigerung sonst das Kaufobjekt, also das angebotene Kunstwerk
       gezeigt wird, ist hier das Originalfoto zu sehen. Man hört bei der Aufnahme
       einen kurzen Ausruf des Erstaunens von Christian Bau, doch ansonsten geht
       die Auktion ihren Gang, als wäre nichts Ungewöhnliches passiert.
       
       Warum diese rätselhafte Erscheinung Christian Bau so erschütterte, er
       selbst sagt in einem Telefoninterview sogar „empörte“, erklärt sich durch
       seine eigene Biografie. Und in diesem Sinne ist „Der Tote im Livestream“
       auch ein autobiografischer Film. Bau studierte zwischen 1965 und 1969 an
       der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Einer seiner
       [3][Mitstudenten] in der Klasse für experimentellen Film war Meins. Die
       beiden drehten gemeinsam ihren ersten Kurzfilm „Anfangszeiten“ und wurden
       Freunde.
       
       Als Meins dann an die [4][Filmakademie in Berlin] ging und sich bald darauf
       politisch radikalisierte, verloren sich die beiden aus den Augen. Doch Bau,
       der sich als ein origineller Dokumentarfilmer einen Namen machte und das
       Hamburger Filmproduktionskollektiv „Die Thede“ gründete, wollte immer auch
       einen Film über Holger Meins und den „deutschen Herbst“ machen. Eine
       längere Dokumentation zum Gemäldezyklus „Stammheim“ von Gerhard Richter kam
       nicht zustande, weil ein Briefwechsel darüber mit dem Künstler
       „unerfreulich“ – so Bau selbst – verlief. „Der Tote im Livestream“ ist nun
       ein späterer Nachhall dieses gescheiterten Projekts.
       
       Der Film stellt Fragen darüber, wie das Foto des toten [5][Holger Meins]
       inzwischen gesehen wird, wie es in Richters Werk gerade durch seine
       Übermalung präsent bleibt und wie auf dem Kunstmarkt alles zur Ware wird.
       Vor dem vom Bildschirm abgefilmten Livestream zeigt Bau Texttafeln, auf
       denen er von seinem persönlichem Bezug zu diesem Thema erzählt.
       
       Dazwischen ist eine Handvoll Fotos montiert, auf denen man etwa den jungen
       Holger Meins als Filmstudenten hinter einer Super-8-Kamera und eine Szene
       von seiner Beerdigung sieht, aber auch ein Luis-Buñuel-Zitat mit Baus
       eigener Hand, in deren Teller zwei Ameisen zu sehen sind. Für Bau ist
       dieses auch eine Anspielung auf das Ringelnatz-Gedicht von den beiden
       Ameisen, denen in „Altona auf der Chaussee … die Beine weh“ taten, aber das
       muss man wohl vorher wissen, um es zu sehen.
       
       Und dies ist dann auch das Hauptproblem dieses Films: Wer die verschiedenen
       Kontexte nicht kennt, kann ihn kaum entschlüsseln. Seine Komplexität und
       deren gelungene Verdichtung erschließen sich nur einem Publikum, das sich
       gut in jüngerer deutscher Geschichte, der bildenden sowie der Filmkunst
       auskennt und zudem etwas von den Mechanismen des Kunstmarktes ahnt. Bau
       spricht selbstkritisch davon, dass sein Film vielleicht zu „hermetisch“
       sei. Und er war immer ein wenig enttäuscht, wenn der Film im vergangenen
       Jahr auf Festivals gezeigt wurde, weil die zwangsläufig kurzen
       Filmgespräche danach immer an der Oberfläche blieben.
       
       Deshalb wird er am 20. Februrar im Hamburger Metropolis-Kino wohl erstmals
       in einem würdigen Rahmen präsentiert. Nachdem er dort um 19.30 Uhr in
       seiner gesamten Länge von 8 Minuten gezeigt wird, gibt es eine Diskussion
       über ihn, die vom Philosophen Thomas Seibert moderiert wird und an der
       Christian Bau, das ehemalige RAF-Mitglied [6][Karl-Heinz Dellwo], die
       Kulturwissenschaftlerin Katja Diefenbach, die Professorin für zeitbezogene
       Medien, Michaela Melián, und der an parapsychologischen Themen
       interessierte Künstler Romeo Grünfelder teilnehmen.
       
       Dass jede(r) einen Film anders sieht als alle anderen, ist ja ein oft
       verwendeter Gemeinplatz, aber wie diese Menschen „Der Tote im Livestream“
       sehen, dürfte das eigentliche Ereignis des Abend werden. Denn dies ist ein
       Film, bei dem das Reden danach mindestens so viel Spaß macht wie das
       Anschauen selbst.
       
       20 Feb 2023
       
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