# taz.de -- Erdbeben in der Türkei und in Syrien: Die Seelen sind erschüttert
       
       > Fast zwei Wochen nach dem Erdbeben in Syrien und der Türkei harren die
       > Überlebenden in Zeltstädten aus. Sie brauchen auch psychologische Hilfe.
       
 (IMG) Bild: Kinder spielen in Kilis Brennball
       
       Auf dem Sportplatz spielen Kinder Brennball. Betul Abras steht am Rand und
       deutet auf ein Mädchen mit dunkelblauem Kopftuch. „Sie war nach dem
       Erdbeben unter den Trümmern eingeschlossen“, erzählt Abras, eine
       Psychologin. Durch ein eingestürztes Haus krabbelnd habe die 13-Jährige
       ihre beiden Schwestern befreien können, die unter einer umgefallenen Tür
       eingeklemmt lagen. Bei ihrem 7 Jahre alten Bruder habe das Mädchen gesehen,
       wie ihm Blut aus dem Mund lief. Später stellt sich heraus, dass der Junge
       gestorben war. „Dieses Kind wird diese Bilder nie vergessen“, sagt Betul
       Abras. Wir befinden uns in der türkischen Stadt Kilis.
       
       Mehr als 40.000 Menschen sind durch die beiden Erdbeben im
       türkisch-syrischen Grenzgebiet ums Leben gekommen, ungezählte mehr wurden
       verletzt. Dazu kommen viele Wunden, die nicht auf den ersten Blick zu sehen
       sind: Hunderttausende Menschen sind seit den Beben am 6. Februar
       traumatisiert, darunter auch viele Kinder.
       
       „Du bist raus“, ruft ein Junge beim Brennball einer Frau zu, die eine rote
       Weste trägt. „Ich habe dich getroffen.“ Die Frau arbeitet für das türkische
       Familienministerium und hat mit drei Kolleginnen das Spiel auf dem
       Sportplatz in Kilis organisiert. Sie sind als psychosoziale Ersthelferinnen
       im Einsatz und kümmern sich vor allem um die Kinder in den zahlreichen
       Erdbeben-Nothilfe-Camps in der südtürkischen Stadt. Kilis hat etwa 120.000
       Einwohner*innen, der Ort und die gleichnamige Provinz waren auch von dem
       Erdbeben betroffen, doch sind weitaus weniger schwer beschädigt als [1][die
       Provinzen Hatay], Kahramanmaraş oder Adıyaman. Zerstörte Häuser sind kaum
       zu sehen, dennoch leben hier viele Menschen in Camps, die von der
       türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD errichtet wurden.
       
       ## Der Stabilität der Häuser traut kaum noch jemand
       
       Aus Angst vor möglichen Nachbeben kehren viele Bewohner*innen von Kilis
       nicht in ihre Häuser zurück. Zu präsent ist die Erinnerung an das Beben von
       vor zwei Wochen, das für fast zwei Minuten die Erde erschütterte und in
       einem Gebiet, das halb so groß wie Deutschland ist, Menschen unter Schutt
       begrub.
       
       Was in der gesamten Erdbebenregion jetzt am meisten gebraucht werde, seien
       warme Unterkünfte, Medizin, Essen und Wasser für die Betroffenen, sagt die
       34-jährige Betul Abras. „Das Zweite, was dringend benötigt wird, sind
       Angebote für eine psychologische Unterstützung.“ Abras arbeitet in Kilis
       für die Malteser.
       
       Die Malteser sind schon seit mehr als zehn Jahren in der Südtürkei tätig,
       mit 18 Leuten in zwei Büros, eines in Gaziantep, eines in Kilis. Von hier
       aus haben sie [2][in den vergangenen Jahren Hilfsaktionen für Syrien
       organisiert], sie arbeiten mit vier Partnerorganisationen zusammen, die
       dort etwa Krankenhäuser betreiben. Jetzt haben die Malteser die Zahl ihrer
       Mitarbeiter*innen in der Südtürkei aufgestockt, um Hilfe für die in
       vom Beben betroffenen Gebiete zu organisieren. Auch die Hilfslieferungen
       nach Syrien sollen ausgebaut werden. Dafür hat die Organisation fünf
       Lastwagen von Deutschland aus auf den Weg gebracht, sie sind beladen mit
       Medikamenten, Heizgeräten, Decken und Zelten.
       
       Viele der Kinder, die in dem Lager im Kiliser Sportkomplex herumrennen,
       sprechen Arabisch. Sie [3][stammen aus dem benachbarten Syrien] und leben
       seit Beginn des dortigen Krieges mit ihren Familien in der Türkei. Wie
       tausende andere haben auch sie durch das Beben ihre Häuser verloren, nur
       dürfte ihre Lage jetzt doppelt schwer sein: Viele Syrer*innen arbeiten
       in der Türkei als Tagelöhner*innen und haben außerdem keine türkische
       Staatsbürgerschaft. Ihr Auskommen in den nächsten Monaten ist höchst
       ungewiss.
       
       „Hol deine Freunde und komm spielen“, sagt eine Mitarbeiterin des
       türkischen Familienministeriums zu Betul Abras' Nichte. Auch Abras haust
       derzeit mit ihrer Familie in dem Erdbeben-Camp im Sportkomplex von Kilis.
       Die türkische Katastrophenschutzbehörde [4][prüft derzeit Wohnhäuser auf
       mögliche Risse und andere Schäden], die durch das Beben entstanden sein
       könnten. Bis diese Kontrolle erfolgt ist, möchten auch Betul Abras und ihre
       Angehörigen noch nicht zurück in ihre Häuser.
       
       Etliche Menschen im Camp sind aus Maraş und anderen vom Erdbeben
       betroffenen Städten in das weniger beschädigte Kilis geflüchtet und wohnen
       jetzt hier im Sportkomplex, der Platz für etwa 2.500 Menschen bieten soll.
       Auch das Mädchen, das seine beiden unter der Tür eingeklemmten Schwestern
       befreien konnte, lebte in Maraş – mit seiner syrischstämmigen Familie in
       einem mehrstöckigen Haus, das beim Erdbeben einstürzte. Erst acht Stunden,
       nachdem die 13-Jährige ihre beiden Geschwister befreien konnte, drangen
       Helfer zu ihnen durch und beförderten sie nach draußen. Vater, Mutter,
       Großeltern, Tante und drei Cousins überlebten. Der kleine Bruder des
       Mädchens und zwei ihrer Cousins nicht.
       
       Beschäftigungen wie Spielen oder Malen seien dringend benötigte Ablenkungen
       für die Kinder, sagt Psychologin Abras. Sie habe für die Kleinen Buntstifte
       und Papier geholt, aus den Beständen ihrer eigenen Familie, und alle Kinder
       seien gleich ins Malen versunken. Mit solchen Tätigkeiten könnten sie
       beginnen, das gerade erst Erlebte zu verarbeiten. In der Traumabewältigung
       für Erwachsene gehe es eher darum, mit Panikattacken zurecht zu kommen.
       Dafür seien Gespräche wichtig, aber auch Atemübungen oder Momente der Ruhe.
       „Viele Erwachsene hier haben noch kein einziges Mal geweint, um gegenüber
       ihren Kindern stark zu sein“, sagt Abras. Andere aber könnten irgendwann
       nicht mehr an sich halten, dann breche es aus ihnen heraus.
       
       In Iskendurun, einer Stadt in der vom Erdbeben besonders schwer getroffenen
       Provinz Hatay, ist die komplette Gesundheitsversorgung zusammengebrochen.
       Das Krankenhaus in dem Ort mit einst 250.000 Einwohner*innen hielt den
       Erschütterungen nicht stand. Etwa hundert Menschen starben in seinen
       Trümmern, nur drei konnten lebend gerettet werden. Nun arbeiten die Ärzte
       in Iskendurun bis auf Weiteres in Zelten, die an der Krankenhausruine
       aufgebaut wurden. Allerdings gibt es nur eine Notaufnahme, die auch bloß
       eingeschränkt funktionieren soll.
       
       Am südlichen Stadtrand von Iskendurun am Messegelände steht eine weitere
       große Zeltlandschaft auf einem Schotter-Platz. Hier hat die spanische
       Agentur für internationale Entwicklungszusammenarbeit (AECID) ein
       Feldkrankenhaus eingerichtet. „Die Krankenhäuser in Iskendurun verfügten
       über Kapazitäten für 1.000 Betten. Jetzt haben sie gar keine mehr“, sagt
       Roberto Arranz, der örtliche Leiter. In den rund 30 Zelten, die die Spanier
       aufgebaut haben, befinden sich ein Operationssaal, eine Orthopädie, eine
       Gynäkologie – und eine psychiatrische Einheit. Eine Psychiater und eine
       Psychologin kümmern sich hier um die seelische Gesundheit der Menschen.
       
       „Noch während wir hier am vergangenen Freitag aufgebaut haben, ist das Team
       in das benachbarte Camp gegangen und hat Gruppentherapie-Runden für die vom
       Erdbeben betroffenen Menschen angeboten“, sagt Arranz. Zwischen 500 und
       1.000 Menschen haben in dem Expo-Areal von Iskendurun nun eine vorläufige
       Unterkunft gefunden.
       
       Am Mittwochmittag herrscht im benachbarten improvisierten Feldkrankenhaus
       wenig Betrieb. „Gestern Abend hat eine Frau bei uns ein Kind auf die Welt
       gebracht“, erzählt Arranz. Ein Mann verlässt das Gelände mit verbundenem
       Auge, eine Schwangere betritt das Gelände, untergehakt bei einem Mann. Bis
       zu 24 Menschen können stationär im Feldkrankenhaus aufgenommen werden. Fast
       zwei Wochen nach dem Beben sähen die Ärzte vereinzelt noch infizierte
       Wunden, sagt Arranz. Eher gehe es inzwischen aber um die klassische
       Gesundheitsversorgung, die Behandlung von Atemwegserkrankungen und
       Ähnlichem. „Heute Abend erwarten wir eine Lieferung von Spielen. Wir
       arbeiten hier mit vielen Kindern, die nicht nur körperlich versorgt,
       sondern auch psychisch betreut werden müssen.“
       
       An allen möglichen Orten im Süden und Osten der Türkei haben Menschen mit
       dem Beben ihr Zuhause verloren. Jetzt schlafen Hunderttausende, wo immer es
       gerade geht, in Turnhallen, Schulen oder in Zeltstädten, die auf
       öffentlichen Plätzen errichtet wurden. Um die Menschen in den organisierten
       Camps kümmern sich türkische Organisationen: der Türkische Rote Halbmond,
       das Familienministerium sowie der Katastrophenschutz AFAD. Die Versorgung
       mit Essen scheint vielerorts gewährleistet, auch sanitäre Einrichtungen und
       Gelegenheiten zum Aufwärmen gibt es in den Camps.
       
       ## Fast alles mus neu aufgebaut werden
       
       Die Aufgabe, [5][die dem Land in den kommenden Monaten bevorsteht,
       erscheint monströs]: In fast allen Lebensbereichen müssen die Strukturen in
       den Erdbebengebieten wieder neu eingerichtet werden, neben Krankenhäusern
       auch Schulen und die öffentliche Verwaltung.
       
       In einigen Städten in der Türkei tragen Bauarbeiter die Erdbebenruinen
       bereits ab. Neben dem, was mal Wohnhäuser waren, stehen während der
       Aufräumarbeiten Leichenwägen Seite an Seite neben Krankenwägen. Die Bagger
       wühlen sich nur langsam durch die riesigen Berge aus Beton und Stahl. Such-
       und Rettungsteams stehen weiterhin in direkter Nähe und achten darauf, ob
       doch noch Stimmen aus den Trümmerhaufen zu hören sind. Noch 227 Stunden
       nach dem Beben konnten am Mittwoch in der Stadt Antakya eine Frau und ihre
       beiden Kinder lebend aus den Trümmern geborgen werden. Alle sprechen von
       einem Wunder. Und die türkischen Fernsehkanäle schalten immer noch fast
       durchgehend live zu den Bergungsarbeiten in Städten wie Adıyaman und Hatay.
       
       In der Stadt Kırıkhan sind die Aufräumarbeiten an vielen Stellen schon
       vorangeschritten. Fast 120.000 Menschen lebten hier vor dem Beben, jetzt
       sind einzelne Gebäudereste schon komplett abgetragen, der Schutt ist
       sortiert, zerstörte Autos sind an einer Straßenecke aufeinandergestapelt.
       Die Stadt in der Provinz Hatay ist einer der Orte, bei dem es aktuell
       beinahe unvorstellbar erscheint, wann und wie hier Menschen wieder normal
       leben können. Fast jedes Gebäude ist entweder eingestürzt oder schwer
       beschädigt und deshalb unbewohnbar.
       
       In Iskenderun sei zu hoffen, dass die Gesundheitsversorgung in etwa einem
       Monat wieder laufe wie zuvor, sagt der spanische Helfer Roberto Arranz.
       Voller Bedenken äußert sich dagegen die Malteser-Mitarbeiterin Betul Abras
       in Kilis: „Viele Menschen hier haben keine Ahnung, wo sie hingehen sollen.“
       
       Immerhin, für einige hundert steht eine leichte Verbesserung ihrer Lage in
       Aussicht: Die Behörden begannen Mitte der Woche mit der Räumung eines
       Camps, das der Katastrophenschutz auf dem zentralen Platz von Kilis,
       zwischen Stadtverwaltung und Gouverneurssitz, aufgebaut hatte. Menschen,
       die hier in zwanzig großen Zelten untergekommen waren, weil sie ihr Haus
       verloren haben oder das Gebäude nicht mehr sicher ist, sollen in die
       Containersiedlung Elbeyli gebracht werden. Die Siedlung südöstlich der
       Stadt ist nach dem Syrien-Krieg für Geflüchtete entstanden. Bislang lebten
       hier rund 7.000 Menschen. Nun dürften es noch deutlich mehr werden.
       
       18 Feb 2023
       
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