# taz.de -- Über die beruhigende Wirkung von Respekt: Der Schwadroneur im Speisewagen
       
       > Manche Menschen suchen unaufhörlich nach Austausch. Das kann nerven. Es
       > kann aber auch der Beginn einer Verwandlung sein.
       
 (IMG) Bild: Mitunter ein Ort für Mitteilungsbedürftige: Speisewagen der Deutschen Bahn
       
       Ein Speisewagen im Schweizer Zug. Ich sitze an einem Tisch mit weißer Decke
       und beschließe, diesen Platz nicht mehr zu verlassen bis Hamburg. Es ist
       schön hier, der Abendhimmel draußen färbt sich rot-blau. Im Abteil ist es
       still und behaglich. Ich habe ein gutes Buch vor mir.
       
       Auch die Menschen um mich sind versunken. Ein Soldat schaut aus dem
       Fenster, das Gesicht in die Hand gestützt. Ein Mann trinkt langsam ein
       Bier, eine junge Frau liest in ihrem Handy. Es ist ein verbundenes
       Für-sich-Sein mit anderen.
       
       Als der Zug hält, steigt ein älterer, etwas ungepflegt wirkender Mann mit
       Gipsbein ein. Der Gips ist weiß, dick und so prägnant wie ein Gipsbein in
       einem [1][Comic]. Die Atmosphäre verändert sich. Der Mann bestellt ein
       Bier, wirft eine Zeitung auf einen Tisch und verteilt seine Sachen
       weitläufig. Er besetzt den Platz.
       
       Als der Kellner ihm das Bier bringt, ruft der Mann laut: „Aber das ist ja
       ein [2][Dosenbier]! Dosenbier trinke ich nicht. Auf keinen Fall!“ „Ich habe
       es jetzt schon geöffnet“, sagt der Kellner verlegen. Der Mann beachtet ihn
       nicht, er redet weiter darüber, was er an Dosenbier nicht mag. Der Kellner
       räumt das Bier wieder ab, der Mann redet so laut weiter, als wäre es unsere
       Pflicht, ihm zuzuhören. Die junge Frau vor mir dreht sich tatsächlich zu
       ihm um. Sofort verwickelt er sie in ein Gespräch. Die beiden reden nun laut
       über den Gang hinweg über Bier. Ich setze mir Kopfhörer auf und höre
       [3][Musik], doch die Stimmen dringen zu mir durch.
       
       Ich beobachte die junge Frau, die mit dem lauten Mann spricht: Hat sie
       wirklich Interesse an einem Gespräch mit ihm oder antwortet sie nur aus
       Höflichkeit?
       
       „Entschuldigen Sie, ich würde eigentlich gerne lesen“, sage ich nach einer
       Weile. „Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren.“
       
       „Okay. Darf ich mich direkt zu Ihnen setzen?“, fragt der Mann die Frau.
       „Dann sind wir leiser.“ „Ja, klar“, sagt sie. Der Mann lässt sich bei der
       Frau am Tisch nieder. Ich überlege, was sie davon hält, dass sie nun
       indirekt meinetwegen mit ihm zusammensitzt. Doch sie lacht fröhlich: „Ich
       bin Kim“, sagt sie. Der Mann stellt sich auch undeutlich vor.
       
       Die beiden reden weiter, er erzählt viel, macht Witze, sie lacht. Dann
       erzählt die Frau von ihrem Koffer, mit dem sie Probleme hatte und plötzlich
       verändert sich der Mann. Im Gespräch mit der Frau passiert etwas. Er wird
       ruhiger, fragt nach. Die beiden unterhalten sich nun tiefgehender. Der Mann
       erzählt von seinem Sohn, von einem Bauernhof. Und er hört ihr zu. Ich
       spüre, wie ihre Verbundenheit wächst.
       
       Plötzlich frage ich mich, warum ich eigentlich nur lese, warum ich dem Mann
       gegenüber von vornherein so skeptisch war. Mit Bewunderung sehe ich dem
       wunderbaren Prozess zu, der passiert, wenn ein Mensch sich gewollt und
       respektiert fühlt. Der Mann wird immer ruhiger.
       
       Als die Frau auf die Toilette geht, hüpft der Mann mit seinem Gipsbein
       schnell zum Kellner. Er bestellt noch ein Flaschenbier. Und ich erkenne an
       seinen Gesten, dass er die Rechnung für die Frau und sich begleichen will.
       
       Als er dann wieder zum Platz geht, kommt er mit einem anderen Fahrgast
       neben sich ins Gespräch. Wieder beginnt der Mann laut zu reden, doch auch
       hier kommt er in kürzester Zeit mit dem anderen in ein persönliches
       Sprechen.
       
       Als die Frau zurückkehrt, spricht der Mann noch mit dem anderen im Gang.
       Sie setzt sich, und es wirkt plötzlich austauschbar, wie nah er mit ihr
       zuvor war. Es ist, als hätte der Mann die Frau auf der Suche nach noch mehr
       Kontakt ein bisschen verloren. Er setzt sich danach wieder zu ihr. Beim
       nächsten Halt steigt die Frau aus und bedankt sich sehr für seine
       Einladung. Dann ist ihre Verbindung vorbei.
       
       Später kommt der Mann mit dem Gips noch mit einem jungen
       Unternehmensberater ins Gespräch. Als mir etwas zu Boden fällt, fragt er
       sofort, ob er mir beim Suchen helfen könne. Er sucht unaufhörlich nach
       Austausch. Doch etwas hat sich geändert: Der Mann ist nicht mehr nur laut.
       Auf eine leise, undurchschaubare Weise ist er irgendwie nett geworden.
       
       14 Feb 2023
       
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