# taz.de -- Paramilitärisches Training in Armenien: Verteidigung wird Handarbeit
       
       > Seit Armenien im Krieg gegen Aserbaidschan unterlag, ist das Vertrauen in
       > die Armee erschüttert. Einige Armenierinnen greifen nun zu den Waffen.
       
 (IMG) Bild: Nimmt seit November an paramilitärischen Trainings teil: die armenische Mutter Angin Khachatryan
       
       Jerewan taz | Am Rande der armenischen Hauptstadt Jerewan laufen in einem
       Hinterhof 20 Menschen über einen kreisförmigen Kiesweg, manche tragen
       Camouflagekleidung. Hier, im Schatten eines ehemals sowjetischen
       Hochhauses, hat die paramilitärische Miliz Voma ihr Hauptquartier.
       Ausgeschrieben bedeutet der Name im Deutschen: „Die Kunst des Überlebens“.
       
       Die Miliz bietet Kurse für diejenigen an, die sich freiwillig auf den Krieg
       vorbereiten wollen. „Am Anfang dachte ich, dass ich nicht durchhalten
       könnte“, sagt die 25-jährige Angin Khachatryan. Sie ist von der Wollmütze
       bis zu den Springerstiefeln in Tarnfarben gekleidet. „Aber es fühlt sich
       gut an. Ich werde es durchziehen – um meiner Familie willen, um meines
       Mutterlandes willen“, sagt Khachatryan.
       
       Armenien, Khachatryans „Mutterland“, befindet sich seit dem Zusammenbruch
       der Sowjetunion vor mehr als drei Jahrzehnten im offenen Konflikt mit
       Aserbaidschan. 1991 war die mehrheitlich von Armenier*innen bewohnte
       [1][Region Bergkarabach dem größeren Nachbarstaat] zuerkannt worden. Aber
       bereits drei Jahre später eroberten armenische Truppen mit russischer
       Unterstützung das Gebiet zurück und stellten es unter ihre Kontrolle. Bis
       der Krieg 2020 wieder aufflammte.
       
       Als Aserbaidschan im Juli vor zwei Jahren angriff, zeichnete sich schnell
       ab, dass das einst militärisch überlegene Armenien seine Vormachtstellung
       eingebüßt hatte. Trotzdem dauerten die Kämpfe an: Erst nach [2][44 Tagen
       und mehr als 6.500 Toten] einigten sich die beiden Länder durch russische
       Vermittlung auf eine Waffenstillstandsvereinbarung. [3][Teile der Region
       Bergkarabach] sowie sieben angrenzende Regionen werden seitdem wieder von
       Aserbaidschan kontrolliert.
       
       ## Jeden Abend Kriegstraining
       
       Neben der Erkenntnis über die Schwäche des eigenen Militärs machte sich bei
       vielen Armenier*innen Enttäuschung über die Rolle Russlands breit. Denn
       der einst verlässliche Bündnispartner schickte während der Gefechte keine
       zusätzlichen Waffenlieferungen. Auch Soldaten entsandte Präsident Wladimir
       Putin erst nach Kriegsende in Form von „Friedenstruppen“. Sie sollen in der
       Region Bergkarabach die brüchige Waffenruhe überwachen.
       
       Aber daran, dass Russlands Staatsoberhaupt tatsächlich an Frieden
       interessiert ist, glauben in Jerewan nur wenige. Er liefere teure Panzer
       nach Aserbaidschan und etwas billigere Panzerabwehrraketen nach Armenien,
       heißt es. Durch den anhaltenden Konflikt sichere sich Putin Einfluss in der
       Region. Da sich der [4][Westen ebenfalls mit Zugeständnissen zurückhält],
       fühlen sich viele Armenier*innen weiterhin abhängig vom Schutz
       Russlands.
       
       Um im Kriegsfall auch ohne ausländische Unterstützung eine Chance zu haben,
       nehmen immer mehr Armenier*innen an Militärtrainings teil, so wie
       Khachatryan. Gedanken an ihre Familie hätten sie dazu angetrieben. „Mein
       Ehemann, meine Brüder und Cousins waren alle schon an der Front“, sagt sie.
       „Auch ich sollte bereit sein.“ Beinahe jeden Abend fährt sie deshalb zum
       Trainingsplatz am Rande Jerewans, meistens begleitet von ihrem Ehemann und
       dem gemeinsamen einjährigen Sohn.
       
       Die junge Mutter hat eigentlich Journalismus an der Universität in Jerewan
       studiert und bereits 2018 angefangen, für Voma zu arbeiten; zuerst nur in
       der Öffentlichkeitsarbeit, seit vergangenem November nimmt sie auch an den
       Trainings teil.
       
       Wie sie sind die meisten Teilnehmer*innen weiblich, denn die Armee
       nimmt keine Frauen auf, während alle Männer eine Grundausbildung
       absolvieren müssen. „Unser Feind ist sehr nah“, sagt Khachatryan. Deshalb
       solle jeder in Armenien vorbereitet sein.
       
       100.000 Menschen möchte die spendenfinanzierte Organisation Voma in ihren
       Trainingszentren im ganzen Land für den Kriegsfall ausbilden – bei einer
       Bevölkerung von etwa drei Millionen und noch einmal rund doppelt so vielen
       Armenier*innen, die im Ausland leben.
       
       ## Selbst an der Front kämpfen
       
       In den kostenlosen Kursen der Miliz durchlaufen die Teilnehmer*innen
       neben dem Fitnessprogramm auch Erste-Hilfe-Einheiten und lernen den Umgang
       mit der Waffe. Die Gruppe, die eben noch über den Kiesweg gejoggt ist, hat
       sich mittlerweile im gedrungenen Gebäude nebenan zum Waffentraining
       aufgestellt.
       
       In der Halle sind Netze in Tarnfarben gespannt, über den Köpfen schweben
       die Flaggen Armeniens und der Republik Arzach. Jene hat das Land 2017 für
       die Region Bergkarabach ausgerufen, was aber völkerrechtlich von keinem
       anderen Staat anerkannt wurde. Auf Kommando des Trainers ahmen die Frauen
       und Männer die Handgriffe, die er an seiner Kalaschnikow macht, an ihren
       Attrappen nach: laden, entsichern, schießen.
       
       Auch Khachatryan schnappt sich eine der Waffenattrappen, legt sie an und
       zielt ein paar Schritte machend auf einen unsichtbaren Soldaten. „Der Feind
       muss verstehen, dass er es nicht nur mit tapferen Männern zu tun hat,
       sondern auch mit starken und tapferen Frauen“, sagt sie. Bei einer erneuten
       Eskalation des Konflikts wolle sie die armenischen Soldaten nicht bloß
       unterstützen, sondern auch selbst an der Front kämpfen.
       
       Dass es wieder Krieg geben wird, daran zweifelt bei Voma keiner. Viel mehr
       beschäftigt die Teilnehmerinnen des Militärtrainings, ob das Land, das
       gerade einmal so groß wie Brandenburg ist, dann auch bereit dafür ist.
       
       Zuletzt zeichnete sich am [5][13. September vergangenen Jahres eine größere
       Eskalation] ab. In jener Nacht griff Aserbaidschan armenische Stellungen
       nahe der Orte Goris, Sotk und Dschermuk mit Artillerie und Drohnen an. Die
       Angriffe zielten damit auch auf Städte und zivile Infrastruktur fernab des
       strittigen Gebiets um die Region Bergkarabach. Grund dafür sei laut
       Aserbaidschan ein angeblicher armenischer Sabotageakt gewesen.
       
       „Als ich davon hörte, wusste ich, dass ich kämpfen möchte“, sagt Shushan
       Babayan. Die zierliche 22-Jährige kam kurz nach dem Krieg vor zwei Jahren
       erstmals zu Voma. Als einzige Frau trainiert sie die Teilnehmer*innen
       dort in Alpinismus, zeigt ihnen also, wie sie sich in der für die
       Konfliktregion typischen gebirgigen Landschaft bewegen können.
       
       Auch wenn sie gerade keine Gruppe anleitet, fahre sie oft in das
       Hauptquartier. „Ich bin hier ruhiger, weil ich das Gefühl habe, etwas
       Sinnvolles zu machen“, erklärt Babayan. Nach den Meldungen über die
       Angriffe an jenem 13. September packte sie ihre Sachen und fuhr hin.
       „Zuerst war ich panisch, aber dann fühlte es sich so an wie die vielen,
       vielen anderen Male, die ich hierhergekommen bin“, berichtet sie. Sie habe
       mit dem Kommandeur ihres Bataillons gesprochen und ihn dazu überredet, sie
       mit an die Front zu nehmen.
       
       Woran sie auf dem Weg gedacht hat und wie sie sich dabei gefühlt hat, fällt
       Babayan schwer, in Worte zu fassen. „Es waren einfach so viele
       unterschiedliche Sachen“, sagt sie nach einer langen Pause. „Alles war sehr
       unklar: Wir wussten nicht, wo wir hinfahren. Wir wussten nicht, wie der
       Krieg enden würde.“
       
       An [6][direkten Kämpfen sei sie schließlich nicht beteiligt] gewesen, denn
       die Gefechte wurden nach zwei Tagen eingestellt. In dieser Zeit starben
       etwa 300 Menschen, mehr als 7.000 Armenier*innen mussten flüchten.
       Viele konnten bis heute nicht in ihre Häuser zurückkehren. „Es ist falsch
       zu denken, dass in Jerewan alles okay ist“, sagt Babayan, die selbst in der
       Hauptstadt wohnt. „Die Armenierinnen sollten verstehen, dass das auch hier
       passieren könnte.“
       
       ## Vorbereitet für den Krieg
       
       Was auch in Jerewan passieren könnte, beschrieb der armenische
       Regierungschef Nikol Paschinjan kurz nach den Angriffen im September in
       seiner Rede vor den Vereinten Nationen. Er warf Aserbaidschan „unsägliche
       Gräueltaten“ vor und sagte, es gebe „Beweise für die Folter und
       Verstümmelungen gefangen genommener oder bereits getöteter Soldaten“.
       
       Auf Telegram kursiert ein solches Video, das zeigen soll, wie
       aserbaidschanische Streitkräfte die armenische Soldatin Anush Apetyan
       missbrauchen. Anschließend schneiden sie der Frau die Finger ab und stecken
       sie ihr in den Mund, auch ihre Augen stechen sie aus. Die Echtheit dieses
       Videos ist bis heute nicht unabhängig geklärt.
       
       Während dieses Video die armenische Gesellschaft schockierte, äußerten sich
       weder größere Menschenrechtsorganisation noch Staaten offiziell zu dem
       Fall. Dabei wird Vergewaltigung in Kriegen von den Vereinten Nationen seit
       2007 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als Waffe anerkannt.
       
       Die EU beschloss, nach Paschinjans Rede keine Wirtschaftssanktionen oder
       Ähnliches gegen Aserbaidschan einzuleiten. Von der Bundesregierung hieß es,
       man wisse nicht, wer für die Taten verantwortlich sei.
       
       Auch wegen solcher Vorwürfe gegen aserbaidschanische Soldaten trainiert die
       25-jährige Khachatryan. „Um keine Angst vor so etwas haben zu müssen“, sagt
       sie. Bei einer erneuten Eskalation des Konflikts zwischen Armenien und
       Aserbaidschan könnten Armenier*innen wieder auf sich allein gestellt
       sein, glaubt sie. Sie bereite sich darauf vor, den Feind als Erstes zu
       erreichen.
       
       30 Jan 2023
       
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