# taz.de -- Neues Lieferkettengesetz: Lücken im Gesetz
       
       > Ausgerechnet Deutschland will zertifizierte Unternehmen nicht für
       > Fahrlässigkeit haften lassen. Doch auch die Zertifikate selbst sind
       > problematisch.
       
 (IMG) Bild: Durchschnittlich 95 US-Dollar verdienen NäherInnen in Bangladesch
       
       Anfang des Jahres ist das Lieferkettengesetz in Deutschland in Kraft
       getreten – ein wichtiger Schritt, um Menschenrechte in globalen
       Lieferketten zu schützen. Aber [1][das Gesetz] hat einen entscheidenden
       Schwachpunkt: Ihm fehlt eine Regelung, nach der Unternehmen für
       Menschenrechtsverletzungen haften, die sie durch Missachtung ihrer
       Sorgfaltspflichten verursacht haben.
       
       Das in der [2][Europäischen Union geplante Lieferkettengesetz], das 2023 in
       die entscheidende Phase der Verhandlungen kommt, soll laut Entwurf der
       EU-Kommission weitergehen und Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen
       haftbar machen. Doch ausgerechnet Deutschland setzt sich für eine massive
       Verwässerung ein. Die Bundesregierung plädiert nämlich dafür, dass
       Unternehmen, die zertifiziert sind, von der Haftung für Fahrlässigkeit
       ausgenommen werden.
       
       [3][Sozialaudits], Prüfungen der Richtlinien und Normanforderungen, und
       Zertifizierungssysteme haben in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen;
       jedoch zeigt sich immer wieder, dass Audits für Zertifizierungen nicht
       selten gravierende Probleme übersehen oder missachten. So können sich
       Unternehmen mit Zertifizierungen und Siegeln schmücken, obwohl sie sich
       fahrlässig oder unverantwortlich verhalten.
       
       Ein Fall aus Brasilien illustriert dies: Am 25. Januar 2019 brach der
       Staudamm einer Eisenerzmine in Brumadinho, mehrere Millionen Kubikmeter
       giftiger Minenschlamm töteten mindestens 270 Menschen. Nur vier Monate
       zuvor hatte das brasilianische Tochterunternehmen des deutschen
       Zertifizierers [4][TÜV SÜD] den Damm für stabil erklärt. Das
       Bergbauunternehmen hatte die Prüfer unter Druck gesetzt, die Sicherheit des
       Staudamms trotz offensichtlicher Risiken zu bescheinigen. Das ergab eine
       Untersuchung durch den brasilianischen Kongress.
       
       ## Schlupfloch „Safe Harbour“
       
       Ende 2022 hat sich der Ministerrat der Europäischen Union auf eine
       gemeinsame Position für das EU-Lieferkettengesetz geeinigt. Deutschland
       hatte sich im Vorfeld für eine „Safe Harbour“-(Sicherer Hafen)-Klausel
       eingesetzt. Diese würde die zivilrechtliche Haftung für Unternehmen
       abschwächen, die sich an freiwilligen Branchen- oder Industrieinitiativen
       beteiligen. Der Vorschlag stieß auf wenig Gegenliebe bei den anderen
       EU-Staaten und wurde schließlich abgelehnt.
       
       Damit ist das Thema indes nicht vom Tisch: In einer vertraulichen
       Protokollnotiz hat die Bundesregierung angemerkt, dass sie weiter an ihrer
       Forderung festhält und beabsichtigt, dem Gesetz in den entscheidenden
       Verhandlungen am Ende des EU-Gesetzgebungsprozesses nicht zuzustimmen, wenn
       es keine „Safe Harbor“-Regelung beinhaltet. Damit stellt die
       Bundesregierung die Interessen von Unternehmen über die der Opfer von
       Rechtsverletzungen entlang globaler Lieferketten – und bricht Wort mit dem
       Bekenntnis des Koalitionsvertrags zu einem wirksamen Lieferkettengesetz.
       
       Die zivilrechtliche Haftung ist ein wichtiges Mittel, mit dem Betroffene
       vor nationalen Gerichten in Europa ihr Recht einklagen können und mit dem
       Katastrophen, wie sie in Brasilien geschehen ist, verhindert werden können.
       Aber sie muss auch für Unternehmen gelten, die auditiert und zertifiziert
       sind. Audits haben oft massive Mängel: Sie werden innerhalb weniger Tage
       vorgenommen, sind oft oberflächlich und geben keine Gelegenheit zu
       vertieften Untersuchungen oder vertraulichem Kontakt mit Betroffenen.
       
       Wenn Firmen die Audits selbst bezahlen, besteht die Gefahr, dass
       „wohlgesonnene“ Prüfer den Auftrag bekommen. In einigen Fällen haben Firmen
       darauf gedrängt, dass Auditberichte geschönt und Informationen über
       unternehmerisches Fehlverhalten weggelassen wurden. Hunderte von Menschen
       sind bei vermeidbaren Katastrophen an Arbeitsplätzen ums Leben gekommen, an
       denen zuvor Sozialaudits und Zertifizierungen vorgenommen wurden.
       
       Der Dammbruch in Brumadinho in Brasilien ist nur ein Beispiel. Ein
       Fabrikbrand bei Ali Enterprises in Pakistan im Jahr 2012 und der Einsturz
       des Rana-Plaza-Gebäudes in Bangladesch im Jahr 2013 sind weitere Beispiele
       für verheerende Tragödien an Standorten, die geprüft oder zertifiziert
       wurden. Kinderarbeit und andere gravierende Menschenrechtsverletzungen
       werden ebenfalls von Audits sehr häufig nicht aufgedeckt – unter anderem
       weil Audits oft nur ein paar Tage lang sind.
       
       ## 160 Millionen Kinder arbeiten
       
       Weltweit arbeiten 160 Millionen Kinder, darunter 79 Millionen unter extrem
       gefährlichen Bedingungen, den sogenannten schlimmsten Formen der
       Kinderarbeit. Zum Beispiel haben sich internationale Tabakfirmen in
       Simbabwe, wo Human Rights Watch 2018 Kinderarbeit und andere Missstände im
       Tabakanbau dokumentiert hat, auf sehr kurze und oberflächliche
       menschenrechtliche Prüfungen vor Ort verlassen.
       
       Im Goldsektor sind Goldschmelzen in der Vergangenheit für ihre
       menschenrechtliche Sorgfalt zertifiziert worden, obwohl sie das Metall aus
       Minen bezogen haben und in Ghana ohne nennenswerte Prüfung des Risikos
       besonders bei der dort weit verbreiteten Kinderarbeit. Kinder arbeiten in
       Ghanas Goldminen oft mit giftigem Quecksilber und tragen extrem schwere
       Lasten, die nicht selten zu gravierenden Gesundheitsschäden führen.
       
       Es braucht ein robustes europäisches Lieferkettengesetz, das Unternehmen
       dazu verpflichtet, Menschenrechte entlang ihrer gesamten Lieferkette zu
       respektieren. Ein Gesetz, das die Unternehmen zur Rechenschaft zieht, wenn
       sie dieser Verantwortung nicht nachkommen. Ohne wirksame Haftungsregelung
       wird das nicht funktionieren.
       
       Deutschland sollte sich seiner besonderen menschenrechtlichen Verantwortung
       als größte Volkswirtschaft in der EU stellen und in Brüssel für ein Gesetz
       eintreten, mit dem Opfer von Menschenrechtsverletzungen in globalen
       Lieferketten ihre Rechte geltend machen können.
       
       30 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Neues-Lieferkettengesetz/!5875290
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 (DIR) [3] https://www.din-iso-zertifizierung-qms-handbuch.de/was-ist-ein-audit-definition/
 (DIR) [4] https://www.tuvsud.com/de-de
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Juliane Kippenberg
       
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