# taz.de -- Digitale Spielereien in Oldenburg: #staatstheater for future
       
       > Die Exerzierhalle dient dem Staatstheater Oldenburg als „Technical
       > Ballroom“. Die erste Musiktheaterpremiere kommentiert die
       > Klimakatastrophe.
       
 (IMG) Bild: Eine Eisbärenpuppe liegt als Menetekel auf der Bühne: Die Inszenierung setzt aufs Plakative
       
       Oldenburg taz | Theater ist analog. Definiert durchs unmittelbare Erleben
       von emotionaler, intellektueller, ästhetischer Handlung. Umso größer waren
       die Wehklagen, umso unsicherer die notwendigen Versuche, mit denen
       Bühnenkünstler anlässlich des Coronalockdowns gegen ihr Verschwinden aus
       der öffentlichen Wahrnehmung den digitalen Raum für neue Produktions- und
       Kommunikationsweisen zu erobern versuchten.
       
       Aber ob nun Streams, Serien-Formate, Zoom-Performances, 3-D-Filme,
       Kurznachrichten-Dialoge etc. präsentiert wurden: „Wir fanden das nicht
       toll“, denn alles habe es anderswo im Netz schon viel besser gegeben, sagt
       Regisseur Kevin Barz. Mit „Wir“ sind ziemlich viele Theatermacher gemeint,
       denn kaum einer ihrer technoiden Aufbrüche wird in dieser Spielzeit
       fortgeführt.
       
       Am [1][Staatstheater Oldenburg] aber wendet sich Barz als Projektleiter
       gegen die Re-Analogisierung der darstellenden Künste. Dank einer Förderung
       der Bundeskulturstiftung konnte die Spielstätte Exerzierhalle zum
       „Technical Ballroom“ mit Videowall als Einheitsbühnenbild hergerichtet
       werden.
       
       Vertreter der Staatstheater-Sparten erarbeiten darin neun Inszenierungen,
       bei denen eben nicht die analoge Kunstform in digitale Räume gezwungen,
       sondern das Digitale in den analogen Raum geholt wird. Denn essenziell
       bleibt für Barz das kollektive Live-Erlebnis.
       
       ## Zuschauerakquise bei Digital Natives
       
       Den „Technical Ballroom“ versteht Barz als „Tor zur Digitalität“ und
       Zuschauerakquise im Segment [2][Digital Natives]. Bei denen vermutet er ein
       sensibles Bewusstsein für soziale Themen. Die werden nun high-tech
       inszeniert. Der experimentelle Duktus bezieht sich auf Licht-, Ton-,
       Bühnen-, Bewegte-Bilder-Technik. Aber auch die digitale Revolution selbst
       kommt ins Spotlight.
       
       Für „requiem.exe“ (Premiere: 27. 5. 2023) sollen humane Pflegekräfte und
       ein Pflegeroboter für ihre Art zu arbeiten werben. Am Ende wird das
       Publikum vor der Frage stehen: „Von einer Maschine ohne Emotionen gepflegt
       zu werden, die sich bedingungslos an ihre programmierte Aufgabe hält, wäre
       ja gruselig. Oder etwa doch nicht?“
       
       Die erste große Musiktheaterpremiere im „Technical Ballroom“ ist „Die vier
       neuen Jahreszeiten“ betitelt. Ein riesiger, zottelfelliger Eisbärenkörper
       liegt mahnend drapiert zwischen Zuschauertribüne und Bühne. Wie gefrorene
       Tränen rieseln Schneeflocken vom Himmel. Eisiges Raunen entfleucht den
       Lautsprechern.
       
       Von Beginn an geht es [3][unter Barz’ Regie] weniger um einen Argumente
       abwägenden Klimawandel-Diskurs, sondern um die plakativen Arrangements und
       das Klartexter-Pathos [4][der aktuell für Aufregung sorgenden „Letzten
       Generation“].
       
       Um all das in korrekter Wutartikulation auf die Bühne zu bringen, hat Barz
       Kontakt mit der Scientist Rebellion aufgenommen, einem Zusammenschluss von
       mehr als 500 Wissenschaftlern aus 42 Ländern, die [5][auf radikalere
       Widerstandsformate setzen, als die Fridays-for-Future-Demonstranten]. Aus
       Texten der Aktivisten und dem Interview mit einer entsprechend engagierten
       Akademikerin wurde der Stückmonolog für eine typisierte
       Naturwissenschaftlerin-Biografie collagiert.
       
       „1725“ wird eingeblendet, das Jahr, in dem Vivaldi seine Violinkonzerte „Le
       quattro stagioni“ veröffentlicht hat, die nun als musikalisches Lamento
       inszeniert werden. Ein Playback eingespieltes Kammerensemble grundiert die
       filigranen Aufschwünge der Soloviolinistinnen Agnes Izdebska-Goraj und Maja
       Syrnicka.
       
       So wie Vivaldi den vier Werken jeweils ein Sonett voranstellt, um lesbar zu
       machen, was zu hören sein soll, erklärt nun eine Wissenschaftlerin (Marie
       Becker) im strengen Vortragstonfall, dass die jubilierend knospende
       Frühlingsmusik, ja, das ganze farbenfrohe Abbild der Jahreszeiten der
       Ausdruck von Wetter- und Klimaerfahrungen im 18. Jahrhundert ist, dem Ende
       der kleinen Eiszeit.
       
       Damals habe die CO2-Konzentration in der Atmosphäre noch bei 280 ppm
       gelegen, also 280 Millionstel Teile. Die Entwicklung bis auf über 400 ppm
       heute verdeutlichen digital animierte Grafiken, die vom Bühnenboden peu à
       peu dem Bühnenhimmel entgegenkurven.
       
       Schon wird „1840“ eingeblendet, rauchende Schlote der Industrialisierung,
       Kohlehalden, Dampfloks flimmern vorüber. Das unaufhaltsame Fließen der vom
       Werden und Vergehen erzählenden Klangbeschwörungen Vivaldis verliert dabei
       seine klare Formensprache. Die Interpretation wirkt dank digitaler Technik
       beunruhigend verzerrt und wird von Klangstürmen wie Extremwettereignissen
       bedrohlich durchweht.
       
       ## Unterrichtsstunde mit Agitprop-Appeal
       
       Bald darauf zeigen „Tagesschau“-Bilder wie Flugzeug- sowie Autoverkehre und
       ein AKW in Tschernobyl explodieren, während sich Menschen zu Tode amüsieren
       im Konsumrausch. Es folgen Clips über die Folgen: extreme Dürre, extreme
       Stürme, extremes Artensterben, extrem schmelzende Eisberge etc. Dazu
       referiert die Wissenschaftlerin über die Grenzen des Wachstums, gegen das
       kapitalistische Wertesystem usw.
       
       Eine Unterrichtsstunde mit Agitprop-Appeal für Klimawandel-Anfänger ist
       diese theaterkünstlerisch eher schlichte Lecture Performance. Die
       Aufklärerin im Laborkittel schwingt sich aus stoischer Verbitterung zu
       großem Empörungsfuror auf. Denn: „Wir sind am Arsch.“
       
       Aber es ist keine lebendige, psychologisch differenziert ausgearbeitete
       Figur zu erleben, sondern nur eine Sprechpuppe wohlbekannter Aussagen
       inklusive des kassandrischen Schmerzes, dass wissenschaftliche Erkenntnisse
       und daraus abgeleitete Forderungen nicht gehört werden. Daraus leitet die
       Protagonistin eine moralische Pflicht zum Handeln ab, will ab sofort ein
       Hindernis im Leben anderer sein, um zumindest so Aufmerksamkeit für ihre,
       unser aller Not zu bekommen. Da überzeugt die Aufführung.
       
       Sie möchte die gegenwärtige öffentliche Meinung drehen und nimmt eindeutig
       positiv Bezug auf die derzeit verlachten, verhöhnten, kriminalisierten
       Klimaaktivisten, die sich an Fahrbahnen kleben, um Autos und Flugzeuge am
       Starten zu hindern – oder Gemälde beschmieren, um zu zeigen, wie lächerlich
       die ihnen beigemessenen Millionenwerte sind, wenn wir gerade den Lebensraum
       der nächsten Generation ruinieren. Barz & Co. stellen eben nicht die Frage:
       Dürfen die das? Sondern sie verdeutlichen: Warum machen die das?
       
       Nächste Aufführungen: 13. und 21. 12., jeweils 10.30 Uhr sowie 20. 12. und
       10. 1., 20 Uhr, [6][Oldenburgisches Staatstheate]r, Johannisstr. 6 Nächste
       Premiere im Technical Ballroom: 14 Tage Krieg, 5. 1., 20 Uhr, Performance
       mit 360°-Videoaufnahmen aus der Ukraine
       
       10 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [5] https://www.fridaysforfuture-oldenburg.de/
 (DIR) [6] https://staatstheater.de/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Fischer
       
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