# taz.de -- Regierungsbildung in Israel: Rechter wird's nicht
       
       > Benjamin Netanjahu ist wohl zurück an der Macht in Israel. Nun kommt die
       > wohl rechteste Regierung, die das Land je hatte.
       
 (IMG) Bild: Bibi-Parade in Jerusalem, 1. November 2022
       
       Er ist zurück und nicht alleine. Ex-Ministerpräsident Benjamin Netanjahu
       wird wohl bald wieder an die Macht kommen. Seine Likud-Partei hat [1][die
       Parlamentswahl in Israel am Dienstag] klar gewonnen.
       
       Jetzt könnte der 73-Jährige die wahrscheinlich rechteste Regierung bilden,
       die das Land je hatte: ein Bündnis aus Likud, zwei ultraorthodoxen Parteien
       und der Liste Religiöser Zionismus, angeführt vom neuen Shooting-Star
       Israels, [2][dem rechtsextremen, rassistischen und homophoben Itamar
       Ben-Gvir].
       
       Lange war dieser Ben-Gvir mit seinen wüsten Auftritten und seinen radikalen
       Ideen eine – wenn auch laute – Randfigur. Als Teenager war er in der
       radikalen Siedlerjugend unterwegs, wurde Anwalt und vertrat zahlreiche
       radikale jüdische Siedler*innen vor Gericht. Ben-Gvir ist unter anderem
       schon wegen Hassrede und Mitgliedschaft in der
       jüdisch-rechtsterroristischen Kach-Partei verurteilt worden, wurde
       zahlreiche Male angeklagt.
       
       Bis vor Kurzem zierte ein Porträt des jüdischen Terroristen Baruch
       Goldstein, der 1994 in der Höhle der Patriarchen in Hebron 29 muslimische
       Betende ermordet hatte, sein Wohnzimmer. „Nicht-loyale“ Staatsbürger –
       palästinensische Israelis, nicht etwa jüdische – sollten ausgewiesen
       werden, lässt er verlauten.
       
       Wohin der heute 46-Jährige während des Wahlkampfes auch kam, zumeist
       umgeben von seiner Entourage und einer Wolke von Israelfahnen, skandierten
       Menschen Slogans wie „Wer kommt hier? Der zukünftige Ministerpräsident!“
       und holten ihre Handys hervor, um Selfies mit ihm zu machen – der
       eigentliche Wahlsieger war er. Als drittstärkste Kraft ging die Liste
       Religiöser Zionismus aus dem Rennen, heißt: 14 Sitze in der Knesset, einige
       Ministerposten sind ihr so gut wie sicher.
       
       ## Wegbereiter Netanjahu
       
       Seinen Steigflug hat der Krawallmacher auch Benjamin Netanjahu zu
       verdanken. Nicht, dass der mit allem einverstanden wäre, was Ben-Gvir sagt
       und tut. Aber Netanjahu ist Opportunist. Aktuell hat er vor allem ein Ziel:
       Einer Verurteilung zu entgehen. [3][Der ehemalige und wohl künftige
       Ministerpräsident] steht wegen dreier möglicher Korruptionsfälle vor
       Gericht.
       
       Im für ihn schlimmsten Fall droht ihm eine Gefängnisstrafe. Seine
       Bündnispartner um Ben-Gvir könnten ihm den Gefallen tun und
       Gesetzesänderungen zustimmen, die ihn vor einer Verurteilung bewahren
       könnten. Netanjahu hat im Gegenzug bereits den rechtsextremen Rassisten die
       Legitimität verliehen, die sie brauchen.
       
       Er hat dafür gesorgt, dass Bezalel Smotrich, Vorsitzender der Liste
       Religiöser Zionismus, und Ben-Gvir gemeinsam zur Wahl aufgestellt werden
       konnten. Nur so gelang ihnen der Sprung über die parlamentarische
       3,25-Prozent-Hürde. Schon im Vorfeld der Wahl betonte Netanjahu, dass
       Ben-Gvir „natürlich“ auch für einen Ministerposten geeignet sei. Ben-Gvir
       hat Ambitionen, Minister für innere Sicherheit zu werden.
       
       Doch es war nicht allein Netanjahu, der das rassistische Enfant Terrible
       groß gemacht hat. Das Phänomen Ben-Gvir fällt in Israel auf fruchtbaren
       Boden. Der Soziologe Or Anabi befragt für das Israelische
       Demokratieinstitut jährlich Israelis, wo sie sich auf der politischen
       Landkarte verorten.
       
       An seinem [4][Demokratieindex] ist abzulesen: In den letzten dreißig Jahren
       ging es in Israel stetig nach rechts. Während sich vor dreißig Jahren rund
       40 Prozent als rechts bezeichneten, sind es heute 62 Prozent, unter jungen
       Menschen zwischen 18 und 24 Jahren sogar 70 Prozent.
       
       Der Hauptgrund für diesen Trend liegt in der demographischen Entwicklung.
       Streng religiöse, [5][ultraorthodoxe Familien in Israel] wählen fast
       ausschließlich rechte Parteien. Sie bekommen im Schnitt sieben Kinder.
       Säkulare Familien hingegen, die sich jeweils zu einem Drittel auf das linke
       und rechte Lager sowie auf die Mitte verteilen, zeugen im Schnitt nur drei
       Kinder. Die Geburtenrate erklärt daher auch, warum vor allem Israels Jugend
       immer rechter wird.
       
       ## Zäsur im Mai 2021
       
       Doch der Rechtsruck ist nicht allein der Demografie geschuldet. Der
       [6][Einfluss der Ereignisse im Mai 2021] sei nicht zu unterschätzen, wenn
       man den rasanten Aufstieg Ben-Gvirs erklären wolle, erklärt Anabi gegenüber
       der taz am Wochenende. „In diesem Monat ist für viele der Glaube daran,
       zusammenleben zu können, zerbrochen.“ Während des Kriegs zwischen Israel
       und der Hamas in Gaza kam es damals zu Ausschreitungen innerhalb der
       gemischten jüdisch-arabischen Städte.
       
       Jüdische Mobs und palästinensische Israelis griffen sich gegenseitig an,
       machten Jagd aufeinander. Es kam zu Lynchszenen, es gab zahlreiche
       Verletzte. Die explodierende Gewalt beschädigte das ohnehin brüchige
       Vertrauen zwischen jüdischen und arabischen Staatsbürger*innen schwer.
       
       An Anabis Zahlen zeigt sich die Zäsur des vergangenen Mai: Im April 2021,
       einen Monat vor den dramatischen Ausschreitungen, glaubten 45 Prozent der
       jüdischen Israelis, dass Juden und Araber getrennt voneinander leben
       sollten. Zwei Monate später waren es 59 Prozent.
       
       Ben-Gvirs Hochburgen liegen in den religiös geprägten Städten, in
       Jerusalem, den jüdischen Siedlungen im Westjordanland und in von Armut
       geprägten Wohngegenden. Doch selbst in der liberal-säkularen Enklave des
       Landes, in den Cafés von Tel Aviv, hört man Menschen sagen, dass sie
       Ben-Gvir unterstützen.
       
       In der Wahlnacht zogen Medienberichten zufolge Gruppen von Ben-Gvir
       Anhänger*innen durch die Straßen Tel Avivs und riefen „Tod den
       Terroristen!“. Waren bei der Wahl im vergangenen Jahr nur fünf Prozent der
       Ben-Gvir-Wähler*innen Säkulare, sollen es bei der Wahl am Dienstag 15
       Prozent gewesen sein.
       
       ## Ben-Gvir auf dem Vormarsch
       
       An der scheidenden Regierung, die keine eineinhalb Jahre im Amt war,
       [7][war zum ersten Mal in der Geschichte Israels eine arabische Partei,
       Ra'am], beteiligt. Man sollte meinen, dass dadurch das Vertrauen zwischen
       arabischen und jüdischen Staatsbürger*innen hätte wiederhergestellt
       werden können.
       
       Doch das Gegenteil ist der Fall: Netanjahu wusste, wie er die israelische
       Öffentlichkeit gegen das breite Rechts-Links-Bündnis unter Naftali Bennett
       und Jair Lapid aufbringen konnte. Die Regierung wurde zum Sündenbock für
       alles, gerade aufgrund der Beteiligung von Ra'am.
       
       Dabei war er es ursprünglich, der nach der letzten Wahl im März 2021 das
       Tabu gebrochen hatte, mit einer arabischen Partei koalieren zu wollen. Nur
       weil sein rechter Koalitionspartner Bezalel Smotrich sich einer solchen
       Koalition verweigerte, kam es nicht dazu – und Netanjahu scheiterte an der
       Regierungsbildung.
       
       Nun ist das breite Bündnis mit arabischer Beteiligung Geschichte. Und
       Ben-Gvir auf dem Vormarsch. „Er spricht aus, was viele Israelis denken“,
       erklärt Anabi. „Er nimmt kein Blatt vor den Mund.“ Auch das macht wohl für
       viele seinen Reiz aus. Ein Ministerposten für ihn gilt als ausgemacht. Denn
       Netanjahu ist durch seinen Gerichtsprozess erpressbar wie noch nie. Am
       Montag ist der nächste Prozesstermin.
       
       Die sich abzeichnende Regierung in die Schranken zu weisen, hängt nun wohl
       vor allem an der internationalen Gemeinschaft, allen voran an den USA.
       Sollte Ben-Gvir in den Augen Washingtons zu weit gehen, wird Netanjahu
       manövrieren müssen. Der Zauberer, wie er hierzulande auch genannt wird, ist
       bekannt dafür, sich aus komplizierten Situationen winden zu können.
       
       Doch es könnte ihm auch gehen wie dem Zauberlehrling, der seine Geister
       nicht mehr los wird.
       
       4 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [4] https://en.idi.org.il/articles/45854
 (DIR) [5] /Ultraorthodoxe-Juden-in-Israel/!5673464
 (DIR) [6] /Eskalation-der-Gewalt-im-Gazastreifen/!5772468
 (DIR) [7] /Israels-neue-Regierung-ist-vereidigt/!5778606
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Judith Poppe
       
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