# taz.de -- Ägyptologe über Ausgrabungen in Kairo: „Notgrabungen gibt es überall“
       
       > Dietrich Raue ist Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts. Er
       > berichtet über die Rolle ausländischer Archäologen in Ägypten.
       
 (IMG) Bild: Grabungen inmitten der Millionenstadt Kairo. Hier stand einst die Tempelanlage von Heliopolis
       
       taz: Herr Raue, zu Ägypten haben Sie eine enge Beziehung. Was bedeutet für
       Sie der Wechsel von der Uni Leipzig in die Kairoer Abteilung des Deutschen
       Archäologischen Instituts? 
       
       Dietrich Raue: 1979 war ich als Jugendlicher erstmals in Ägypten. Schon
       damals faszinierten mich das Land und die Menschen. 1988 bekam ich dann die
       Chance, erstmals an Ausgrabungen in Assuan teilzunehmen und länger im Land
       zu leben. Seitdem ist Ägypten eine Art zweite Heimat für mich geworden, mit
       dem Deutschen Archäologischen Institut in Kairo als wichtigem Ankerpunkt.
       Über zehn Jahre lang war ich dort Referent und habe an vielen seiner
       Ausgrabungen teilgenommen. Als klar war, dass bald ein Direktionsposten
       frei wird, musste ich nicht lange überlegen, auch wenn mir meine Arbeit an
       der Uni Leipzig und am dortigen Museum viel Freude bereitet hat.
       
       Welche Aufgaben erwarten Sie in Kairo? 
       
       In erster Linie die Forschungszusammenarbeit zu fördern und dabei
       interessante archäologische Projekt in Ägypten zu organisieren. Besonders
       reizt mich die große Bandbreite der Projekte. Wir haben Siedlungsgrabungen
       auf der Nilinsel Elephantine. Dort finden wir besonders gut erhaltene
       Spuren des Alltagslebens im antiken Ägypten. Auch an Ausgrabungen an den
       Memnonkolossen in Theben und in drei Nekropolen Ägyptens sind wir
       beteiligt.
       
       Außerdem widmen wir uns den Zwischenzeiten, in denen eben nicht alle Funde
       von großen Namen [1][wie Ramses II.] überstrahlt werden. Auch an
       Fundstätten aus der Zeit nach den Pharaonen arbeiten wir verstärkt, mit dem
       Islamwissenschaftler Ralph Bodenstein als neuem zweitem Direktor an meiner
       Seite. Natürlich arbeiten wir bei all diesen Projekten nicht allein,
       sondern kooperieren mit Forschenden aus aller Welt und vor allem mit dem
       ägyptischen Ministerium für Tourismus und Antiken.
       
       Nach langem Kulturgüterkolonialismus steht ausländische Archäologie in
       Ägypten heute unter genauer Beobachtung. Wie äußert sich das in der
       täglichen Arbeit? 
       
       Bis in die 1960er Jahre hinein gruben viele europäische Archäologen sehr
       rücksichtslos in Ägypten. Fundstücke wurden geborgen, am Ende der Grabung
       höchstens ein Buch geschrieben, die Fundstellen vor Ort aber oft sich
       selbst überlassen. Heute stehen wir im ständigen Austausch mit den Behörden
       vor Ort. Grabungsgenehmigungen gelten auch nur für ein Jahr. Für jede
       Verlängerung müssen wir unsere wissenschaftliche Arbeit genau
       dokumentieren. Die Ergebnisse müssen zum Beispiel in internationalen
       Fachmagazinen publiziert werden, die auch für ägyptische Forschende
       zugänglich sind.
       
       Wir müssen die Fundstellen genau dokumentieren und auch sichern. An die
       Ausfuhr von Funden ist nicht zu denken. Außerdem kümmern wir uns um die
       Weiterbildung von ägyptischen Archäologen und Restauratoren. Zugleich
       fördern wir die ägyptisch-deutsche Begegnung durch Reisestipendien nach
       Deutschland und der Beteiligung in der Lehre bei Studiengängen ägyptischer
       Universitäten.
       
       Welchen Stellenwert hat die eigene Geschichte in der ägyptischen
       Gesellschaft? 
       
       Es gibt schon ein großes Bewusstsein für die eigene Historie, und zwar über
       alle gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen hinweg. Aber natürlich
       gibt es wie in Deutschland auch unterschiedliche Ausprägungen dieses
       Geschichtsinteresses. Nicht jeder Ägypter besucht auch unsere Vorträge oder
       liest neueste Fachpublikationen. Aber das mediale Interesse an der eigenen
       Geschichte und an neuen Funden ist schon immens. Neue Funde schaffen es
       regelmäßig in die Abendnachrichten. Die eigene Geschichte ist außerdem fest
       im Lehrplan der Schulen verankert.
       
       Hat dieser Nationalstolz auch Auswirkungen auf die forschenden Archäologen
       des Landes? 
       
       Es gibt eine sehr selbstbewusste und kompetente Archäologie in Ägypten. Im
       Tal der Könige und auf den Gräberfeldern von Giza (Gizeh) graben heute fast
       ausschließlich ägyptische Forschende. Ägyptologen wie Zahi Hawass sind
       medial sehr präsent und fast jedem Schulkind bekannt. Das war auch ein
       erklärtes Ziel der Kulturpolitik. Einheimische Forschende sollten nun
       wichtige Entdeckungen machen und sie in die Fachwelt hinaustragen. Diese
       Bestrebungen haben viel für die Forschungslandschaft des Landes getan.
       
       Gemeinsam mit ägyptischen Kollegen gruben Sie lange an einer besonderen
       Stelle. Mitten in [2][Matariya, einem der belebtesten Viertel Kairos,]
       untersuchten Sie die Überreste der antiken Tempelanlage von Heliopolis. Wie
       schwer fällt Archäologie inmitten der Stadt? 
       
       Es ist eine Frage der Haltung. Unsere Arbeit als Archäologen ist sicher
       immens spannend, aber eben nicht der Nabel der Welt. Es wird niemand sein
       eigenes Haus abreißen, nur um mehr über einen antiken Tempel zu erfahren,
       so bedeutsam er auch mal gewesen sein mag –, schon gar nicht in einem
       Viertel, in dem fast zwei Millionen Menschen auf engsten Raum leben. Dazu
       kommt, dass man seine eigene Neugier den Vorgaben der ägyptischen Kollegen
       und Behörden unterordnen muss. Ich war nie in der Position
       Grabungsforderungen zu stellen, schon gar nicht für einen zerstörten
       Tempel, für den es unter dem Grundwasserspiegel kaum eine museale
       Perspektive gibt.
       
       Kaum eine museale Perspektive? 
       
       Der Tempel ist sehr fragmentiert. Am Kalkstein des Tempels bedienten sich
       zum Beispiel nachfolgende Generationen großzügig. Die Steine finden sich in
       vielen Gebäuden in Kairos Altstadt. Liegengelassen wurde nur das harte,
       schwer zu bearbeitende Gestein wie etwa Granit, Quarzit oder Basalt. So
       blieben Bruchstücke von Statuen oder Portalen erhalten.
       
       Allerdings liegen die oft unter dem Grundwasserspiegel in vier Metern Tiefe
       und können nicht ohne Weiteres ausgegraben werden. Fundstücke, wie den
       einst zehneinhalb Meter hohen Koloss von Heliopolis, eine Statue des Pharao
       Psammetich I., wurden gleichfalls in 6.500 Fragmenten gefunden. Mit diesem
       Blick auf die Grabstellen und das Viertel weint das Herz des Archäologen
       etwas weniger und es lässt sich dort sehr gut arbeiten. Dazu kommt, dass
       ich die Menschen mit ihren Bedürfnissen vor Ort sehr schätze und die
       Zusammenarbeit mit den Behörden bei Notgrabungen gut funktioniert.
       
       Wie muss man sich eine Notgrabung vorstellen? 
       
       Notgrabungen gibt es überall auf der Welt. Auch wenn man beim Autobahnbau
       in Deutschland auf ein bronzezeitliches Gräberfeld stößt, wird nicht die
       Fahrbahn verlegt. Stattdessen sind Archäologen angehalten, die Funde
       möglichst schnell zu untersuchen, zu bergen und dokumentieren. Das heißt,
       wir nehmen Proben, fotografieren alle Funde und zeichnen Pläne von den
       Fundstellen. In den letzten 15 Jahren hat der Datenumfang bei einer solchen
       Notgrabung deutlich zugenommen. Dank digitaler Möglichkeiten wie
       3D-Fotografie gewinnen wir in viel kürzerer Zeit viel mehr Informationen.
       Trotzdem bleibt der Befund meistens fragmentiert, einfach weil wir nicht
       über lange Zeit oder beliebig tief und weit graben können.
       
       Wann wird eine Bebauung gestoppt? 
       
       Bei stark fragmentierten Funden gibt es keine Diskussionen um die Bebauung.
       Fänden wir aber einen intakten Tempel, einen Obelisken oder eine große
       Statue, wird dieser Fund sofort den zuständigen Behörden gemeldet. Sie
       entscheiden über eine mögliche Änderung des Bauvorhabens oder eine größere
       Ausgrabung, um eine Statue oder andere besondere Artefakte für die
       [3][Museen Ägyptens] zu bergen. Wir selbst sind nur beratende Instanz. Bei
       besonderen Funden haben wir eigentlich immer Zeit für längere
       Grabungskampagnen bekommen.
       
       Sind die freien Grabungen in der Wüste oder am Nil nicht doch die schönere
       Arbeit? 
       
       Wie schon gesagt, die Menschen in Matariya sind mir in der langen Zeit dort
       ans Herz gewachsen. Auch fachlich hat es mich immer gereizt, direkt in
       dieser pulsierenden Stadt zu graben. Dazu kommt die immense Bedeutung der
       Tempelanlage von Heliopolis für die altägyptische Kultur. Immerhin ist es
       der Ort mit dem ältesten Schöpfungsmythos des Landes. Aber natürlich sind
       Ausgrabungen in den wüstennahen Gebieten etwas ganz Besonderes. Eine der
       schönsten Stellen, an denen ich graben durfte, waren die Pyramiden von
       Dahschur. Dort arbeitet man am Wüstenrand – umgeben von Pyramiden und mit
       Blick auf Palmen und Oasen. Aus den Moscheen der Umgebung dringt zum Gebet
       eine Symphonie der Rufe. Das sind schon magische Momente im
       Archäologen-Leben. Auch die Nilinsel Elephantine inmitten der
       Granit-Inseln am Ersten Katarakt, ein großes Naturschutzgebiet, ist auch
       ein unglaublich schöner Ort. Für die Gelegenheiten, dort zu arbeiten, bin
       ich sehr dankbar.
       
       6 Nov 2022
       
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