# taz.de -- Ralf Rothmanns Weltkriegs-Trilogie: Sehnsucht verändert die Moleküle
       
       > Verletzungen, die an die Kinder vererbt werden: Ralf Rothmanns neuer
       > Roman „Die Nacht unterm Schnee“ ist der dritte Teil seiner
       > Weltkriegs-Trilogie.
       
 (IMG) Bild: Die Vergangenheit soll ruhen, man will nach vorn schauen. Szene in Wattenscheid, 1953
       
       Der neue Roman beginnt mit einem Rückblick. Das 16-jährige Landarbeiterkind
       Elisabeth flieht im „Winter vor dem Ende des letzten Krieges“ aus dem
       zerbombten Danzig über das tiefverschneite Land in eine ungewisse Zukunft.
       Das Mädchen fiebert, sitzt mit den entkräfteten Männern des Volkssturms im
       zugigen Führerhaus eines klapprigen Transportwagens. Sie träumt von Milch,
       einem Schloss und einem Prinzen.
       
       Die alles andere als märchenhafte Fahrt gen Westen aber ist schon bald
       wieder vorbei. Wo Elisabeth landet, erfahren wir erst später, wobei völlig
       klar ist, dass ihr Wunschtraum nicht in Erfüllung gehen wird und eine große
       Leidensgeschichte bevorsteht.
       
       So überrascht es nicht, wenn es im folgenden Kapitelanfang, der nach dem
       Tod Elisabeths angesiedelt ist, über die Protagonistin heißt: „Ihr war kaum
       zu helfen, fürchte ich, und vielleicht können Menschen mit einer besonders
       schmerzhaften Vergangenheit ja nicht anders: Sie betäuben sich in jedem
       Augenblick neu, und sei es mit Arbeit, denn sie wissen, dass sie mehr oder
       weniger verloren sind für das Künftige, das ungeachtet aller bösen
       Erfahrungen unser Zutrauen braucht, um zu gelingen.“
       
       Diese Zeilen schreibt Wolf, der erwachsene Sohn Elisabeths und Walters, an
       Luisa, die Freundin der mittlerweile verstorbenen Eheleute, und kaum sind
       die Namen im Text gefallen, werden sich Leserinnen und Leser der beiden
       vorangegangenen Kriegs- und Nachkriegsromane Ralf Rothmanns an die
       Schicksale der Figuren erinnern, vielleicht erst bruchstückhaft, dann aber
       immer klarer.
       
       ## Das Leben der Mutter
       
       Die Arbeit an der familienbiografischen Trilogie, die von wiederkehrenden
       Gewalterfahrungen handelt, kann dem Autor nicht leichtgefallen sein:
       Rothmann hat sich Zeit genommen, vor dem Buch über das Leben der Mutter
       einen Erzählband herausgegeben – als brauche er noch etwas Abstand, um die
       Geschichte dieses so widersprüchlichen Menschen angemessen zu vollenden.
       
       Tatsächlich ist es auch ratsam, auf dem vorgegebenen Erinnerungspfad zu
       bleiben, also [1][„Im Frühling sterben“] zuerst zu lesen und von Walters
       Vergangenheit als zwangsrekrutiertem SS-Jüngling zu erfahren, die in den
       Folgebüchern nur angedeutet wird. Für das Verständnis der Geschehnisse sind
       nicht nur die Abgründe dieses Charakters zentral, auch die Kenntnis von
       Luisas Kriegsjugend, die in „Der Gott jenes Sommers“ dargestellt wird,
       erleichtert die Lektüre des neuen Romans. Denn abgesehen von den kurzen
       Briefpassagen des Sohnes und den regelmäßig eingestreuten Kriegsszenen,
       nähern wir uns Elisabeth in „Die Nacht unterm Schnee“ vor allem aus Luisas
       Perspektive.
       
       ## Spaß als ausgleichende Gerechtigkeit
       
       Die Erzählerin ist beeindruckt von der selbstbewussten Freundin, erkennt
       aber auch ihre tiefen Verletzungen, etwa wenn sie zusammenzuckt, sobald ihr
       betrunkene Männer in Uniform entgegenkommen. Es gehört zur Paradoxie
       Elisabeths, dass sie ausgerechnet jene Leute anhimmelt, die sie an
       schlimmste Zeiten erinnern. Russische Soldaten haben sie in einem düsteren
       Holzverschlag vergewaltigt. Schwer verletzt konnte sie den Peinigern
       entkommen. Ein anderer Russe hat sie dann in einem unterirdischen Versteck
       wieder aufgepäppelt. Sie überlebte, auch wenn sie sich in manchen Nächten
       unterm Schnee den Tod wünschte.
       
       Seitdem aber gibt es keine Balance mehr in ihrem beschädigten Leben. Nahezu
       glücksgierig wirkt Elisabeth nach dem Krieg, versucht kein Amüsement
       auszulassen, als habe sie den immer währenden Spaß als eine Art
       ausgleichende Gerechtigkeit verdient. Immer wieder bricht sie zusammen,
       begeht einen Suizidversuch, und zwar in der Kantine des neuen
       Sozialministeriums, die von Luisas Mutter bewirtschaftet wird. Dort lernt
       sie auch Walter kennen, wird ihn nach langer Verlobungszeit heiraten, ihm
       sogar auf einen Bauernhof mit kräftezehrender Milchwirtschaft folgen,
       obwohl sie lieber in der Stadt bleiben würde.
       
       ## Nicht besser als die Freundin
       
       Immer wieder betrügt Elisabeth ihren gutmütigen Mann, der durchaus etwas
       ahnt, sich aber nicht beschwert. Es ist eine lieblose Ehe zweier trostloser
       Menschen, die sich doch brauchen. Vielleicht hätte es dem unglücklichen
       Paar geholfen, gemeinsam über die Erlebnisse im Krieg zu sprechen. Beide
       wählen den Weg der Verdrängung, unter dem nicht nur der gemeinsame Sohn
       Wolf leiden wird.
       
       Luisa schildert die Irrwege ihrer Freundin durchaus mit Verständnis, steht
       aber keineswegs loyal an ihrer Seite. Seit Kindertagen hegt sie selbst
       Gefühle für den zupackenden und gut aussehenden Walter, und als sich
       endlich die Chance bietet, mit dem Mann ins Bett zu gehen, verhält sie sich
       nicht besser als die oft kritisierte Freundin.
       
       ## Panorama der Wirtschaftswunderjahre
       
       Der Roman, der zunächst die unterschiedlichen Versuche der
       kriegstraumatisierten Protagonisten beschrieb, sich in der neuen
       Friedensordnung zurechtzufinden, entwickelt sich schon bald zu einem großen
       Panorama der Wirtschaftswunderjahre. Walter und Elisabeth haben den
       Bauernhof verlassen, leben nun im Ruhrgebiet. Der Mann schuftet im Bergbau
       und scheint froh zu sein, sich und sein Leid zumindest tagsüber in den
       dunklen Schächten verbergen zu können.
       
       Ralf Rothmann hat in den beiden vorangegangenen Teilen oft mit
       surrealistischen Szenen sowie mit Bezügen in die Geschichtsbücher
       vergangener Kriege gearbeitet. „Die Nacht unterm Schnee“ ist deutlich
       zurückhaltender, was die Wahl der ästhetischen Mittel anbelangt. Rothmann
       konzentriert sich auf die „kleine wilde Mutter“, die über sich selbst
       einmal sagt: „Die Sehnsucht verändert die Moleküle.“ Irgendetwas im
       Innersten dieser Frau ist wirklich mutiert, vermutlich weniger wegen
       unerfüllter Sehnsüchte, sondern vielmehr durch ihre verheerenden
       Kriegserfahrungen. Unfassbar, dass diese Frau, statt aus dem Leid zu
       lernen, ihren Frust an den Nachwuchs weitergibt – womit diese Figur gewiss
       stellvertretend für eine ganze Müttergeneration steht: „In der Kindheit
       prügelte sie uns bei jeder Gelegenheit; sie schlug Kochlöffel auf uns
       kaputt, wobei es meistens um nichts ging, um einen Grasfleck auf der
       Sonntagshose, um verschüttete Milch.“
       
       ## Sie werden schuldlos Schuldige
       
       Viele Romanpassagen, die stumpfe Gewaltexzesse beschreiben, erinnern an
       aktuelle Kriegsberichte. Die vielen Toten, Verletzten und seelisch
       Verstümmelten werden ihr Leid wohl wieder den nächsten Generationen
       vererben. Sie werden schuldlos Schuldige; ein Thema, das sich durch die
       gesamte Trilogie Rothmanns zieht. Neben der gesellschaftspolitischen
       Dimension seiner Prosa betreibt der Autor immer auch eine literarische
       Feldforschung. Wie Luisa die Poesie Rilkes nutzt, um sich von der
       Vergangenheit zu befreien, so hat es Rothmann geschafft, eine sehr eigene
       Form der biografischen Fiktion zu entwickeln, die von Kritik und Publikum
       meist gefeiert, manchmal auch als Kitsch abgetan wurde.
       
       Ein Grund für diese seltsam persönlichen Angriffe könnte darin liegen, dass
       der Autor mit den ästhetischen Maßgaben der Nachkriegsliteratur bricht.
       Rothmann lässt nicht allegoriewild auf Blech trommeln; dieser Autor spürt
       den emotionalen Verwerfungen seiner Figuren nach, spiegelt sie oft im Leid
       der Tiere.
       
       Seine Prosa ist der amerikanischen Unterhaltungsliteratur näher als der
       mittlerweile angestaubten Avantgarde bundesrepublikanischer Prägung.
       Rothmann berührt. Das wurde ihm oft vorgeworfen. Aber was spricht
       eigentlich dagegen? Der Autor bringt zudem sich und seine Leiderfahrung
       ein. Damit reiht er sich in eine weibliche Tradition europäischer
       Autofiktion ein.
       
       ## Die sanfte Heilkraft der Literatur
       
       Rothmann glaubt durchaus an eine sanfte Heilkraft der Literatur. Seine
       Stilistik wendet sich gegen einen autoritären Erzählanspruch. Die zentralen
       Figuren seiner Familiengeschichte werden in den drei Büchern mit
       unterschiedlichen Schwerpunkten aus stets verschiedenen Blickwinkeln
       geschildert.
       
       Das Spiel mit den teils widersprechenden Perspektiven auf die Lebensläufe
       gehört also zum ästhetischen wie politischen Programm dieser immer auch
       selbstkritischen Prosa. Erst im Zusammenspiel entsteht ein überragendes
       Gesamtwerk literarischer Geschichtsschreibung. Ralf Rothmann gab sich im
       Romankontext den Vornamen Wolf – weil er vielleicht ahnte, dass die
       literarische Reflexion über die eigene Familie keineswegs die Arbeit eines
       schreibenden Lamms ist.
       
       19 Jul 2022
       
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