# taz.de -- Roman über die deutsche Nachkriegszeit: „Sargholz bis zum Horizont“
       
       > In seinem Roman „Im Frühling sterben“ erzählt Ralf Rothmann vom Ende des
       > Zweiten Weltkriegs und von dem Beginn beschädigter Biografien.
       
 (IMG) Bild: Romanfigur Fiete schaut über die Wälder und auf die Bäume, aus denen bald Särge werden.
       
       Im vorangegangenen Krieg, dem, den wir heute den Ersten Weltkrieg nennen,
       wurde Fiete Carolis Vater, von Beruf Arzt, mehrfach verletzt. In
       französischer Gefangenschaft musste er dreimal sein eigenes Grab schaufeln.
       Fiete selbst wiederum hat später immer wieder von seiner eigenen
       Hinrichtung geträumt. „Als ich meine Träume erwähnte, sagte er mir, dass es
       ein Gedächtnis der Zellen in unserem Körper gibt, der Samen- und Eizellen
       also, und das wird vererbt. Seelisch oder körperlich verwundet werden macht
       was mit den Nachkommen.“
       
       Es ist Anfang April 1945, als Fiete diese Sätze zu seinem Kindheitsfreund
       Walter Urban sagt; Fiete wird nicht mehr lange zu leben haben; in wenigen
       Stunden wird er als Deserteur hingerichtet werden. Walter wird
       abkommandiert, an der Erschießung teilzunehmen. Gerade mal 18 Jahre alt
       sind Fiete und Walter zu diesem Zeitpunkt.
       
       Ralf Rothmann ist einer der besten lebenden deutschsprachigen
       Schriftsteller. Er ist ein grandioser Beobachter sozialer Milieus, der
       Randständigen, der Malocher, Zukurzgekommenen, Gescheiterten. Es muss einen
       guten Grund geben, dass einer wie Rothmann sich auf das Glatteis eines
       Romans begibt, dessen Stoff gerade in den vergangenen Jahren noch einmal
       auf breiter medialer Front aufbereitet wurde, sodass die vorgefertigten
       Bilder jederzeit im Kopf abrufbar sind: Die letzten Monate des „Dritten
       Reichs“, der Untergang, die Befreiung. Kollektive und individuelle Schuld;
       die Berechtigung eines Worts wie „Neuanfang“. Doch wie Rothmann diese
       Geschehnisse erzählt, fügt sich wiederum haargenau in den Kosmos seiner
       großen Ruhrgebietsromane wie „Stier“, „Wäldernacht“ oder „Junges Licht“.
       
       Derjenige, der die Geschichte aufschreibt, ist Walter Urbans Sohn, von
       Beruf Schriftsteller. Der Vater ist nach dem Krieg ins Ruhrgebiet
       zurückgekehrt, von wo er ursprünglich auch stammte, bevor er in
       Norddeutschland eine Ausbildung zum Melker begann und in den letzten
       Kriegsmonaten von der Waffen-SS zwangsrekrutiert wurde.
       
       ## „Du bist doch der Schriftsteller“
       
       Walter Urban hat sich nach dem Krieg unter Tage krumm geschuftet; zu seiner
       Pensionierung hat der Sohn ihm eine Kladde geschenkt, verbunden mit der
       Bitte, seine Kriegserlebnisse aufzuschreiben. “Du bist doch der
       Schriftsteller“, bekommt er als Antwort zurück. Die Arbeit, die der Sohn
       dem Vater auferlegen wollte, muss er nun also selbst tun. Das Ergebnis ist
       der Roman, den wir vor uns haben.
       
       „Das Schweigen, das tiefe Verschweigen, besonders wenn es Tote meint, ist
       letztlich ein Vakuum, das das Leben irgendwann selbst mit Wahrheit füllt.“
       Eine Sentenz, mit der „Im Frühling sterben“ anhebt und die typisch ist für
       Ralf Rothmann, der seine Nähe zum Sentiment nie verborgen hat und als ein
       Erfinder einer ganz speziellen Ausprägung eines romantischen Realismus
       gelten darf. Dieses Konzept birgt stets die Gefahr in sich, an die
       Randgebiete des Süßlichen vorzustoßen. Nicht aber hier. Der Roman ist voll
       von eindringlichen Passagen, in denen die Brutalität, der Gestank, das Leid
       und vor allem die Sinnlosigkeit des Krieges plastisch werden.
       
       Daraus können nur beschädigte Biografien hervorgehen. Es sind die
       Biografien jener Männer (und auch Frauen), die Rothmann in seinen früheren
       Büchern aufgeschrieben hat, die der pflichterfüllten Schweiger und
       Schaffer, die der Erzeuger des Wirtschaftswunders, in deren Köpfen die
       Erinnerung an den Krieg erst einmal beiseite geschafft wurde. Daraus, dass
       es die Geschichte seines eigenen Vaters ist, die er hier aufgeschrieben
       hat, macht Rothmann in Interviews keinen Hehl. Es ist eine brutale
       Geschichte.
       
       ## Es geht um Freundschaft
       
       Rothmann ist aber auch ein Autor, der nicht ohne Schönheit auskommt, ohne
       ein Gegenbild, in dem zumeist Tiere eine wichtige Rolle spielen. Auch in
       „Im Frühling sterben“ gibt es solche Szenen, zumeist spielen sie nachts und
       fallen aus dem Kontext, aus der Zeit heraus. Da ist Walter unterwegs in
       Richtung Front, um das Grab seines gefallenen Vaters zu suchen; im
       nächtlichen Mondlicht liegt er im Steppengras, aus dem Tal krächzen die
       Lautsprecher der Russen, die die deutschen Truppen zum Aufgeben bewegen
       wollen, und in der darauf folgenden plötzlichen Stille hört Walter
       Schritte, „und endlich sah er die Beine direkt neben sich, die schwarz
       glänzenden, bei jedem Auftreten sich leicht spreizenden Paarhufe eines
       Rehbocks, dessen Schatten mit dem kurzen Gehörn schräg über die Straße fiel
       und der im selben Augenblick zu wittern schien. Er schnaufte rau, es hörte
       sich wie ein Röcheln an, und Dreck hochwirbelnd, kleine Steine, sprang er
       zur Seite und verschwand im Gebüsch.“
       
       Der Roman singt nicht das Lied des guten, verführten Deutschen. Um
       Kameradschaft geht es nicht, sondern um Freundschaft. Alles bleibt
       ambivalent, und vieles wird erst gar nicht ausgesprochen. Als Beispiel das
       Schicksal von Walters Vater, eines Mannes, über den sich wenig Gutes sagen
       lässt: herrschsüchtig, unberechenbar. Als Aufseher im KZ Dachau schenkt er
       Häftlingen ein paar Zigaretten, wird strafversetzt und kommt schließlich in
       Ungarn um, nicht weit entfernt von jenem Ort, an dem sein Sohn Walter
       selbst zu diesem Zeitpunkt stationiert ist.
       
       Was er da in Dachau getan hat, weiß seine Frau nicht; sie spricht von den
       Verbrechern, die dort hätten bewacht werden müssen. Der Leser weiß es
       besser und kann sich aus den Fragmenten die historische Wahrheit
       zusammensetzen. Das Urteil über seine Figuren spricht Rothmann nicht. Die
       Kategorien von Gut und Böse, in der Jetztzeit eindeutig justiert,
       verschwimmen in „Im Frühling sterben“ immer wieder.
       
       ## „Hoffentlich ist der Scheiß hier bald vorbei“
       
       Es gibt Passagen, in denen das Männerbündlerische des Militärs in den
       Vordergrund tritt. Wie sollte es auch anders sein? Aber auch das wird
       vorgeführt, inszeniert mit all den dazugehörigen Absurditäten. Die Frauen
       sind zu Hause, warten und schlagen sich durch. Auch davon wird erzählt,
       später, als der Krieg zu Ende ist und die jungen Männer früh gealtert
       zurückkommen, desorientiert und ohne recht begriffen zu haben, was mit
       ihnen geschehen ist. Das kommt später, wenn die Bilder aus der Erinnerung
       zurückkehren, von unschuldig gehenkten oder erschossenen Zivilisten. Oder,
       wie in Walters Fall, von seinem Freund Fiete, an dessen Schicksal Rothmann
       die Mechanismen von Gehorsam, Widerstandsgeist und Eigenverantwortlichkeit
       durchspielt.
       
       Im Jahr 1987, das ist die Rahmenerzählung, erhält Walter Urban die
       Nachricht, dass es in wenigen Monaten zu Ende gehen wird mit ihm. Da ist er
       gerade mal sechzig Jahre alt. An sich herumschnippeln lassen, so sagt
       dieser Mann, der Cordjacken trug und Jerry-Cotton-Romane las, werde er
       nicht. Und: „Hoffentlich ist der Scheiß hier bald vorbei.“
       
       So sind die Menschen in Ralf Rothmanns Romanen; „Im Frühling sterben“, so
       scheint es, musste geschrieben werden, um diesen Figuren im Nachhinein ein
       Fundament zu geben und um das Schweigen zu überwinden, in das diese
       verlorene Generation sich gehüllt hat. Und bei allem Realismus, den seine
       Bücher auszeichnet, gelingt es Rothmann auch immer, einen Raum zu öffnen,
       der in Andeutungen, in kleinen Gesten, Beobachtungen, Bildern und
       Erkenntnissen einen weiteren Raum aufschließt, in dem sich etwas
       Transzendentales befindet. Oder auch nur Trost.
       
       Unmittelbar nach ihrer Grundausbildung sitzen Walter und Fiete auf einem
       Hochplateau und blicken über die Wälder. „Sargholz bis zum Horizont“,
       murmelt Fiete. Da weiß er noch nicht, dass er noch nicht einmal einen Sarg
       bekommen wird.
       
       27 Jun 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christoph Schröder
       
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