# taz.de -- Alte Gewissheiten neu hinterfragt: Werden Kriege wieder normal?
       
       > Wir leben nicht mehr in der Welt, in der wir glauben zu leben. Und in der
       > neuen wird es wahrscheinlich mehr Gewalt geben.
       
 (IMG) Bild: Neue Normalität? Mädchen auf zerstörtem russischen Panzer, nahe Kiew, Mai 2022
       
       Wir leben nicht in der Welt, in der wir zu leben glaubten, und wir sind
       jetzt in einer Übergangsphase, in der das alte und das neue Denken
       aufeinanderprallen. Sowohl was die Klimakrise angeht als auch den
       russischen Angriffskrieg auf Europa, begegnen viele dieser neuen Welt noch
       mit der gewohnten Kultur und den eingeübten Gefühlen. Versuche, sich
       realpolitisch der Klimakrise zu stellen, werden als Freiheitsberaubung und
       soziale Ungerechtigkeit delegitimiert, Versuche, dem Krieg realpolitisch
       denkend zu begegnen, kategorisch als „bellizistisch“ und
       „menschenverachtend“ abzuwehren versucht. Wie man das halt immer so machte.
       
       Lassen wir wegen mangelnder Relevanz die historisch Geprägten außen vor,
       die immer noch die Nato als das Grundproblem sehen. Aber auch die
       Diskussion zwischen denen, die seit einiger Zeit für Waffenlieferungen sind
       und denen, die Waffenlieferungen als falsch betrachten, greift zu kurz.
       
       Die alte deutsche Logik: Wir machen nicht mit. Weil wir aus unserer
       Geschichte gelernt haben (und selbst ja gemütlich unter amerikanischem
       Schutz stehen). Die neue deutsche Logik: Die Ukrainer sollen Waffen
       kriegen, aber wenn sie am Ende doch verlieren, dann können wir auch nichts
       machen, denn wir dürfen nicht den Dritten Weltkrieg auslösen.
       
       Was ein sehr wichtiger Leitgedanke ist. Genau deshalb plädiere ich für das,
       was [1][Florence Gaub] in taz FUTURZWEI vorschlägt: „Wir müssen uns
       Szenarien einer böseren Welt überlegen.“ Heißt: Wir brauchen auch eine
       Antwort, wenn eine (Teil-)Eroberung der Ukraine erst der Anfang ist, und
       Putin im Baltikum einmarschiert. Sagen wir dann: Na ja, Baltikum. Und wenn
       er in Polen einmarschiert? Sei’s drum, das sind ja letztlich auch Slawen.
       Und wenn Putin Deutschland angriffe? Das ist jetzt echt bedauerlich, aber
       wir dürfen nicht den Dritten Weltkrieg auslösen, also bemüht euch nicht,
       Nato, wir geben besser gleich auf?
       
       Nein, wir sagen: Wie kann man so etwas auch nur denken! Das wird Putin auf
       keinen Fall tun, never. Das wissen wir hundertprozentig. Nichts wissen wir.
       Nichts von dem, wie wir die Welt haben wollen, gilt in Putins Welt. Ja, wir
       müssen vorsichtig sein, deshalb hat die Nato ja auch beschlossen, die
       Ukraine zu unterstützen, aber nicht zu intervenieren. Aber wir müssen es
       gleichzeitig wagen, von jedem möglichen Ende her zu denken, und ein Ende
       kann eben auch sein, dass wir einen größeren Krieg dadurch auslösen, dass
       wir immer laut sagen, dass wir ihn nicht auslösen wollen.
       
       Eine Antwort auf ein gutes Szenerio sind Friedensverhandlungen, mit deren
       Ergebnis alle leben können. Eine Antwort auf ein böses Szenario bestünde
       darin, Putin klarzumachen, dass wir, der Westen, die Nato, militärisch
       stärker sind – und bereit, ihm das zur Not auch zu beweisen.
       
       Für den bulgarischen Historiker [2][Ivan Krastev] geht mit dem Überfall auf
       die Ukraine eine Epoche zu Ende, in der wir alles in Bezug auf den Zweiten
       Weltkrieg verstehen wollen und speziell die Deutschen Gewalt stets in
       „Außergewöhnlichkeits-Diskursen“ verhandeln. „Wir werden sehr
       wahrscheinlich in eine Welt wechseln, in der es sehr viel mehr Gewalt geben
       wird“, sagt Krastev. Das böse Szenario, das sich daraus ergibt: Kriege
       werden wieder normal. Die Gewaltoption ist Voraussetzung einer freien und
       emanzipatorischen Zukunft. Wir sollten auch das denken können. Auch wenn’s
       wehtut.
       
       3 Aug 2022
       
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