# taz.de -- Neues Buch aus Nachlass von Imre Kertész: Das Paradox des Überlebenden
       
       > Sechs Jahre nach seinem Tod ist ein Arbeitstagebuch von Imre Kertész
       > erschienen. Der Autor schildert die Sehnsucht nach dem
       > Konzentrationslager.
       
 (IMG) Bild: Die Anerkennung für seine Romane kam spät: der Schriftsteller Imre Kertész 2006 in Berlin
       
       Dass Imre Kertész vom „Glück der Konzentrationslager“ schreiben konnte,
       haben ihm Kritiker:innen lange übel genommen. Sein jugendlich
       unbedarfter Protagonist in „Roman eines Schicksallosen“ stelle eine
       Verhöhnung der Nazi-Opfer dar, hieß es; als wäre Kertész nicht selbst eins
       dieser Opfer gewesen. Das Glück der Konzentrationslager und mehr noch
       [1][das Leben im Unglück nach dem Entkommen steht im Mittelpunkt seines
       literarischen Schaffens.]
       
       Imre Kertész, geboren 1929 in Budapest, hat die Todeslager Auschwitz und
       Buchenwald überlebt – eine „Panne“, wie er es in Anlehnung an Friedrich
       Dürrenmatt und Jean Améry nennt – um sich in einer Gegenwart
       wiederzufinden, in der seine ungarischen Mitbürger:innen jegliche
       Mittäterschaft abstreiten.
       
       „So ‚kamen‘ zum Beispiel die Judensternhäuser, ‚kam‘ der fünfzehnte
       Oktober, ‚kamen‘ die Pfeilkreuzler, ‚kam‘ das Ghetto, ‚kam‘ die Sache am
       Donau-Ufer, ‚kam‘ die Befreiung“, lauscht der ehemalige KZ-Häftling György
       Köves in „Roman eines Schicksallosen“ nach seiner Rückkehr den
       Dagebliebenen. Dabei soll die Brutalität und Dienstfertigkeit der Ungarn
       bei der Deportation der Jüd:innen aus ihrem Land selbst Adolf Eichmann
       beeindruckt haben.
       
       Kertész schreibt seinen „Buchenwald-Roman“ nicht als Bewältigungstherapie.
       Ausgangspunkt ist die unverständlich bleiben müssende Sehnsucht nach dem
       Lager; das „Heimweh, das dieses Schreiben inspirierte, ist die Flucht vor
       der Wahrheit der sich wandelnden Welten in die unverrückbare Klarheit der
       in Buchenwald erkannten ewigen Wahrheit“, schreibt er.
       
       „Heimweh nach dem Tod“ ist auch das kürzlich aus dem Nachlass erschienene
       Arbeitstagebuch (1958 bis 1962) Kertész’ überschrieben, in dem der spätere
       Nobelpreisträger zur Einsicht in die Notwendigkeit des Schreibens über das
       Erlebte gelangt.
       
       ## Aufgabe jeglicher Individualität
       
       Über die frühe Zeit Kertész’ war bislang wenig bekannt, der damals knapp
       30-jährige Noch-nicht-Schriftsteller wohnt mit seiner Frau Albina in einer
       engen Einzimmerwohnung in Budapest, der Hauptstadt eines sich
       konstituierenden kommunistischen Staates. Das fürchterliche Elend des
       Lagers kommt ihm im Rückblick verschönt, manchmal „sonderbar anziehend“
       vor. Er begreift, dass die völlige Aufgabe jeglicher Individualität
       erlösend, sogar lustvoll sein kann, darin, „dass wir überhaupt nichts
       anderes zu tun haben, als zu vegetieren“.
       
       Irgendwann ist selbst Hunger, Kälte und Schmerz vergessen. „Was auch immer
       um uns herum geschieht, wir nehmen es nicht mehr wahr“, schreibt Kertész in
       einem Eintrag aus dem Jahr 1960. „Die Nasen laufen, die Augen triefen und
       wir lassen ohne Zögern unsere Exkremente ab, ohne die Hose
       herunterzulassen. Wer sich in einem solchen Zustand befand, wurde Muselmann
       genannt. (…) Der Muselmann leidet nicht. (…) Der Mensch kann nie so nahe
       bei sich selbst und bei Gott sein wie der Muselmann unmittelbar vor seinem
       Tod.“
       
       In seinen Tagebüchern arbeitet er noch mit dem Arbeitstitel „Ferien im
       Lager“, später erscheint ihm „Der Muselmann“ für seinen 1975 erscheinenden
       KZ-Roman als passender.
       
       ## Singuläre Erzählweise
       
       Es ist die Genauigkeit, die an den Arbeitstagebüchern verblüfft, mit der
       Kertész schon vor dem Schreiben des „Roman eines Schicksallosen“ dessen
       singuläre Erzählweise definiert, ja, sein Werk im Voraus interpretiert. „Es
       geht um den Blickwinkel, eine bestimmte verschleierte, skizzenhafte
       Darstellungsweise, die aber sehr rhythmisch ist durch die hintergründige
       Spannung. Der Ton selbst ist primitiv“, hält er fest.
       
       Die Perspektive eines 14-Jährigen, dem die adrette Erscheinung eines
       SS-Mannes Vertrauen einflößt, der das Lächeln des Lagerarzts als gütig
       empfindet. Ein mittlerweile 15-Jähriger, den die Befreiung des Lagers erst
       dann erleichtert, als er sicher sein kann, dass es trotzdem am Abend eine
       Suppe zu essen gibt.
       
       „Die Dialektik von Leben und Tod im Spiegel einer durchschnittlichen Seele
       aufzuzeigen“, davon solle sein Roman handeln und davon handele auch Thomas
       Manns „Zauberberg“. Kertész führt überraschende Beispiele aus Literatur,
       Film und Philosophie an, die er in geistiger Verwandtschaft zu seinem Werk
       sieht.
       
       Alain Resnais’ arkadisch demütiger Film „Hiroshima, mon amour“ überzeugt
       Kertész davon, jegliches Schmuckwerk, Posenhafte in seinem Schreiben
       auszuklammern. Dostojewskis Raskolnikow begleitet ihn für Jahre. Camus und
       Nietzsche sind ihm wichtig, mehr noch Schopenhauer, dessen „Welt als Wille
       und Vorstellung“ hinter jedem Kertész-Roman durchscheint.
       
       ## Leiden an der Langsamkeit
       
       Nicht nur der Wille zum Leben ist es, der ihn beschäftigt, sondern auch die
       scheinbare Zufälligkeit bei der Rollenzuweisung von Opfer und Täter.
       Schopenhauers Losung „der Gequälte und der Quäler sind eines“ manifestiert
       sich bei Kertész in seiner Erfahrung als Gefängniswärter während seines
       Militärdienstes. Nicht Auschwitz, das Erdulden, habe ihn zum Schriftsteller
       gemacht, sondern das Militärgefängnis, die Situation des Henkers, bekennt
       er später.
       
       Überhaupt wäre der „Roman eines Schicksallosen“ wohl nicht so geschrieben
       worden, ginge ihm nicht das Scheitern eines anderen Romanprojekts voraus.
       Kertész' Arbeitstagebücher beginnen mit dem Leiden an seiner Langsamkeit,
       seiner Unfähigkeit, den „Ich, der Henker“ genannten Roman über einen in
       Haft sitzenden NS-Verbrecher zu Papier zu bringen.
       
       Den Text sollte Kertész sein Leben lang nicht schreiben, im Nachlass finden
       sich lediglich Entwürfe des ersten Kapitels dazu. Doch hielt er an der
       Überzeugung fest, dass die Verfolgung der Juden, dass Auschwitz lediglich
       eine historische Tatsache, aber nicht Ergebnis einer zwangsläufigen
       Entwicklung gewesen sei. Kertész habe sich nicht dem Narrativ
       angeschlossen, das Schicksal der Juden sei es, auf ewig verfolgt zu werden,
       sagt Katalin Madácsi-Laube, die den Kertész-Nachlass bearbeitet.
       
       ## Viel unveröffentlichtes Material bereit
       
       Der Nachlass liegt im Literaturarchiv der Akademie der Künste in Berlin,
       was Kertész vor seinem Tod verfügt habe. „Er wollte, dass er in Sicherheit
       und an einem Ort ist, wo seine Werke große Wirkung entfaltet haben“, sagt
       sie. Dieser Nachlass halte noch viel unveröffentlichtes Material bereit. Er
       umfasse komplette Briefwechsel, Prosafragmente und 1.300 Seiten an
       Tagebuchaufzeichnungen.
       
       Die gebürtige Ungarin hat ihr Land nach dem Zerfall des Ostblocks
       verlassen, studierte Germanistik und Geschichte in Freiburg und Göttingen.
       Erst in Deutschland habe sie das erste Mal von Imre Kertész gehört. Dessen
       Erfolg hängt unmittelbar mit Deutschland zusammen, erhielt er doch mit
       Erscheinen der deutschen Übersetzung von „Roman eines Schicksallosen“ durch
       Christina Viragh 1996 hierzulande die Anerkennung, die ihm in Ungarn
       zunächst verwehrt blieb.
       
       Kertész wurde nicht nur durch seine Bücher, sondern in seinen späten Jahren
       auch wegen seiner Essays und Reden bekannt. In „Holocaust als Kultur“
       plädiert er dafür, die Katastrophe des 20. Jahrhunderts als gemeinsame und
       im Nachhinein verbindende europäische Erfahrung zu werten.
       
       Die Bereitschaft in Deutschland, sich mit der NS-Vergangenheit
       auseinanderzusetzen, lobte er, auch weil er in Ungarn ganz andere
       Erfahrungen gemacht hat, sagt Madácsi-Laube. [2][Der in den 90er Jahren in
       Ungarn offen zutage tretende Antisemitismus habe ihn überrascht, die sich
       auftuenden Gräben auch unter Intellektuellen bestürzt.] Dieses Klima
       verließ Kertész 2001 und zog mit seiner zweiten Frau Magda nach Berlin.
       
       ## Theaterstück für die DDR
       
       Ins Land der Täter kehrte Kertész nach seiner Haft in Buchenwald erstmals
       nach 20 Jahren zurück. Im Roman „Der Spurensucher“ (1977) erzählt er von
       einem ehemaligen KZ-Insassen, der nach Zeitz reist, ein Außenlager
       Buchenwalds, in dem auch Kertész inhaftiert war, das er jedoch
       unwiederbringlich verändert vorfindet. Der kathartische Effekt der Reise
       bleibt aus.
       
       Finanziell ermöglicht hatte die Reise die DDR, die ein Theaterstück von ihm
       für das ostdeutsche Publikum adaptieren wollte, erzählt Madácsi-Laube. Das
       ist insofern erwähnenswert, als Kertész seine Stücke, „die Komödien“,
       ungern schrieb und nie seinem Œuvre zurechnete. In den Arbeitstagebüchern
       beklagt er die Zeit, die sie ihm zuungunsten seiner Prosa rauben. Doch er
       benötigte ihren Ertrag, um sein fruchtloses Romanschreiben zu finanzieren.
       Später wird er als Übersetzer tätig, überträgt etwa Nietzsche ins
       Ungarische.
       
       Der Nihilist Nietzsche plädierte für ein selbstgewähltes Sterben („frei zum
       Tode und frei im Tode“). Mit der Selbsttötung hat sich Kertész viel
       befasst. Am eindrücklichsten verarbeitet er das in „Liquidation“, dem 2003
       erschienenen Roman über den Suizid eines Schriftstellers, der Auschwitz
       überlebt hat. Der Überlebende „sei nicht tragisch, sondern komisch, weil er
       kein Schicksal habe. Auf der anderen Seite lebe er mit einem tragischen
       Schicksalsbewusstsein“, bringt Kertész knappe 30 Jahre nach dem „Roman
       eines Schicksallosen“ das Paradox seines Lebens auf den Punkt.
       
       Schriftstellerkollegen wie Primo Levi und [3][Jean Améry, die ebenfalls
       über die Lager schrieben,] hielten die Absurdität der „Panne“ des
       Überlebens nicht aus, begingen Jahrzehnte nach dem Holocaust Suizid. Ihn
       habe der Stalinismus gerettet, so Kertész, da er ihn davor bewahrte, sich
       jemals in Freiheit zu wähnen.
       
       30 Jul 2022
       
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