# taz.de -- Werkübersicht des Architekten-Duo Baller: Wo die Sonne von unten scheint
       
       > Viele ihrer Gebäude entstanden im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus der
       > 70er- und 80er-Jahre. Aber auch heute kann man vom Duo Baller lernen.
       
 (IMG) Bild: Baller’sches Haus am Fraenkelufer (1982–85) in Berlin-Kreuzberg
       
       In West-Berlin wird kaum jemand nicht zumindest einen der Bauten des
       Architektur-Duos Inken und Hinrich Baller in Erinnerung haben. Sie waren in
       aller Munde und beliebt noch bei denjenigen, die ihnen unter
       Hundertwasser-Verdacht den FSK-Song „Geh doch nach Indien“ hinterhersangen.
       Haltbarkeit haben Gebäude nicht nur dank solider Bausubstanz, sondern auch
       im Sinne der Akzeptanz oder wegen ihres Provokationsgehalts. Früher wirkten
       die Gebäude versponnen, expressiv und hippiesk.
       
       Doch erkennt man in angesagten Arno-Brandlhuber-Gebäuden nicht ähnlich
       spirrelige Geländer wieder? Selbst am Kanzleramt taucht diese prägnant
       türkise Farbgebung auf. Sind frei gestaltbare Grundrisse für
       dauerflexibilisierte Individuen gerade up to date und könnte man die weit
       auskragenden und vollgerankten Balkonschalen von damals nicht in Stellung
       bringen gegen die Cremeboxen aktueller Baumoden?
       
       Anlass zur Revision bietet das voluminöse Buch „Visiting Inken Baller &
       Hinrich Baller“ herausgegeben vom Architekt:innenkollektiv urban
       fragment observatory. Das Team aus Jeanne Astrup-Chauvaux, Sebastian Díaz
       de León, Lena Löhnert und Florine Schüschke gruppierte sich im
       UdK-Studiengang „Entwerfen und Stadterneuerung“ von Jean-Philippe Vassal
       vom Büro Lacaton/Vassal.
       
       Und so wird verständlich, warum ein Blick zurück auf die Zeit des älteren
       Duos Inken und Hinrich Baller – sie starteten mit einem ersten Projekt 1966
       und trennten sich 1989 – zugleich in die Zukunft weist.
       
       ## Pläne, Aufsätze, Baustellenfotos, Luftbilder
       
       Beim Durchblättern des Buchs ist zu erkennen, wie wenig gut die Autos vor
       den Neubauten gealtert sind, während die Bauten heute genau richtig wirken
       – sieht man mal von der fehlenden thermischen Dämmung oder wenig
       behinderten- und altengerechten Wendeltreppen ab.
       
       Umso erstaunlicher ist es, dass die Architekt:innen über 80 Jahre alt
       werden mussten, um eine erste Werkübersicht in der Hand zu halten. Das Buch
       bietet in vielfacher Hinsicht lohnenswerte Wiederbesuche der
       Architekt:innen, Architekturen und ihrer aktuellen Bewohner:innen an.
       
       Materialien wie Verkaufsbroschüren, Pläne, Aufsätze, Baustellenfotos,
       Luftbilder sowie ausführliche fotografische Dokumentationen des
       Ist-Zustands im Gebrauch, wo der Schrubber noch am Balkon lehnt und der
       Arbeitstisch mit Tellern und Fernbedienungen belegt ist, lassen sich beim
       Durchblättern finden.
       
       Jahrgang 1936 beziehungsweise 1942, war das Duo Teil der 1968er-Revolte.
       Das Manifest „Diagnose zum Bauen in West-Berlin“ – [1][eine heute teuer
       gehandelte Do-it-yourself-Dokumentation] – analysierte die kapitalistische
       Bodenpolitik, den Baufilz oder die Theoriearmut der Ausbildung.
       Unterzeichner des Manifests waren unter anderem die heute kaum mehr unter
       einen Hut zu bringenden Hinrich Baller, Helmut Maier, Jonas Geist, Josef
       Paul Kleihues, Ingrid Krau, Nikolaus Kuhnert oder Jürgen Sawade.
       
       ## Boheme, Randale, Zuwanderung und Altersarmut
       
       Während manche sich vom Bauen verabschiedeten, wollte das Duo Baller
       weiterhin praktizieren. „Dass eine neue Zeit auch eine neue Architektur und
       eine neue Architektenhaltung braucht, war mir sehr bewusst“, beschreibt
       Hinrich Baller seine Position. Dies gelang jedoch nur als „Schmuggelware“.
       Die sozialistische Moderne der 1920er Jahre war nach dem Zweiten Weltkrieg
       zum Bauträger-Funktionalismus des „Wiederaufbaus“ korrumpiert, die das alte
       Kreuzberg zertrümmern wollte, um dann die Menschen in das Märkische Viertel
       oder die Gropiusstadt zu treiben.
       
       „Das Kreuzberg von heute ist uns so selbstverständlich, wir können uns gar
       nicht mehr vorstellen, wie das vor vierzig Jahren aussah“, erinnert Inken
       Baller. Im tot-grauen Ruinenfeld übte die US-Armee den „urban warfare“.
       Doch sollten historische Bausubstanz und vor allem die „Multikultur“ aus
       Boheme, Randale, Zuwanderung und Altersarmut – da waren sich die
       Bewohner:innen bis zur Militanz bald einig – nicht ausgelöscht werden.
       
       Das heute so selbstverständlich am Kottbusser Damm sich räkelnde
       Bruno-Taut-Gebäude hatte den Zweiten Weltkrieg als Ruine überstanden.
       Hartnäckiges Ringen um Denkmalschutz führte zu einem Entwurf, welcher den
       bestehenden Vorderteil mit Decken von bis zu vier Metern und einen neu
       verbundenen Hinterteil mit Deckenhöhen von 2,50 Metern des sozialen
       Wohnungsbaus verknüpfte, sodass die Versprünge zu ganz neuen Etagenlösungen
       führten. Das ausführlich dokumentierte Projekt „Fraenkelufer“ im Rahmen der
       legendären IBA-Alt bot nebenbei fachliche Munitionierung der
       Instandbesetzer:innen.
       
       Hier sollte eigentlich die Stadtautobahn bis zum Kreuz Oranienplatz
       durchgeführt werden; nun ist die Mischung aus Bestand und Neubau der Stolz
       jeder alternativen Stadtführung.
       
       Innerhalb der Mauerstadt war Kreuzberg Peripherie, und manch andere heute
       randständig wirkende Siedlung lag mittendrin. So fällt auf, dass die
       allermeisten Baller-Bauten als singuläre Verdichtungen im heute suburbanen
       West-Berlin liegen. Dominant sind Wohnungs- sowie einzelne
       Unterrichtsbauten vertreten, sodass die „Diskothek Midnight“ im Keller der
       Lietzenburger Straße 86 umso mehr heraussticht.
       
       Durchgängig zeichnen sich „Baller-Bauten“ durch überzeugende Verbindung von
       Innen- und Außenraum, große Balkone, Terrassen und Gärten, gute Belichtung
       dank gläserner Innenwände, großzügige Wohnungsrundrisse, minimierte
       Erschließung, abgesenkte Parkplätze und eine Freude aus, noch die
       unmöglichsten Grundstücke ins Gegenteil zu wenden: „Hinrich hat immer
       gesagt, wir sind die Architekten für die Situationen, wo die Sonne von
       unten scheint.“ Dabei war der aus Österreich stammende Tragwerkplaner
       Gerhard Pichler stets der Dritte im Team.
       
       Die Autor:innen bescheinigen den Ballers ein „großes Gespür für die
       sozialen Strukturen der Stadt“, was dem „sozialen Wohnungsbau“ eine andere
       Note gibt. War in die Förderstandards die Kleinfamilie tief eingeschrieben,
       gelang es dem Duo, der Realität multipler Wohnmodelle Raum zu geben.
       
       Einige Regularien wurden dank ihrer sturen Praxis dauerhaft ausgehebelt.
       Wohnen vom realen Gebrauch her zu denken, und nicht vom Social
       Engineeringtechnokratischer Verwaltungsauflagen, veranschaulicht Hinrich
       Baller am Verhalten des eigenen Nachwuchses, der sich an die Vorgabe eines
       „Kinderzimmers“ schlicht nicht halten wollte. Denn „keine*r wohnt wie die
       anderen“.
       
       Durch wiederholte Besuche der Gebäude und ihrer Nutzer:innen scheinen
       die Bauten im Gebrauch auf: „Um Raumerfahrungen sammeln zu können, ist es
       immanent wichtig, mit den Bewohner*innen zu sprechen, ihnen zuzuhören,
       zu erfahren, welche Bedeutung der sie umgebende Raum für sie hat, wie sich
       Räume im täglichen Gebrauch bewähren und was in ihrer Wohnung alles nicht
       funktioniert.“
       
       Eine Bewohnerin in der Neuköllner Richardstraße ist eher per Zufall zur
       Wohnung gekommen, weil diese im aktuell angespannten Mietwohnungsmarkt
       über Beziehungen verfügbar war. Das Elternschlafzimmer wird wenig
       benötigt und im Sommer der große Balkon zum vierten Raum. In der
       Charlottenburger Nithackstraße treffen sich die Nachbarn ungezwungen im
       häuslichen Alltag; allerdings müsste das Gebäude mal renoviert werden.
       
       ## In jederlei Hinsicht ein Geschenk, dort zu wohnen
       
       Das würde allerdings, weiß der in der Lankwitzer Beethovenstraße lebende
       Gebäudetechniker, nicht billig, da bei den Baller-Bauten das Wasser
       reinkäme. Am Kreuzberger Fraenkelufer ist die Trittschallisolierung
       „natürlich unmöglich für die Nachbarn“, und der offene Hof trotz
       abgestelltem Wasserlauf inzwischen für die Berlin-Touristen ebenfalls recht
       attraktiv. Oben braucht man kaum zu heizen, und es ist „in jederlei
       Hinsicht ein Geschenk, hier zu wohnen“, weshalb auch noch etwa die Hälfte
       des Erstbezugs hier ansässig ist.
       
       Hinrich Baller wird nicht müde zu betonen, dass sie bei Investoren als
       sichere Bank galten: „Wir haben den Kultus des Minimierens auf die Spitze
       getrieben und unsere Auftraggeber den Kultus der Maximierung des Gewinnes
       ebenfalls.“ Die optimistischen Optimierer setzten auf günstige
       Standardprodukte und verzichteten ressourcenschonend auf Abriss.
       
       In Zeiten westdeutscher Alimentierung, der abgekapselten Mauersituation und
       einem vergleichsweise tiefenentspannten Wohnungsmarkt waren
       Sozialbauförderungen der gangbare Weg, überhaupt Mehrfamilienbauten
       finanzieren zu können. Investoren steckten schon damals in geschlossenen
       Immobilienfonds und Aktiengesellschaften, die dann von
       Steuersonderabschreibungen profitierten. Dennoch rät Hinrich Baller im
       Gespräch mit den Studierenden, neben dem Austausch mit den Nutzer:innen
       auch auf die (Bau-)Firmen zu hören – hier schlummerten ungeahnte Ideen.
       
       Read this, möchte man der merkwürdigen Bau-auf-Koalition aus
       sozialdemokratischer Immobilientechnokratie und protestierendem
       Mietenbündnis zurufen, die zwar nach mehr und weniger kostendem Wohnbau
       rufen, aber kaum Zeit verschwenden, wie genau wir in Zukunft denn leben
       wollen: Schlagt nach bei den Ballers!
       
       12 Jul 2022
       
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