# taz.de -- Die These: Die Mär von den gefährlichen Irren
       
       > Psychiatrische Diagnosen werden bei Amoktaten ganz selbstverständlich
       > genannt. Dabei erklärt die Nennung gar nichts – und führt zur
       > Stigmatisierung.
       
 (IMG) Bild: Kreise auf dem Breitscheidplatz zeigen an, wo die Opfer der Amokfahrt vom 9. Juni lagen
       
       Ein grausamer Vorfall nahe des Berliner Breitscheidplatzes, Juni 2022. Ein
       Mann fährt in eine Menschenmenge, eine Frau kommt ums Leben, mehr als 30
       Menschen werden verletzt. Der Fahrer? Ist [1][„wahrscheinlich schizophren“]
       (Zeit Online), es besteht der [2][„Verdacht auf paranoide Schizophrenie“]
       (Tagesspiegel). Wie eine gefährliche Kobra schlängelt sich die Diagnose
       durch die mediale Berichterstattung.
       
       Über die Schizophrenie, jenen Zustand, der den Geist verwirrt, herrscht
       Verwirrung, das erklärt schon Michel Foucault in seinem Buch „Wahnsinn und
       Gesellschaft“ (1961): „In dem Maße gar, in dem wir nicht wissen, wo der
       Wahnsinn beginnt, wissen wir mit beinahe unbestreitbarer Gewißheit, was der
       Wahnsinnige ist“, schreibt er darin.
       
       „Der Begriff Schizophrenie deckt so viele Dinge ab, dass er eigentlich
       nichts mehr aussagt“, sagt der Psychologe Thomas Bock, der vor seiner
       Pensionierung die Ambulanz für Psychosen und Bipolare Störungen des
       Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf leitete: „Ich würde eher von
       psychotischen Zuständen sprechen – von einer Ausnahmesituation, in der man
       die Realität anders wahrnimmt.“
       
       In Bezug auf den Amokfahrer sagt er: „Es kann gut sein, dass das bei diesem
       Menschen der Fall war. Vermutlich fühlte er sich bedroht, wähnte sich auf
       der Flucht.“
       
       Aber was ist eine Psychose? „Eine Psychose ist ein Zustand besonderer
       Dünnhäutigkeit, in dem man die Grenze zwischen Innen und Außen nicht mehr
       klar ziehen kann“, sagt Bock. Es sei ein zutiefst menschlicher Zustand.
       
       Im Alltagssprachgebrauch verwenden wir die Begriffe „wahnsinnig“ und
       „schizophren“ für alles Mögliche, meist ist die Konnotation negativ.
       [3][Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten (ICD)
       der Weltgesundheitsorganisation] führt unter der Überschrift
       „Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen“ gleich eine Reihe von
       Erkrankungen auf. Sie anhand von Symptomen voneinander abzugrenzen, ist
       gar nicht so einfach, das wird beim Lesen deutlich.
       
       Während kaum ein Otto Normal weiß, was „Psychose“ oder „Schizophrenie“
       bedeuten und sich Psycholog:innen und Psychiater:innen in einem
       komplizierten Klassifikationssystem orientieren, ist das Bild, dass Medien
       über Menschen mit diesen Diagnosen zeichnen, recht eindeutig: Schizophrene
       sind gefährliche Personen, potenzielle Verbrecher:innen, lautet häufig der
       Subtext.
       
       Erinnern wir uns an den 29-Jährigen, der 2020 vor der Hamburger Synagoge
       einen jüdischen Studenten attackiert hat. [4][„Die Staatsanwaltschaft ist
       sicher: Von Antisemitismus kann keine Rede sein]“, hieß es bei Zeit Online.
       Der Angreifer wird als „paranoid schizophren“ charakterisiert, die Diagnose
       wird mit einer Selbstverständlichkeit genannt, als wüssten Leser:innen
       genau, mit wem sie es zu tun hätten. Im Übrigen könnten ja auch
       menschenfeindliche Einstellungen – wie hier Antisemitismus – mit einer
       psychiatrische Diagnose zusammenfallen.
       
       ## Das Bild vom lebenslang Gewalttätigen ist irreführend
       
       Ebenso selbstverständlich wird ein Zusammenhang zwischen einer Diagnose und
       kriminellen Handlungen hergestellt – auch in Darstellungen von
       Politiker:innen.
       
       „Der 29-jährige Tatverdächtige hatte in der Vergangenheit offenbar
       psychische Probleme. Er sei bei der Polizei mehrfach aufgefallen, es habe
       Ermittlungen wegen Körperverletzung, Hausfriedensbruch und Beleidigung
       gegeben, sagte Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD)“, berichtete Zeit
       Online nach dem Vorfall am Breitscheidplatz. Einmal krank und kriminell,
       immer krank und kriminell – so kann man Sprangers Aussagen lesen.
       
       Doch das Bild von den lebenslangen Kranken und Gewalttätigen ist
       irreführend. Denn erstens sind psychotische Zustände vorübergehend und
       behandelbar. „Ein Drittel der Betroffenen ist einmal psychotisch und dann
       nie wieder. Ein zweites Drittel hat das Risiko, in einer Lebenskrise noch
       mal psychotisch zu werden. Man kann aber gegensteuern: etwa mit Achtsamkeit
       und mit Therapien“, sagt Psychologe Thomas Bock. „Ein weiteres Drittel muss
       mit Beeinträchtigungen rechnen und braucht Hilfe. Aber auch diese Personen
       sind nicht dauerhaft psychotisch.“
       
       Und zweitens wird nur ein Bruchteil der Psychoseerfahrenen gewalttätig.
       „Statistisch gesehen ist es so, dass Menschen mit Psychosen im Allgemeinen
       nicht gefährlicher sind als andere“, sagt Bock. „Es kann zu
       unkontrollierten Handlungen kommen und es kann passieren, dass diese
       gefährlich werden können. Wenn das vorkommt, dann aber häufiger im
       Nahbereich als in der Öffentlichkeit, also etwa in der Familie.“
       
       Das läge daran, dass Nähe und Distanz von den Betroffenen verzerrt
       wahrgenommen werden kann. Gewalt komme aber „nur in seltenen Fällen vor.
       Die absolute Mehrheit ist nicht gewalttätig.“ Stattdessen sind Betroffene
       [5][Studien zufolge] weitaus öfter selbst Opfer von Gewalt.
       
       Und von Diskriminierung. [6][Greifswalder und Leipziger
       Wissenschaftler:innen kamen 2014 zu dem Ergebnis, dass die Ablehnung
       von Menschen mit der Diagnose Schizophrenie zunimmt].
       
       Ein Drittel der Deutschen möchte keine Menschen mit dieser Diagnose als
       Nachbar:in haben, hat [7][quarks.de kürzlich berichtet]. Psychotische
       Zustände scheinen stärker stigmatisiert als melancholische,
       antriebshemmende und lebensverneinende wie die Depression, zu der sich in
       jüngster Zeit immer mehr Menschen bekennen. Dabei können auch bei
       Depressionen und sogenannten bipolaren Störungen Psychosen auftreten.
       
       Stigmatisierung kann quälen. So sehr, dass der Psychiater, Nervenarzt und
       Wissenschaftspublizist Asmus Finzen sie „zweite Krankheit“ nennt, „weil die
       Leute unter der Diskriminierung sehr stark leiden und die Symptome der
       Diskriminierung eine sehr schwere Belastung für die Gesundheit sind“, wie
       er sagt. Er fügt hinzu: „Sie können auch depressive Reaktionen
       begünstigen.“
       
       Dämonisiert und als gefährlich dargestellt werden im Übrigen auch
       Psychiatrien. „Amok-Fahrer kommt in Psychiatrie“, titelte die Berliner
       Zeitung zum tragischen Vorfall am Berliner Breitscheidplatz.
       
       Das kann dazu führen, dass Hilfesuchende den Ort Psychiatrie von vornherein
       meiden. Dabei werden nicht oder vermindert schuldfähige
       Straftäter:innen in der Regel in forensisch-psychiatrischen Kliniken
       untergebracht. Psychiatrie ist also nicht gleich Psychiatrie. Aber zu der
       Information muss Otto Normal in einer akuten psychischen Krise erst mal
       gelangen.
       
       Finzen erklärt, dass jeder Mensch eine Psychose bekommen kann – etwa bei
       lebensverändernden Ereignissen. Die 2019 verstorbene Dorothea Buck, die von
       den Nationalsozialist:innen aufgrund der Diagnose Schizophrenie
       sterilisiert worden ist, verglich das Welterleben in der Psychose mit einem
       Traum und nennt sie eine Reaktion auf eine Lebenskrise. Ärzt:innen gehen
       davon aus, dass nicht nur Traumata, sondern auch Drogen, Stress, Epilepsie
       und Demenz das Auftreten von Psychosen begünstigen können.
       
       Müssen wir psychiatrische Diagnosen in Artikeln über Gewaltdelikte nennen?
       „Generell rät der Pressekodex zur Zurückhaltung bei der Berichterstattung
       über Erkrankungen. In einigen Fällen kann es aber relevant sein, die
       Erkrankung zu nennen“, sagt Sonja Volkmann-Schluck vom Deutschen Presserat.
       
       Die Nennung von Diagnosen, das ist meine Überzeugung, sorgt mehr für
       Verwirrung als dass sie zur Aufklärung beiträgt. Wir Journalist:innen
       sollten sie ebenso wenig nennen wie den Migrationshintergrund. Denn die
       Nennung führt zu verallgemeinernden Stereotypen und schlechterdings zu
       Diskriminierung.
       
       Man könnte schreiben, dass der Täter zum Tatzeitpunkt vermutlich nicht
       schuldfähig war. Das würde reichen.
       
       18 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] ttps://www.zeit.de/politik/2022-06/berlin-breitscheidplatz-vorfall-auto-verletzte
 (DIR) [2] https://www.tagesspiegel.de/berlin/verdacht-auf-paranoide-schizophrenie-amokfahrer-vom-berliner-breitscheidplatz-muss-in-die-psychiatrie/28413908.html
 (DIR) [3] https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2019/block-f20-f29.htm
 (DIR) [4] https://www.zeit.de/hamburg/2021-02/angriff-synagoge-eimsbuettel-juedische-studenten-prozess-taeter?sort=desc&page=3
 (DIR) [5] https://academic.oup.com/schizophreniabulletin/article/37/5/877/1911614?login=false
 (DIR) [6] https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/neurologie/news-archiv/artikel/studie-menschen-mit-schizophrenie-werden-zunehmend-stigmatisiert#:~:text=Studie:%20Menschen%20mit%20Schizophrenie%20werden%20zunehmend%20stigmatisiert,-24.03.2014&text=Menschen%20mit%20Schizophrenie%20werden%20zunehmend%20ausgegrenzt.,rund%203600%20Menschen%20befragt%20hatten.
 (DIR) [7] https://www.quarks.de/gesellschaft/psychologie/das-bedeutet-es-an-schizophrenie-zu-leiden/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lea De Gregorio
       
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