# taz.de -- Politologe über Krise von Scholz: „Die Ampel liefert bisher zu wenig“
       
       > Scheitert nach der Impfpflicht auch das Milliarden-Paket für die
       > Bundeswehr? Dann stünde die Regierung am Abgrund, sagt Politologe
       > Wolfgang Schroeder.
       
 (IMG) Bild: Hat einen schlechten Lauf: Kanzler Olaf Scholz
       
       taz: Herr Schroeder, die Impfpflicht [1][ist im Bundestag gescheitert]. Das
       von Bundeskanzler Scholz angekündigte 100-Milliarden-Euro-Bundeswehr-Paket
       hatte bei einer Probeabstimmung im Bundesrat kürzlich keine Mehrheit. Wo
       hakt es bei der Ampel? 
       
       Wolfgang Schroeder: Die Regierungsaufstellung ist noch nicht gefunden. Eine
       Dreierkoalition braucht mehr Integrationsleistung, die sich offensichtlich
       nicht einfach über die Richtlinienkompetenz des Kanzlers herstellt. Es
       herrscht aber noch kein deliberativer Regierungsstil: Jeder scheint in
       zentralen Fragen auf seinen Positionen zu beharren. Das führt in den
       neuralgischen Punkten dazu, dass spät oder nicht im Sinne einer gemeinsamen
       Position entschieden wird. Die Impfpflicht ist dafür das dramatischste
       Beispiel.
       
       Woran ist die Impfpflicht letztlich gescheitert? 
       
       Erst mal an der FDP. Die FDP-Minister haben im Bundestag alle gegen die
       Impfpflicht und damit gegen eine präventive Grundposition der Ampel
       gestimmt. Sie haben sich nicht getraut, ihre Oppositionsposition zu
       verlassen und sich zu einer verantwortlichen Regierungsposition zu
       bekennen. Das wäre die Minima Moralia der Schutzpolitik durch die Ampel
       gewesen.
       
       Ist die FDP das Problem der Ampel? 
       
       Die FDP hat mit ihrer Zugehörigkeit zu dieser Koalition bislang keinen
       Erfolg bei den Wählern. Für die eigene Klientel scheint nicht erkennbar zu
       sein, was die Regierungsbeteiligung bringt. Wenn sich die FDP in die Rolle
       des Vetoplayers eingraben sollte, ist kein deliberatives Regieren möglich.
       
       Die Niederlage bei der Impfpflicht wird aber eher dem Kanzler als der FDP
       ankreidet. Zu Recht? 
       
       Scholz hat versucht, aus der Not, dass die FDP nicht mitmachen wollte, eine
       Tugend zu machen. Er hat die Abstimmung zur Gewissensentscheidung erklärt,
       aber ohne das Ende zu bedenken. Die Gewissensentscheidung macht nur Sinn,
       wenn sich alle Fraktionen daran halten. Die Union hat aber auf die Logik
       der Macht gesetzt. Damit wurde die Gewissensentscheidung zur Farce.
       
       Scholz und die SPD-Fraktion haben also nicht zur Notbremse gegriffen,
       sondern den Zug in den Abgrund fahren lassen? 
       
       Es gab keinen Plan B für den Fall, dass der Plan Gewissensentscheidung
       nicht aufgeht. Scholz hat zu spät erkannt, dass dieser Weg zur Blamage
       führt. Auch die SPD-Fraktionsspitze hat nicht selbstbewusst
       dagegengehalten, als sich abzeichnete, dass die Union sich nicht bewegt.
       Damit ist ein gefährliches Bild entstanden: Der Kaiser hat keine Kleider
       an.
       
       Fehlt der SPD ein strategisches Zentrum? 
       
       Man benötigt neben dem Steuerungszentrum Kanzleramt auch andere Akteure,
       die wie bei der Impfpflicht korrigierend hätten eingreifen können und
       fragen: Können wir noch aussteigen? Können wir den Prozess mit der Union
       neu auflegen? Die handelnden Personen sagen zwar: Das haben wir alles
       probiert. Warum hat die SPD die FDP in so einer entscheidenden Frage
       einfach machen lassen?
       
       Der Kanzler hätte ein Machtwort sprechen können. Oder aus guten Gründen
       darauf verzichten und den taktischen Rückzug antreten können. Aber für
       solche Korrekturen fehlten wohl auch die konstruktiven Bezugspunkte.
       
       Was heißt das? 
       
       Von der Fraktion und von der SPD in den Bundesländern müsste mehr kommen.
       Die SPD-Fraktion scheint sich eher als Befehlsempfänger des Kanzleramts zu
       verstehen. Sie sagt höchstens mal: „So wird das nicht gehen“, besitzt aber
       gegenüber dem Kanzleramt keine eigene Strategiefähigkeit. Die
       Fraktionsführung …
       
       … also Rolf Mützenich … 
       
       … ist eklatant schwach. Ähnlich ist es auf der Länderebene. Es gibt viel
       negatives Geraune über das Kanzleramt, aber gegenwärtig keine starke
       SPD-Ministerpräsidentin, die/der dem Kanzleramt Paroli bietet. Was fehlt,
       ist ein Gegenpol mit einer eigenen Position. Nicht destruktiv, sondern
       konstruktiv und kooperativ.
       
       Sind die normalen Startschwierigkeiten einer neuen Regierung? Oder ist das
       schon [2][eine fundamentale Krise]? 
       
       Diese Regierung hat den schwersten Start seit 1949. Und sie hat bisher
       keinen Griff gefunden, um diese asymmetrische Koalition zum Laufen zu
       bringen. Rechnerisch hat sie eine ausreichende Mehrheit – das Ergebnis war
       bei der Impfpflicht, dass die Mehrheit der Ampel scheiterte, obwohl es im
       Parlament eine überwältigende Mehrheit für eine Impfpflicht gibt. Auch in
       der Frage der Modernisierung der Bundeswehr gibt es eine überwältigende
       Mehrheit. Trotzdem ist unsicher, ob es die erforderliche Mehrheit geben
       wird.
       
       Für das [3][100-Milliarden-Bundeswehr-Paket] braucht Scholz die Union für
       die Zweidrittelmehrheit. Verkalkuliert sich der Bundeskanzler da genauso
       wie bei der Impfpflicht? 
       
       Es gibt in beiden Fällen zumindest die gleiche Logik – der Glaube an den
       breiten Konsens, und dass dieser Konsens sich selbst realisiert. Es ist der
       Glaube an die Vernunft, die zu sich selbst kommt.
       
       Aber kann die Union es sich leisten, das Sondervermögen und damit die
       Finanzierung der Bundeswehr scheitern zu lassen? 
       
       Die Aussichten sind für die Ampel etwas besser als bei der Impfpflicht.
       Aber der Weg wird ähnlich schwierig und bucklig. Die Union reklamiert für
       sich einen machtpolitischen Oppositionsstatus. Sie wird deshalb die Dinge
       nicht einfach durchwinken. Sie wird kämpfen, Gegenpositionen aufbauen, um
       sichtbar zu sein und einen Preis zu erzielen.
       
       Konkret fordert Unionsfraktionschef Merz, dass die Ampel alle Stimmen für
       das 100-Milliarden-Paket braucht. Also sollen nur so viele
       Unionsabgeordnete mit Ja stimmen, wie unbedingt für die Zweidrittelmehrheit
       erforderlich sind. 
       
       Es werden nicht alle Ampel-Abgeordneten mit Ja stimmen, das ist klar. Für
       kleinere Teile in den Fraktionen von Grünen und SPD sind diese 100
       Milliarden eine Wertefrage, bei der sie nicht folgen können. Das wird aber
       eine überschaubare Größe sein.
       
       Hat Merz machtpolitisch einen Hebel in der Hand? 
       
       Ja, denn es wird keine hundertprozentige Zustimmung der Ampelfraktionen
       geben. Aber es wird auch nicht die Zerrissenheit geben, die Merz sich
       wünscht.
       
       Ist die Ampel am Ende, wenn das 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr
       scheitert? 
       
       Sie wäre nicht mehr weit davon entfernt. Die 100 Milliarden Euro waren das
       Zentrum der Regierungserklärung vom 27. Februar. Sie sollte einen
       Befreiungsschlag gegenüber den Nato-Verbündeten und der öffentlichen
       Meinung im Hinblick auf die Ukraine darstellen und die Funktionsfähigkeit
       der Bundeswehr sichern. Das wäre Makulatur. Damit wäre klar: Diese
       Regierung ist in substantiellen Fragen nicht handlungsfähig.
       
       Die Regierung funktioniert nicht? 
       
       Das sogenannte Fortschrittsbündnis liefert bislang zu wenig. Es vermag es
       nicht, wirklich eine lagerübergreifende Koalitionsbildung einzulösen. Die
       Regierung agiert derzeit in wichtigen Fragen sogar unterhalb des Niveaus
       der Großen Koalition. Mit anderen Worten: Der Preis, um die Union fern von
       der Macht zu halten, ist hoch. Dieser Preis ist: Weniger politisch zu
       liefern, als es mit der Union in der Regierung möglich wäre.
       
       Welchen Anteil hat Kanzler Scholz an dieser Stagnation? 
       
       Angesichts der gigantischen Herausforderungen macht Scholz einen guten Job.
       Er ist nicht sprunghaft und setzt eher die langen Linien.
       
       Die Politik erklären aber eher die grünen Minister Robert Habeck und
       Annalena Baerbock. Bundeskanzler Scholz wirkt im Vergleich wenig präsent.
       Warum? 
       
       Habeck und Baerbock wirken authentisch und einfühlsam. Sie versuchen, den
       Möglichkeitsraum des Regierens zu erweitern. Scholz wird hingegen eher als
       Moderator wahrgenommen, der zudem das Medium der symbolischen Politik kaum
       nutzt. Er besucht nicht das Flüchtlingszelt vor dem Berliner Hauptbahnhof.
       Er fährt nicht nach Kiew. Er verzichtet damit auf Symbole, die zeigen, dass
       er mehr als der routinierte, professionelle Problemlöser ist. Deshalb sind
       die Rollen vertauscht. Normalerweise ist der Kanzler der Good Guy, die
       Minister sind eher die Bad Guys. Hier ist es umgekehrt.
       
       Also müsste Bundeskanzler Scholz öfter im Fernsehen auftreten? 
       
       Nein, er ist ja oft im TV. Und er könnte noch viel öfter im TV auftreten –
       das Publikum würde es trotzdem nicht bemerken, weil er das Medium nicht so
       nutzen will, um wirkliche öffentliche Akzente zu setzen. Er nutzt die Macht
       der Bilder nicht und erreicht deshalb die Herzen der Leute nicht.
       
       Er ist eben kühl, zurückgenommen, sachlich. 
       
       Ja, das ist einerseits sehr gut. Er ist der Ernsthafte, der die Dinge vom
       Ende her bedenkt. Aber wir brauchen auch einen lernenden Kanzler, der sich
       zumindest fallweise der Macht der Symbole bedient, um seine Position zu
       festigen. Die kluge Moderation hinter verschlossenen Türen reicht nicht
       immer, um die Legitimation dieser Regierung abzusichern.
       
       Ein Kanzler, der zu wenig auf die Öffentlichkeit zugeht, und zugleich
       Baerbock und Habeck, die als Minister und Ministerin der Herzen auf der
       Bühne agieren – das könnte zu einer Asymmetrie des Regierens führen, die
       den Zusammenhalt gefährdet. Die zentralen Probleme aber sind die
       SPD-Fraktionsführung, die unzureichende Führung durch das Kanzleramt und
       wenig korrekturwillige SPD-Ministerpräsidenten. Und die eher destruktive
       FDP, die nicht in der Lage ist, ihre Startposition zu verlassen.
       
       Hat die Ampel keine Zukunft mehr? 
       
       Sie hat nach wie vor eine Zukunft. Vor allem, wenn sie sich stärker am
       Spirit der Koalitionsverhandlungen orientiert. Doch bislang erkennt man den
       Spirit des ambitionierten Projektes in den konkreten Handlungen zu wenig.
       
       21 Apr 2022
       
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