# taz.de -- Psychische Belastung in Russland: Atmen gegen den Krieg
       
       > Immer mehr Russ:innen suchen psychologische Dienste auf. Sie schämen
       > sich für die Gräueltaten, die in ihrem Nachbarland passieren.
       
 (IMG) Bild: Vermeintlicher Alltag: Nur eine geschlossene H&M-Filiale stört das Bild der Normalität in Moskau
       
       Moskau taz | Nach den [1][Bildern aus Butscha] häufen sich in der
       russischen Telegram-Gruppe Dum spiro spero („Während ich atme, hoffe ich“)
       wieder die Kommentare. „In den letzten Wochen habe ich es irgendwie
       geschafft, die Situation anzunehmen, ich will nicht sagen, mich daran
       gewöhnt zu haben, aber Kinder, Job, Haushalt müssen ja bewältigt werden.
       Jetzt fehlt mir wieder die Luft“, schreibt eine Frau. „Butscha. Mir fehlen
       die Worte. Alles ist eingefroren in mir. Ich kann mit niemandem darüber
       sprechen. Ich verstehe die Welt nicht mehr“, meint eine andere.
       
       Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine haben Psycholog*innen und
       Psychotherapeut*innen den Kanal ins Leben gerufen. Sie haben Wege
       gesucht, schnell Hilfe zu leisten. Weil sie sich selbst hilflos fühlen,
       beschämt und schuldig, so wie viele andere Russ*innen auch. Sie bieten
       Qigong an, Gruppensitzungen per Zoom, mehrmals am Tag. Sie geben den Frauen
       und Männern in ihrer Verlorenheit Mittel an die Hand, ihren Alltag zu
       meistern. Irgendwie. Zuletzt wurden die Sitzungen weniger, die Schreie der
       Verzweiflung leiser. Bis die Bilder aus Butscha in der Welt waren. Und die
       Bilder aus Borodjanka. Die Erzählungen aus [2][Mariupol].
       
       Trotz all der Nachrichtensperren, der Blockierung der Sites, der Verbote,
       die der russische Staat Journalist*innen, Blogger*innen und den
       sozialen Medien im Land auferlegt hat, erreichen die Nachrichten aus der
       Ukraine viele Russ*innen. Viele haben das Gefühl, dass sie den Boden unter
       ihren Füßen verlieren, und sie suchen Hilfe bei Psycholog*innen.
       
       „Im Moment spüren viele, dass das Leben vor den eigenen Augen
       auseinanderbrechen kann. Immer und immer wieder. Es ist eine lang
       anhaltende Krise“, sagt Vera Jakupowa. Auch bei der Moskauer Psychologin
       häufen sich seit dem 24. Februar die Anrufe. „Was tun?“, „Wie
       weiterleben?“, „Wie sich überhaupt bewegen?“, fragen die Menschen. Mit
       ihrer ruhigen und hellen Stimme sagte die 33-Jährige: „Atmen. Tief
       einatmen, Luft anhalten, langsam wieder ausatmen.“ Es sind einfache Dinge
       wie Atemtechniken, die die Menschen beruhigen sollen.
       
       Vor wenigen Jahren hat Jakupowa Good Point gegründet, eine Anlaufstelle für
       russische Familien, die sich Gedanken darüber machen, was für Eltern sie
       für ihr Kind sein wollen. Weg von Gewalt, weg von Drohungen, weg von
       Überzeugungen, die sie von ihren eigenen, sowjetisch geprägten Eltern
       erfahren haben. Sie stellen diese Überzeugungen infrage, die Erwartungen
       von außen, die Glaubenssätze, die in Russland darauf beruhen, dass der
       erfahrene Erwachsene schon wisse, was gut für das unwissende Kind ist.
       Dahinter liegt die Annahme, dass das Kind sich zu unterwerfen hat. Sie
       suchen etwas Neues für sich und ihr Kind. Aber auch Hilfe bei unerfülltem
       Kinderwunsch, bei Wochenbettdepressionen oder bei partnerschaftlichen
       Problemen. Sie können sich es leisten.
       
       Nachfrage um 111 Prozent gestiegen 
       
       Denn gerade in Putins Russland haben es einige Menschen zu einem gewissen
       Lebensstandard gebracht, bei dem es nicht mehr um reines Überleben geht.
       Genauso wie man einen Orthopäden oder eine Zahnärztin aufsucht, macht man
       mittlerweile Termine bei Psycholog*innen und
       Psychotherapeut*innen aus. Der Markt dafür ist in Russland in den
       vergangenen Jahren stetig gewachsen.
       
       In den vergangenen Wochen noch mehr: So rechnete die Karriereplattform
       HeadHunter vor, dass die Nachfrage nach Psycholog*innen um 111 Prozent
       gestiegen ist. Mehr als 500 Psycholog*innen wurden über die Plattform
       seit Ende Februar gesucht. Es gab einen regelrechten Ansturm auf die
       Anlaufstellen, weil mit dem Angriff auf die Ukraine viele Menschen den Halt
       verloren haben.
       
       „Die Nachfrage für die Krisenhilfe ist in diesen Tagen enorm gestiegen. Die
       Menschen befinden sich im Schockzustand, geraten in Panik, denken an Umzug,
       fühlen sich bedroht. Psychologische Unterstützungsgruppen, sonst in
       Russland nicht sonderlich beliebt, sind nun plötzlich sehr gefragt“,
       erzählt Vera Jakupowa. Auch Good Point bietet nun kostenlose Beratung an,
       macht Eltern-Kind-Kurse oder eine Extragruppe für Schwangere. Alles online
       und mit Russischsprachigen auf der ganzen Welt. Bereits die Pandemie habe
       sie gelehrt, flexibel zu reagieren. Aus dieser Erfahrung schöpfen die
       Mitarbeiter*innen nun. Sie haben ihre Angebote erweitert, bieten
       vermehrt gemeinsame Eltern-Kind-Kurse an.
       
       Völlig neue Situation 
       
       Und doch stellt der Krieg, der in Russland nur „militärische
       Spezialoperation“ genannt werden darf, auch sie vor unbekannte
       Herausforderungen. „Für uns als Psychologen ist die Situation vollkommen
       neu“, sagt sie. So hatte bislang noch niemand von den russischen
       Psycholog:innen mit den Folgen von kriegerischen Kampfhandlungen zu
       tun. Und nun wenden sich Menschen an sie, die selbst oder über Verwandte
       davon betroffen sind. Auch stehen sie nicht mehr außerhalb des Problems,
       das ihre Klienten zu bewältigen haben. Sie beobachten nicht mehr nur aus
       der Distanz. Sie sind plötzlich auch ein Teil dessen, was gerade passiert.
       Alles, was ihre Klienten ihnen erzählen, erleben sie ähnlich in der ein
       oder anderen Form, so Jakupowa.
       
       Psychologie und Psychiatrie haben im Land auch aus historischen Gründen
       einen schweren Stand. Zu Sowjetzeiten war der politische Missbrauch der
       Psychiatrie eine wichtige Methode der Repression. Wegen „Befunden“ wie
       „Wahnvorstellungen von Reformismus“ wurden viele Andersdenkende für Jahre
       in Hochsicherheitsabteilungen psychiatrischer Kliniken gefangen gehalten.
       Die „Diagnosen“ stellten die Ärzt*innen zuweilen auch in Abwesenheit
       ihrer „Patient*innen“. Sich mit Problemen an jemand Fremdes zu wenden und
       diesem einzugestehen, dass man selbst etwas nicht kann, galt in der
       patriarchalen Kultur Russlands als Eingeständnis der eigenen Schwäche.
       
       In den vergangenen Jahren hat sich die Psychologie allerdings vor allem im
       großstädtischen Milieu fast schon zu einem Muss entwickelt, als persönliche
       Gesundheitspflege, die einfach dazugehört. Es entstanden spezielle Hotlines
       für Männer, Kurse für Eltern, Austauschgruppen für Mütter. Onlinedienste
       wie Jasno („Klar“) bieten mit ein paar Klicks mehrere Tausende
       Spezialist*innen an.
       
       In Zeiten der „Spezialoperation“ hat Jasno ebenfalls schnell auf
       Krisenhilfe umgestellt. Gerade in den ersten Tagen nach dem russischen
       Angriff auf das Nachbarland seien die Fälle akut gewesen, berichtet auch
       Vera Jakupowa. „Wir hören zu, weil viele sich selbst in den Familien nicht
       trauen, von ihren Sorgen zu berichten, um die anderen nicht noch zusätzlich
       zu belasten“, sagt sie. „Wir helfen, Ängste zu strukturieren.“ Und sie
       atmen, gemeinsam mit ihren Klient*innen.
       
       10 Apr 2022
       
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