# taz.de -- Comic „Rude Girl“ von Birgit Weyhe: Die Skinhead-Professorin
       
       > In „Rude Girl“ erzählt Birgit Weyhe eine außergewöhnliche Biografie. Und
       > nebenbei gibt sie eine prima Einführung in die Critical Race Theory.
       
 (IMG) Bild: Gekränkt fasst Birgit Weyhe einen schlechten Vorsatz, den sie umgehend fallen lässt
       
       Bremen taz | Leicht irritierend war ja, dass Birgit Weyhe im Februar das
       Stipendium des Hamburger Lessing-Preises bekommen hatte. Nicht, weil damit,
       endlich, Comic-Kunst von einer sonst aufs vermeintlich Hochkulturelle
       abonnierten Institution [1][als ehrbar anerkannt worden ist].
       
       Sondern weil ihre damals jüngste Produktion eher wie ein Krisensymptom
       gewirkt hatte: „German Calendar – No December“ war der Versuch, in einer
       arrangierten Kooperation mit der nigerianischen Autorin Sylvia Ofili auf
       die eigene Erzählstimme und -logik zu verzichten.
       
       [2][Geglückt war er nicht]. Und da bis dahin alles, was Weyhe publiziert
       hatte, nicht nur gut, sondern immer besser geworden war, wirkte die
       Hamburger Bejubelung fast schon kontraproduktiv, bestenfalls antizyklisch.
       
       Aber wahrscheinlich hatten die Juror*innen auch schon geahnt, dass Weyhe
       aus diesem Tief rauskommen würde. Und wie! Denn mit „Rude Girl“ legt sie
       jetzt ein Werk vor, dass die Idee des kooperativen Erzählens völlig neu und
       eben ohne die Preisgabe des Eigenen denkt: als Mehrstimmigkeit.
       
       ## Gewalt und Germanistik
       
       Den Vorgängerband hat sie nicht einfach abgehakt und übermalt, sondern sie
       greift dort entwickelte künstlerische Ansätze – insbesondere die
       Kolorierungs-Strategie, nur mit Gelbgrün und Tangerine alle Farbigkeit der
       Welt auszudrücken – auf, treibt sie auf die Spitze und bringt sie zum
       Blühen.
       
       „Rude Girl“ [3][ist dabei persönlicher als ihr bisheriges Referenzwerk,
       „Madgermanes“], das für die bis dahin noch völlig unerzählte Geschichte der
       mosambikanischen Wanderarbeiter*innen in der DDR eine künstlerische
       Form entwickelt hatte.
       
       Der jetzige Band erzählt viel linearer nichts anderes als eine Biografie,
       deren gesellschaftliche Brisanz und Bedeutung sich erst im Lesen
       erschließt. Es handelt sich um die Geschichte der jungen amerikanischen
       [4][Germanistin Priscilla Layne].
       
       Sie ist voll Gewalt, Schmerz, Leid und Rebellion und weitab von dem, was
       man aus von einem akademischen Lebenslauf [5][erwarten würde] – gerade in
       Deutschland nicht, wo Klasse und Herkunft weit vor Beginn einer
       Uni-Karriere ihre selegierende Wirksamkeit entfalten: Lehrstühle gehören
       weißen Bürgerkindern. [6][Natürlich].
       
       Professorin Priscilla Layne hingegen ist die in Chicago aufgewachsene
       Tochter einer alleinerziehenden Einwanderin aus Barbados, Skinhead und
       Schwarz. Wobei ihr von einigen Mitschüler*innen auch das abgesprochen
       wird: Sie sei wie ein Oreo-Keks, also außen dunkel, aber innen ganz weiß.
       
       Dass sie zudem Frau ist, komplettiert das Bündel an besten Voraussetzungen,
       schlechte Erfahrungen zu machen und nirgends dazuzugehören.
       Niederschmetternd, aber in seiner behutsam-zarten Erzählweise eher
       ergreifend als schockierend, ist das Kapitel darüber, wie die Protagonistin
       als Kind missbraucht – und der Täter, ihr Cousin, infolge von familiärem
       Corpsgeist freigesprochen worden ist.
       
       Zugleich aber reflektiert Weyhe ihr eigenes Schaffen. Sie integriert in den
       Comic die Frage nach seinem Entstehen. Diskutiert werden grafische
       Entscheidungen und erzählerische Freiheiten – aber nicht, um sie zu
       revidieren, ungeschehen zu machen, sondern um vom Moment der Kritik an im
       eigenen Zeichnen und Schreiben Antworten auf sie zu finden.
       
       ## Der gattungstypische Rassismus
       
       Es ist ein Comic, der die Bedingungen der Möglichkeit, Comic zu machen,
       erkundet. Dabei lotet Weyhe die ethische Dimension des Schaffens in einer
       Kunstform aus, die mit Schematisierungen und Stereotypen arbeiten muss.
       
       Auch deswegen war das Genre in seiner Geschichte immer wieder in Rassismen
       abgeglitten, ja, hatte sie quasi in seinen Grundwortschatz aufgenommen und
       bewahrt. Großmeister wie André Franquin und Hergé haben dessen Präsenz in
       ihrem eigenen Œuvre irgendwann bemerkt, sie in späteren Auflagen zu
       beseitigen versucht, mitunter kapituliert und Wiederveröffentlichungen
       untersagt.
       
       Weyhe geht damit viel souveräner um. Sie schildert ihre trotzige Reaktion
       auf entsprechende Kritik – und macht sich damit über die eigene Abwehr
       lustig: „Ich bin beleidigt“, heißt es auf Seite 10, als ihr „auf einer
       Tagung US-amerikanischer Germanist*innen“ in Bezug auf „Madgermanes“
       vorgeworfen wird, „kulturelle Aneignung zu betreiben“, und das Panel zeigt
       sie mit verbittertem Blick, verschränkten Armen, missmutigem Ringelpulli
       und motzigen Mundwinkeln.
       
       „In Zukunft“, verkündet sie sodann, „werde ich nur noch über mittelalte
       weiße Frauen aus Norddeutschland schreiben.“ Dieses finstere Gelübde bricht
       sie – nachdem Layne sie zu Forschungszwecken interviewt, und sie umgekehrt
       die Professorin der University of Carolina befragt hat, die zu den
       vielversprechenden Vordenker*innen [7][der Critical Race Theory] zählt.
       
       Das ist eine in Deutschland oft wüst und in dummer Pauschalität attackierte
       Denkschule: Ihr Ausgangspunkt ist eine von [8][David Theo Goldberg
       pointiert beschriebene Tatsache]: „Race is irrelevant“, so der
       südafrikanische Philosoph 1993, „but all is race.“ Also sinngemäß: „Race“
       ist bedeutungslos, aber „Race“ prägt alles.
       
       Das Buch lässt Fragen offen: Nicht alle, aber sein Anliegen ist erkennbar,
       sie zu stellen, als Probleme sichtbar zu machen. Weyhes Stil hat immer
       schon etwas im guten Sinne Veranschaulichendes. Sie sucht, findet grafische
       Entsprechungen, in denen komplexe Probleme eingängig fassbar werden –
       möglichst ohne ihre Komplexität zu verlieren. Aber notfalls auch per
       Trivialmetapher.
       
       Das sind Fragen der Kommunikation, der potenziell trennenden Wirkung von
       Bildung, Fragen auch nach der Rolle, nach der Bedeutung von Race, Klasse
       und Geschlecht. Der ruhige Rhythmus und die auch in früheren Werken schon
       auffällige Statik der Zeichnungen vermeiden, dass ein zu starker
       erzählerischer Sog entsteht, der das Bewusstsein vernebeln könnte. Der
       Geschichte zu folgen, macht auch ohne ihn Spaß.
       
       Aber aus der Geschichte ins Denken zu finden, dank ihr die eigenen
       Vorurteile zu überwinden, darum geht’s. Und das, klar, hätte Lessing
       gefallen. Denn das ist Aufklärung pur. Die betreibt kein literarisches Werk
       in Deutschland derzeit besser.
       
       15 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] //!5828368
 (DIR) [2] https://blogs.faz.net/comic/2018/07/30/schulmaedchenreport-der-anspruchsvolleren-art-1231/
 (DIR) [3] /Zeichnerin-zu-Mosambikanern-in-der-DDR/!5306342
 (DIR) [4] https://gsll.unc.edu/current-faculty/layne/
 (DIR) [5] https://library.oapen.org/bitstream/id/681c8949-2a82-43c9-86e6-c25dab07fbd0/2021_Book_ProfessorenMitMigrationshinter.pdf#page.355
 (DIR) [6] https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2020-07/rassismus-schulen-diskriminierung-migrationshintergrund-chancengleichheit-bildungssystem/komplettansicht
 (DIR) [7] https://thenewpress.com/books/critical-race-theory
 (DIR) [8] https://www.jstor.org/stable/1354133
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Benno Schirrmeister
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
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