# taz.de -- Sterben auf der Flucht: Gestoppt vom blauen Meer
       
       > Tausende Menschen sind im Mittelmeer ums Leben gekommen. Freiwillige
       > Helfer schaffen auf Lampedusa für einige von ihnen einen Ort der
       > Erinnerung.
       
 (IMG) Bild: Yusuf, der sechs Monate alte Junge, der aus Guinea kam, starb auch im Mittelmeer
       
       Lampedusa taz | Was wüssten wir über die antiken Zivilisationen ohne die
       Inschriften und die Gegenstände, die in den Gräbern gefunden wurden? Einige
       unserer Friedhöfe sind zu lebendigen Museen des Kampfes für Gerechtigkeit
       und Freiheit geworden, denn die Toten hören nie auf, den Schlaf der
       Lebenden zu stören. Die Geschichten der Toten zu erzählen ermöglicht es
       uns, eine gemeinsame Erinnerung wiederzufinden.
       
       [1][Auf Lampedusa kommen] jeden Tag Tote an, selbst im Winter, wenn das
       Meer stürmisch ist. Es sind Eritreer, Somalier, Ägypter, Frauen, Kinder und
       Männer, die das Risiko des Todes in Kauf genommen haben, um ein Leben
       voller Leid zu beenden. Sie haben sich in die Sklaverei begeben, um den
       Preis für die Reise zu zahlen, sie haben Gefangenschaft und sexualisierte
       Gewalt erlitten, sie haben die Angst vor einem dunklen und endlosen Meer
       erlebt, das jede Erinnerung an die es verschlingenden Körper auslöscht.
       Jeden Tag machen sie sich auf den Weg nach Lampedusa, mit dem Mut
       mittelalterlicher Helden, mit der Gewissheit des Todes und der Leidenschaft
       für das Leben.
       
       Von diesen Menschen, die das Unmögliche herausfordern, um eine Zukunft zu
       finden, gibt es für uns viel zu lernen. Wir sollten wissen, dass es keine
       Identität gibt ohne Beziehungen zu anderen und dass die Verweigerung von
       Unterkunft und Schutz für einen verzweifelten Menschen auch bedeutet, dass
       wir die Welt, in der wir leben wollen, nicht mehr verstehen.
       
       ## Das Mittelmeer ein Massengrab
       
       Das traurige Antlitz des Westens erbleicht noch mehr angesichts der
       verzweifelten Menschen, die aus der Wüste kommend das Meer zu überwinden
       versuchen. Sie haben es noch nie gesehen, sie können nicht schwimmen, aber
       sie wissen, dass sie eine Aufgabe haben: Einige versuchen, ihre Frauen und
       Töchter in Deutschland zu erreichen, andere suchen eine Behandlung für ihre
       leukämiekranken Kinder, wieder andere hoffen, in einem freien Land zu
       gebären. Viele erreichen ihr Ziel nur als angeschwemmter Leichnam. In den
       letzten fünfundzwanzig Jahren sind etwa dreiunddreißigtausend Menschen bei
       der Überfahrt über das Mittelmeer ums Leben gekommen. Mehr als die Hälfte
       von ihnen wird das Meer nicht mehr preisgeben; der Rest dieser Helden ohne
       Identität liegt in Massengräbern auf den Friedhöfen der südeuropäischen
       Länder.
       
       Die Politik des „Notstands“ und die Rhetorik der „Krise“ hat sie zu Nummern
       gemacht, zu namenlosen Kadavern: eine Ziffer an einem unbekannten Ort. Nach
       der Tragödie vom 3. Oktober 2013, bei der 368 Menschen ums Leben kamen,
       aktivierte Italien das bislang einzige Programm zur Erkennung von
       Vermissten: auch das viel zu wenig, wenn man bedenkt, dass andere
       europäische Länder nicht angemessen mitarbeiten. Darüber hinaus fehlt es an
       finanziellen und personellen Ressourcen, und die Politik der europäischen
       Regierungen gibt dem Drucke des Nationalismus nach. Heute hat sich ein
       widersprüchliches System etabliert: Das Ja und das Nein für die Aufnahme
       von Flüchtlingen wechseln sich je nach politischer Stimmung ab; die
       Mitarbeit der Zivilgesellschaft wird gesucht, während gleichzeitig ebenjene
       juristisch schikaniert und verfolgt werden, die Migranten helfen.
       
       Es ist nicht einfach, Helden loszuwerden; ihre Tode werden symbolisch, ihre
       Körper bevölkern die Friedhöfe und verwandeln sie in Orte, an denen die
       Geschichte des kollektiven Gedächtnisses neu geknüpft wird. Und wenn die
       Boote im Hafen von Lampedusa ankommen, küssen viele Überlebende das Land
       ihrer Träume, einige rufen sofort in Libyen an, um zu sagen: „Ich lebe!“
       Auf der anderen Seite des Hafens gibt es eine Barriere der Stille: Lange
       blaue Linien ziehen vorbei, hell wie Sternschnuppen: es sind die Leichen
       der Helden, die die Bürokratie des Begrüßungsrituals überfliegen und den
       Friedhof erreichen. Für sie wird es keine Möglichkeit einer Autopsie geben,
       nicht einmal Zeit für einen Versuch der Identifizierung. Vor der
       Einschiffung mussten sie ihre Dokumente, ihre Namen und ihre Geschichte
       vernichten.
       
       ## Sterben wegen eines bürokratischen Konflikts
       
       Eines Tages beschlossen freiwillige Helfer und Familien aus Lampedusa,
       diesen Leichen ihre Identität und Würde zurückzugeben. Jemand hat sein
       Familiengrab gestiftet, um Welela, ein 20-jähriges eritreisches Mädchen, zu
       bestatten. Welela war in den libyschen Lagern gefangen gehalten worden und
       wurde am Abend ihrer Reise durch die Explosion einer Gasflasche verletzt.
       Sie wurde mit völlig verbranntem Körper auf den Kahn gelegt. Sie kam leblos
       in Lampedusa an. Die häufigsten Opfer sind immer Frauen, die in den
       libyschen Lagern vergewaltigt und von den Schmugglern missbraucht werden.
       
       Während der Fahrt sitzen sie zusammen mit den Kindern in der Mitte des
       Schlauchboots. Sie werden die Ersten sein, die sterben, denn wenn das
       Schlauchboot sinkt, beginnt das genau in der Mitte. So starb Yusuf, der
       sechs Monate alte Junge, der aus Guinea kam. Sein buntes Grab ist ein Akt
       der Anklage gegen die Politik, die Europa in eine Festung verwandelt hat.
       So starb Ester Ada, eine 18-jährige Nigerianerin. Das türkische
       Handelsschiff, auf dem sie zusammen mit 153 anderen Personen unterwegs war,
       hatte wegen eines bürokratischen Konflikts zwischen der maltesischen und
       der italienischen Regierung [2][vier Tage lang auf hoher See festgesessen.]
       
       Auf Yassins Grabstein ist zu lesen, dass er ein Eritreer war, der in Libyen
       grundlos verhaftet wurde. Er wollte zu seiner Frau und seinem Sohn, die
       sich im Aufnahmezentrum in Schweden befanden. Er wurde von einem blauen
       Meer gestoppt, das die Menschen mit Stacheln gefüllt haben. Alle Grabsteine
       dieser Märtyrer der Grenze tragen das Symbol einer Feder, die sich im
       Stacheldraht verfangen hat; das, was vom Aufbruch so vieler Menschen in
       Richtung Freiheit übrig geblieben ist.
       
       Aus dem Italienischen übersetzt von [3][Ambros Waibel]
       
       23 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Claudio La Camera
       
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