# taz.de -- Digitale Sequenzinformationen: Wem gehört die Vielfalt?
       
       > Dank öffentlich zugänglicher Erbgutdatenbanken werden Wirkstoffe wie
       > Antibiotika hergestellt. Forscher haben nun untersucht, wer davon
       > profitiert.
       
 (IMG) Bild: In Ecuadors Urwäldern leben mehr als 600 verschiedene Ambhiebienarten
       
       Berlin taz | Über die Hälfte aller antibakteriellen Wirkstoffe beruhen auf
       Naturstoffen. Vor allem Antibiotika verdanken wir häufig Pilzen oder
       Bakterien, die Grundstoffe für diese Medikamente produzieren. Damit
       Mikroorganismen im Labor aber zeigen, was sie können, muss bekannt sein,
       welche Gene genau ihnen zu dieser Fähigkeit verhelfen und wo diese im Genom
       liegen. Zweitens benötigt der Mikroorganismus im Labor eine spezielle
       Umgebung – Biologen sprechen vom „ökologischen Kontext“.
       
       Um diese beiden Informationen zu erhalten, durchsuchen Wissenschaftler
       Genomsequenzen in offenen Datenbanken und überprüfen so in großem Maßstab,
       wo die aktiven Gene in Mikroorganismen liegen, die erfolgreich Antibiotika
       produzieren, und unter welchen Bedingungen. Solche vergleichenden Analysen
       der Geninformationen, die in offen zugänglichen Datenbanken für sogenannte
       digitale Sequenzinformationen (DSI) zur Verfügung gestellt werden, seien
       für die lebenswissenschaftliche Forschung unverzichtbar, befand vor einem
       Jahr die Wissenschaftsorganisation Leopoldina in einer Stellungnahme zur
       Bedeutung von DSI.
       
       Der Umgang damit ist allerdings hoch umstritten und rückt immer mehr ins
       Zentrum einer Debatte über die Frage, wie weit Eigentumsrechte an
       biologischer Vielfalt eigentlich reichen. Hinter der Diskussion steht
       folgende Annahme: Der größte Schatz des Artenreichtums liegt in den Ländern
       des Globalen Südens; die größten Nutzer – Pharma-, Chemie-,
       Lebensmittelfirmen – sitzen jedoch im Globalen Norden. Nur: So einfach
       stimmt das nicht, sagen die Autoren einer aktuellen Studie.
       
       Ein Team von Wissenschaftlern aus Deutschland, Großbritannien und Spanien
       hat 263 Millionen Datensätze genetischer Sequenzen einer Datenbank
       daraufhin untersucht, woher sie kommen und wer mit ihnen geforscht hat.
       Demnach sind sowohl die größten Anbieter digitaler Erbgutinformationen als
       auch ihre größten Nutzer die USA, China und Kanada. Aber auch in den
       meisten anderen Staaten – ob im Globalen Norden oder Süden – ist das
       Verhältnis zwischen zur Verfügung gestellten und genutzten digitalen
       Gensequenzen verhältnismäßig ausgewogen.
       
       ## Überraschende Forschungsergebnisse
       
       Jüngst haben die Bioinformatiker und Biologen des Leibniz-Instituts für
       Kulturpflanzenforschung und Pflanzengenetik (IPK) in Gatersleben und des
       Leibniz-Instituts Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen
       (DSMZ) in Braunschweig die Ergebnisse ihrer Zählungen [1][in zwei Studien
       im Journal Giga Science veröffentlicht].
       
       Ihre Ergebnisse verstehen sie als einen Beitrag zu der Debatte, wie weit
       Eigentumsrechte an biologischer Vielfalt gehen und wer auf welche Weise von
       Erbgutinformationen profitieren darf. Je näher die für April geplanten
       Verhandlungen über ein neues Rahmenabkommen zur biologischen Vielfalt im
       chinesischen Kunming rücken, umso mehr Schärfe gewinnt diese Diskussion.
       [2][Die Konvention zur biologischen Vielfalt] (CBD) enthält drei Ziele: die
       Vielfalt der Natur zu erhalten; sie nachhaltig zu nutzen und die Gewinne
       daraus gerecht zu verteilen.
       
       Vom letzten Punkt handelt das Nagoya-Protokoll, ein Abkommen, das den
       Zugang zur biologischen Vielfalt und die gerechte Verteilung ihrer Nutzung
       völkerrechtlich regelt. Funktioniert hat dieses vor sechs Jahren in Kraft
       getretene Abkommen nie so recht. Nun ist es eines der
       Verhandlungsschwerpunkte. Eine der Fragen bei der Umsetzung des Protokolls
       ist, wie mit den digitalen Erbgutinformationen verfahren wird. Zusammen mit
       der [3][neuen gentechnischen Methode CRISPR/CAS], die präzise punktuelle
       Veränderungen am Genom gestattet, verschafft das Wissenschaftlern und
       Unternehmen neue Möglichkeiten – und verleiht dem Thema eine besondere
       politische Brisanz.
       
       Digital Sequence Information (DSI) sind die Codes kurzer DNA-Abschnitte
       oder ganzer Genome von Mikroorganismen, Pflanzen, Pilzen und Tieren. Dafür
       wird das Erbgut dieser Lebewesen sequenziert, also ausgelesen, und in
       digitaler Form gespeichert. Datenbänke mit DSI sind so etwas wie „digitale
       Bibliotheken“ des Lebens, in der Forscher nachschlagen können, welche
       Informationen auf welchem Genabschnitt liegen, und welche Wirkungen sie
       eventuell entfalten können.
       
       ## 263 Millionen Einträge
       
       Eine dieser Bibliotheken ist das European Nucleotide Archive in der Nähe
       von Cambridge. Dort liegen die untersuchten 263 Millionen Datensätze – Open
       Source, also öffentlich zugänglich. Das Forscherteam aus Gatersleben ist
       nun in zwei Schritten vorgegangen. Zuerst hat es seine Hochleistungsrechner
       sämtliche frei zugängliche Literatur durchforsten lassen, die sich in der
       großen Datenbank für wissenschaftliche Zeitschriften der Bio- und
       Lebenswissenschaften ePMC befindet. Sie umfasst nach Eigenangaben derzeit
       rund 40 Millionen Zusammenfassungen und etwa 7 Millionen Artikel aus den
       Bereichen Medizin, Chemie, Pharmazie und Biologie. In diesen Texten haben
       die Wissenschaftler nach Hinweisen auf DSI aus der Datenbank ENA gesucht.
       
       Wurden sie fündig, haben sie überprüft, ob der Eintrag zu der
       entsprechenden DSI Hinweise auf die Quelle liefert. Denn bisher war es so:
       Wenn ein Wissenschaftler einen DNA-Strang etwa einer Zuckerrübe
       entschlüsselt, digitalisiert und diese Information dann in die Datenbank
       der ENA eingetragen hatte, konnte er frei entscheiden, ob er den
       Ursprungsort der Rübe angibt oder nicht. Die meisten Wissenschaftler
       oder Institute haben sich ganz offensichtlich dagegen entschieden.
       
       „In 15 Prozent der Fälle wurden wir fündig“, sagt Matthias Lange,
       Bioinformatiker am IPK. Das bedeutet: In 85 Prozent der Fälle ließ sich
       nicht mehr feststellen, woher die DSI in der Datenbank stammen. „Das wäre
       eine Datengrundlage dafür, dass die Ausgleichsmechanismen des
       Nagoya-Protokolls funktionieren“, sagt Lange. Inzwischen hat die ENA ihre
       Regeln geändert: Wissenschaftler, die Gensequenzen einstellen, müssen deren
       Ursprungsort angeben. Daten seien für die wissenschaftliche Erkenntnis
       grundlegend, schreibt der Leiter der ENA, Guy Cochrane in einem Kommentar
       zu der Studie, aber nur dann, wenn sie auffindbar, zugänglich, austauschbar
       und reproduzierbar seien.
       
       Amber Scholz vom DSMZ rückt eine andere Schlussfolgerung in den
       Mittelpunkt: „Trotz politischer Rhetorik gibt es in der Praxis eine klare
       Hierarchie zwischen Geber- und Nutzerländern nicht“, sagt die Biologin. Sie
       befürchtet fatale Folgen, wenn der offene Zugang zu DSI künftig beschränkt
       würde, um auf diese Weise Biopiraterie zu verhindern.
       
       ## Auch ärmere Länder profitieren
       
       Natürlich müsse garantiert werden, dass die Nutzer, die Produkte aus den
       offen Daten entwickeln und Geld damit verdienen, auch etwas zurückgeben –
       also Vorteilsausgleich liefern. Dies werde am besten gewährleistet, wenn
       der Zugang zu diesen Daten ohne Bezahlschranken allen offen stünde, sagt
       Scholz. Sinnvoll sei der Vorschlag der Afrikanischen Union, einen Fonds
       einzurichten, in den ein Prozentanteil von Gewinnen auf
       biodiversitätsbasierte Produkte eingezahlt werde und der an Länder des
       Globalen Südens verteilt würde.
       
       Die Wissenschaftlerin verspricht sich von dem offenen Zugang zu
       Sequenzdaten und Open-Source-Bioinformatik-Software einen sogenannten
       Leapfrog-Effekt. Dieser beschreibt das Phänomen, dass Länder bestimmte
       Entwicklungsphasen auslassen und gleich in die nächste springen. „DSI
       ermöglichen Wissenschaftlern in ärmeren Ländern, Gen- und
       Biodiversitätsforschung zu betreiben“, sagt Scholz, „das wäre vor einigen
       Jahren nur mit teuren Sequenzierungsgeräten und Laboren möglich gewesen.“
       
       Die Leopoldina mahnt an, die konkrete Gestaltung eines internationalen
       Vorteilsausgleichs im Rahmen des Nagoya-Protokolls dürfe weder den
       Biodiversitätsschutz noch die offene Wissenschaft gefährden.
       
       Auf rein wissenschaftlicher Ebene funktioniere der Ausgleich schon, sagt
       Christine von Weizsäcker, Präsidentin der Umweltorganisation Ecoropa, die
       bei den aktuellen Verhandlungen zu DSI dabei ist. Die Datenanalyse von IPK
       und DZSM sei ein wertvoller Beitrag, allerdings vermisse sie vor allem zwei
       Aspekte: „Zum einen nimmt die Studie nur Daten aus öffentlich zugänglichen
       Quellen in den Blick“, sagt sie, Sammlungen in privatwirtschaftlichen
       Bioarchiven, in Unternehmen und in den Grauzonen
       öffentlich-privatwirtschaftlicher Partnerschaften müssten dringend
       berücksichtigt werden. Nach Weizsäcker werde „das große Geld“ woanders
       verdient, und DSI sei leider auch das perfekte Versteck „für ganz
       altmodische Biopiraterie“.
       
       Den Kritikpunkt haben die Autoren der Datenerhebung vorweggenommen. Derzeit
       arbeiten die Gaterslebener Forscher an einer Folgestudie, in der sie
       Nutzung und Herkunft von DSI abgleichen, dank derer Patente angemeldet
       wurden oder nicht öffentlich geforscht wird. Ende nächsten Jahres sollen
       die Ergebnisse vorliegen.
       
       5 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://academic.oup.com/gigascience/article/10/12/giab085/6489125
 (DIR) [2] /Konvention-zum-Artenschutz/!5795232
 (DIR) [3] /Was-kann-die-Gentechnik-Crispr-Cas/!5523322
       
       ## AUTOREN
       
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