# taz.de -- Anwalt Docke über Murat Kurnaz: „Dieser Fall hat mich verändert“
       
       > Bernhard Docke kämpfte für die Freilassung von Kurnaz aus Guantánamo. Das
       > wurde verfilmt. Die Premiere ist am Tag vor der Wahl Steinmeiers –
       > ausgerechnet.
       
 (IMG) Bild: Szene aus „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“: Docke und Kurnaz' Mutter kämpften gemeinsam
       
       taz am wochenende: Herr Docke, am Samstag werden Sie auf der Berlinale zum
       Kinohelden. Wie finden Sie das? 
       
       Bernhard Docke: Als Held verstehe ich mich nicht. Ich freue mich aber, dass
       die unfreiwilligen Abenteuer, die wir erleben mussten, einer größeren
       Öffentlichkeit bekannt werden.
       
       Sie kämpfen in dem [1][Spielfilm „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“] als
       Anwalt an der Seite von Murat Kurnaz’ Mutter für die Freilassung ihres
       Sohnes aus Guantánamo. Kommen Sie zur Premiere nach Berlin? 
       
       Ja, gemeinsam mit Rabiye Kurnaz. Das Entscheidende für mich ist, dass die
       Problematik, die der Film zeigt, wahrgenommen wird. Ob ich nun auf dem
       roten Teppich abgelichtet werde oder nicht, ist absolut sekundär.
       
       Das könnte schon passieren, Sie stehen in dem Film als Person im
       Mittelpunkt. 
       
       Das ist in der Tat etwas, an das ich mich erst gewöhnen muss. Bislang waren
       immer meine Mandanten im Fokus. Mich in der Maskerade von Alexander Scheer
       über die Leinwand laufen zu sehen, das ist schon spooky.
       
       Fühlen Sie sich gut getroffen? 
       
       Das kann ich nicht unbefangen bewerten. Ich finde den Film sehr gelungen.
       Aber der Anwalt ist ein Stück weit steifer und konservativer, als ich mich
       als Person begreife, weil das die Geschichte interessanter macht.
       
       Hier die impulsive herzliche Mutter, dort der sachliche Jurist? 
       
       Ja. Dass wir beide als Team sehr gut funktioniert haben, ist authentisch.
       Aber mein Charakter ist ein wenig überzeichnet. Ich denke, dass ich
       zugewandter und etwas humorvoller bin als der Docke im Film. Das ist eine
       Kunstfigur.
       
       Im Frühjahr 2002 kam Rabiye Kurnaz, die Mutter von Murat Kurnaz, in Ihre
       Kanzlei und beauftragte Sie damit, ihren Sohn aus Guantánamo
       zurückzubringen. Haben Sie damals gezögert, diesen schwierigen Auftrag
       anzunehmen? 
       
       Nein, keinen Moment. Guantánamo ist so ein Unding, dort werden Menschen
       sämtliche Verfahrensrechte genommen, man setzt sie der Folter aus, es ist
       wie im Mittelalter. Wer so einen Fall als Strafverteidiger nicht annimmt,
       ist im falschen Beruf. Allerdings hatten Rabiye und ich …
       
       Sie duzen sich? 
       
       Ja, schon lange. Wir hatten zu Beginn ganz unterschiedliche Erwartungen.
       Sie dachte: Wenn ich einen Anwalt einschalte, dann ist mein Sohn in ein
       paar Wochen wieder da. Mir war klar, das wird maximal schwierig. Es zog
       sich dann ja auch über Jahre. Ich habe versucht, ihr die Hoffnung nicht zu
       nehmen, ihr aber auch keine Illusionen zu machen. Nie zu wissen, ob das
       Kind irgendwann wiederkommt, und wenn ja, in welchem Zustand: das zu
       ertragen, ist unvorstellbar.
       
       Sie wussten lange nicht, was Murat Kurnaz eigentlich vorgeworfen wurde.
       Glaubten Sie trotzdem an seine Unschuld? 
       
       Murat ist im Herbst 2001 nach Pakistan gereist, das machte ihn für die
       Behörden verdächtig. Ich konnte mir dazu erst gar keine Meinung bilden,
       weil ich null Informationen hatte. Es gab keine Akte, keinen Haftbefehl,
       keine Staatsanwaltschaft, kein Gericht, niemanden, an den wir uns wenden
       konnten. Aber die Schuldfrage war für mich zweitrangig. Jeder Mensch, egal
       was er gemacht hat, hat ein faires Verfahren und keine Folter verdient. Ich
       wandte mich an die Politik, Murat kam zwar aus Bremen, hatte aber einen
       türkischen Pass. Die Türkei fühlte sich nicht zuständig, die deutsche
       Regierung behauptete, die Amerikaner ließen sie an den Fall nicht ran. Was
       gelogen war, wie sich später herausstellte.
       
       Sie zogen mit anderen Angehörigen vor den Supreme Court in den USA und
       bekamen 2004 recht: Auch für die Gefangenen in Guantánamo muss US-Recht
       gelten, urteilten die Richter. Erst danach konnten Sie gegen die
       Inhaftierung von Kurnaz klagen. 
       
       Das war für uns ein ganz wichtiger Erfolg. Den amerikanischen Präsidenten
       George W. Bush vor seinem eigenen höchsten Gerichtshof zu schlagen, darauf
       waren wir stolz. Es gab eine republikanische Mehrheit im Supreme Court, 5
       zu 4, und wir gewannen mit 6 zu 3. Wir bekamen danach Akteneinsicht, es
       wurde klar, dass die Vorwürfe gegen Murat lächerlich waren, nur heiße Luft.
       Er hatte sich einfach zur falschen Zeit am falschen Ort aufgehalten. Nach
       dem Urteil war auch die öffentliche Meinung auf unserer Seite.
       
       Erst danach konnten Sie Kontakt zu Murat Kurnaz aufnehmen. 
       
       Mein New Yorker Kollege hat ihn 2004 besucht. Die Foltervorwürfe waren für
       uns bis dahin nur Spekulation. Murat berichtete ihm detailliert davon. Er
       saß auf sechs Quadratmetern bei Neonlicht, mal war es heiß, mal kalt, er
       litt Hunger und Durst. Er wurde geschlagen und gedemütigt, man ließ ihn
       Wasser einatmen, hängte ihn an Ketten auf. Rabiye zu sagen, dass ihr Sohn
       gefoltert wird, annähernd täglich: das war für mich einer der schwersten
       Momente in diesen Jahren.
       
       Wie hat sie reagiert? 
       
       Sie ist innerlich kollabiert. Aber sie musste auch die Fassade aufrecht
       erhalten, für ihre anderen drei Kinder, für die Presse.
       
       Die Fassade der Kämpferin, der Optimistin? 
       
       Ja. Das hat viel Energie gekostet, letztendlich hat diese Zeit schwer an
       ihrer Gesundheit genagt.
       
       Dem Regisseur [2][Andreas Dresen] und der Drehbuchautorin [3][Laila
       Stieler] war wichtig, dass der Film auch humorvoll ist. Geht das zusammen –
       Guantánamo und Humor? 
       
       Tatsächlich gab es in diesen Jahren auch aberwitzige Situationen. Rabiye
       ist eine lebenslustige, warmherzige Person mit einem sehr speziellen Humor.
       Wir haben viel miteinander gelacht. Wir erlebten neben den vielen
       Tiefpunkten ja auch schöne Momente, etwa die große Unterstützung der
       US-Bürgerrechtsbewegung. Das Drama mit dem Komischen zu verbinden, das ist
       im Film meisterhaft gelungen. Er ist letztendlich eine Parabel, wie David
       gegen Goliath gewinnen kann.
       
       Als David sind Sie aber schon ein Held … 
       
       Nein, das war meine Arbeit. Die hätten andere an meiner Stelle auch
       gemacht, wenn sie gefragt worden wären.
       
       An diesem Wochenende ist nicht nur die Premiere des Films. Am Sonntag wird
       Frank-Walter Steinmeier wieder [4][zum Bundespräsidenten gewählt]. Darüber
       freuen Sie sich sicherlich weniger. 
       
       Was Murat Kurnaz passiert ist, ist eine offene Wunde. Nicht nur, weil nach
       wie vor 39 Gefangene in Guantánamo sitzen. Die Amerikaner wollten Murat
       Kurnaz 2002 nach Deutschland abschieben. Die Bundesregierung hätte ihn aus
       dieser Hölle herausholen können. Aber sie hat Nein gesagt, er musste vier
       weitere Jahre dort bleiben. Das war eine eiskalte, inhumane Entscheidung.
       Verantwortlich dafür war der heutige Bundespräsident.
       
       Stattdessen wollte man Kurnaz das [5][Aufenthaltsrecht in Deutschland
       entziehen], mit der Begründung, er habe nicht fristgerecht eine
       Verlängerung beantragt. 
       
       Das war schäbig. Das Verwaltungsgericht Bremen hat das später auch
       aufgehoben. Steinmeier hat sich bis heute nicht bei Murat Kurnaz
       entschuldigt. Auch als längst klar war, dass am Tatverdacht gegen Kurnaz
       nichts dran war, hat er sich zu meinem Entsetzen hingestellt und gesagt, er
       würde genauso wieder handeln. Ich verstehe nicht, dass er nicht die Größe
       aufbringt, hier einen Fehler einzugestehen.
       
       Nachdem sich Angela Merkel für Murat Kurnaz einsetzte, kam er 2006 frei.
       Wie ging es ihm zurück in Deutschland? 
       
       Er hatte es erst schwer. Alle Ermittlungsbehörden sagten: Da war nichts.
       Aber die Bild-Zeitung stellte ihn weiterhin als Terroristen dar. Da blieb
       etwas hängen. Kurnaz merkte das bei der Wohnungs- und Jobsuche. Hätte sich
       Steinmeier damals entschuldigt, hätte das Kurnaz sehr geholfen, es hätte
       zur Entdämonisierung beigetragen. Inzwischen ist viel Zeit ins Land
       gegangen, Murat hat gezeigt, was für ein netter, ungefährlicher Kerl er
       ist, die Angst der Leute ist geschwunden.
       
       Sie hatten und haben auch andere wichtige Fälle, Sie vertreten etwa die
       Geschädigten des Dammbruchs in Brasilien. Der Fall Kurnaz war für Sie aber
       schon sehr prägend, oder? 
       
       Es ist sicher der bedeutendste Fall und der, der mich am meisten verändert
       hat.
       
       Inwiefern? 
       
       Ich bin, was das Grundvertrauen in staatliche Instanzen angeht, deutlich
       skeptischer geworden. Wir haben erfahren müssen, wie dünn die Decke der
       Zivilisation ist. Früher war es für mich selbstverständlich, dass ich die
       Akte kriege, wenn jemand inhaftiert wird. Dass wir die Möglichkeit haben,
       vor Gericht Zeugen und Beweismittel zu benennen. Den Wert dieser Regeln
       habe ich erst in dem Moment so richtig wahrgenommen, als sie nicht mehr
       galten. Insofern ist die Liebe zum funktionierenden Rechtsstaat bei mir
       durch diese Erfahrung gewachsen.
       
       Sie haben seit 2006 Kontakt zu Murat Kurnaz. Wie geht es ihm heute? 
       
       Guantánamo hat Murat nicht gebrochen. Ich bin mir sicher, dass ich das
       nicht geschafft hätte. Er schon. Er gehört zu den wenigen Leuten, die nach
       der Folter wieder heimisch geworden sind. Er hat wieder geheiratet und
       inzwischen drei kleine Töchter. Er arbeitet mit Jugendlichen, der Job macht
       ihm Spaß. Er hat sein privates Glück wiedergefunden.
       
       12 Feb 2022
       
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