# taz.de -- Das Politische am Stricken: Strick, Baby, strick!
       
       > Stricken konnte überleben, weil Frauen ihre Geschichten ins Gestrickte
       > hineinschreiben. Liebeserklärung an eine uralte Kulturtechnik.
       
 (IMG) Bild: Französische Revolution: Strickerinnen betreten als „Tricoteusen“ wieder öffentlich die Bühne
       
       Das hier ist ein Text übers Stricken. Halt, nicht zur nächsten Überschrift
       wandern, bloß weil Stricken Langeweile triggert! „Strick, Baby, strick!“
       „Rock, Baby, rock“ kommt später.
       
       Es geht hier nicht darum zu erklären, wie rechts stricken, wie links
       stricken geht, sondern darum, die richtigen Geschichten übers Stricken zu
       erzählen. Denn der Wollfaden ist wie Schrift, und das, was mit ihm
       gestrickt wird, ist manchmal wie ein Geschichts-, öfter wie ein Tagebuch.
       
       Eine Frage an alle Tagebuchschreibenden: Lesen Sie je, was Sie einmal
       geschrieben haben, und lesen andere es? Eine Frage an eine Strickende:
       Welche Geschichte erzählt die beige Jacke mit dem mahagonifarbenen Rand,
       den die Mutter einer Freundin nach dem Krieg gestrickt hat und die wie ein
       Kleinod weitergereicht wurde, obwohl die Wolle kratzt? Wer fragt, erfährt,
       dass da Lebensgeschichte drinsteckt, erfährt, dass die Mutter die Jacke aus
       der Wolle eines aufgeribbelten Männerpullovers mit Brandlöchern strickte.
       Woher sind die Brandlöcher?, fragst du. Fragst du noch.
       
       Stricken wird heute als Tätigkeit von Frauen wahrgenommen. Das mag das
       Aufmerksamkeitsdefizit gegenüber dieser tausend Jahre alten Kulturtechnik
       begründen. Was Frauen machen, war zu lange irrelevant.
       
       ## „Zwei links, zwei rechts“
       
       Und dass Frauen stricken, stimmt ja heute auch. So richtig indes blieb
       diese Handwerkstechnik erst an ihnen hängen, nachdem die Strickmaschine
       1863 erfunden wurde. „Handstricken wurde erst weiblich, als es sich
       finanziell kaum noch lohnte“, schreibt [1][Ebba D. Drolshagen] in ihrem
       Buch „Zwei links, zwei rechts“. Da haben wir es.
       
       Dass zuvor nur Männer strickend am Werk waren, kann allerdings auch nicht
       stimmen, denn in der Renaissance gibt es Gemälde von strickenden Madonnen.
       Die hierzulande bekannteste stammt von [2][Meister Bertram] vom Anfang des
       15. Jahrhunderts und ist auf dem rechten Flügel des Buxtehuder Altars.
       
       Da die Geschichtsschreibung aber auf Männer fokussiert, gilt Handstricken
       vor der industriellen Revolution eben als Männerdomäne. Und die
       Handstricker sind nicht unschuldig daran, dass ein bereits Ende des 16.
       Jahrhunderts entwickelter manueller Strickapparat fürs Strümpfestricken in
       der Versenkung verschwand, weil die Handstrickergilden dagegen Sturm
       liefen. Strumpfstricken war eine Profession. Das wollten sie sich von einer
       Maschine nicht nehmen lassen.
       
       Strümpfe waren hohes Gut; besser und eleganter, als sich Lappen um die Füße
       zu wickeln. Wer die Klassengesellschaft des Mittelalters und der frühen
       Neuzeit studieren will, sollte auf die Fußbekleidung achten. „Mary Stuart
       Queen of Scots tat ihren letzten Gang in feinen handgestrickten Strümpfen“,
       schreibt [3][Liz Sutter] in ihrem Artikel über die Geschichte des
       Strickens.
       
       ## Sechsmal schneller
       
       Dieser Mann übrigens, der 1589 den Handstrickapparat für Strümpfe
       entwickelte, gegen den die Strumpfstrickergilden opponierten, der Engländer
       [4][William Lee], war ein Geistlicher. Weil sein Beruf nichts einbrachte,
       musste seine Frau Strümpfe strickend hinzuverdienen. Hinzuverdienen, heißt
       es. Nicht wissend, ob sie die Hauptverdienerin war. Immerhin, ihr Mann
       entwickelte ebendiese manuelle Maschine, mit der das Strümpfestricken
       sechsmal schneller ging als per Hand. Das Patent dafür wurde ihm verweigert
       und nach seinem Tod verschwand die Maschine in der Versenkung.
       
       In der Geschichtsschreibung der Neuzeit betreten Strickerinnen – nach den
       Madonnen – wieder öffentlich die Bühne in der Französischen Revolution als
       sogenannte Tricoteusen. Es waren Jakobinerinnen, die strickend auf der
       Tribüne im Nationalkonvent saßen oder strickend den Hinrichtungen folgten.
       [5][Bis heute gilt das Wort „tricoteuse“ im Französischen als Synonym für
       eine politische Radikale.]
       
       Warum die Frauen sich strickend zeigten, beschäftigt die Geschichts- und
       Sozialwissenschaften, traten sie so doch mit einer ihrer Tätigkeiten nach
       außen. Als Forderung nach gesellschaftlicher Teilhabe, wird vermutet.
       
       Was in Frankreich die Tricoteuse ist, sind in England, und auch bei uns,
       die Blaustrümpfe – ein Schimpfwort für eine Frau, die nach Emanzipation
       strebt. Schon wieder Strumpf also.
       
       ## Panzer einstricken
       
       Wer die Geschichte des Strickens verfolgt, stößt immer wieder auf politisch
       relevante Zusammenhänge. Etwa strickten Frauen in ihre Arbeiten auch
       Geheimdienstinformationen hinein. Rechte und linke Maschen, das sind die
       Nullen und Einsen des binären Codes, das Lang und Kurz des Morsealphabets.
       Im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg haben strickende Frauen in ihrem
       Gestrick Feindbewegungen weitergegeben, im Ersten Weltkrieg auch.
       
       Und auch in der Gegenwart zeigen Frauen durch Stricken ihre Sicht auf
       Politik und Krieg, etwa wenn sie [6][Panzer komplett einstricken] wie 2013
       vor dem Militärhistorischen Museum in Dresden. Oder bei den [7][Pussyhats],
       diesen pinkfarbenen Mützen mit zwei Ohren, die Frauen massenhaft strickten
       und trugen, um den Sexismus von Donald Trump zu entlarven.
       
       Ich wage die These, dass sich diese alte Kulturtechnik des Strickens, deren
       Vorläufer 1.500 Jahre alt sein sollen und deren erste verlässliche Quellen
       aus dem 11. Jahrhundert stammen, allen Widrigkeiten zum Trotz bis heute
       erhalten hat, weil Frauen ihr Leben in die gestrickten Teile
       hineinschrieben.
       
       In den letzten 150 Jahren sind es [8][fast nur noch] Frauen, die strickend
       irgendwo anzutreffen sind. Früher bei Kerzenlicht in halb zerbombten
       Häusern wie die Mutter, die die beigefarbene Jacke strickte, heute im ICE,
       auf dem Spielplatz, in Wartezimmern. Oder vor dem Fernseher. Denn erfahrene
       Strickerinnen können nicht nur stricken und warten, sie können auch
       stricken und schauen. Und während sie stricken, stricken sie die Zeit in
       ihre Arbeit hinein. Und manchmal, bei einer romantischen Komödie, einem
       Liebesfilm mit Happy End auch die Hoffnung, dass alles gut wird.
       
       ## Mehr als eine Tätigkeit
       
       Denn Stricken ist mehr als eine Tätigkeit. Stricken hat mitunter eine
       entlastende Funktion, ähnlich einem Alibi, nur in zivilem Zusammenhang. Und
       es gab Situationen, in denen Frauen das brauchten. In Wirtshäuser konnten
       sie ja auch nicht, also trafen sie sich mit anderen Frauen handarbeitend.
       Die Handarbeit war die Legitimation. Was bei den Treffen besprochen wurde?
       Alles. Glück und Unglück.
       
       Auch für mich war Stricken Alibi, als ich es vor mehr als 50 Jahren lernte.
       Denn in unserem Haus war Müßiggang verpönt. Man musste tätig sein. Lesen,
       Malen, Löcher in die Luft starren, Spazierengehen waren keine Tätigkeiten,
       Stricken war okay. Seither kann ich es. Und stricke Geschichten in die
       Pullover.
       
       In all den Jahren habe ich erlebt, dass Stricken mal in war, mal out und
       dann wieder in. Die Pullover in meinem Schrank erzählen davon. Für einen
       brauchte ich 20 Jahre; ich fing an, als ich in London lebte, dann ging mir
       die Wolle aus, ich verlor die komplizierte Strickschrift und machte ihn
       fertig, als er mir in Berlin wieder in die Hände fiel, weil ich
       gleichfarbige, allerdings dickere Wolle aufgetrieben hatte. Ich erfand ein
       Fantasiemuster. Jetzt sind die Ärmel anders als der Rest.
       
       Einen anderen, der 40 Jahre alt ist und den ich nicht wegwerfe, obwohl er
       kratzt, habe ich bei den endlosen Versammlungen gestrickt, als wir die
       [9][Schokoladenfabrik in Berlin-Kreuzberg besetzten] und daraus ein
       Frauenzentrum machen wollten, was auch geklappt hat.
       
       ## Özdemirs Plädoyer
       
       Ein neueres Exemplar ist untrennbar mit der Pandemie verbunden. Und mit
       Science Fiction Binge Watching auf Netflix. Ich hatte nicht gemerkt, dass
       unter der Wolle ein Knäuel aus einem anderen Farbbad war. Unterschiedliche
       Farbbäder sorgen dafür, dass Farben leicht nuancieren. Jetzt hat der
       Pullover einen leicht changierenden Streifen über Brust, Rücken und
       Schultern. Es hätte was Star-Trek-mäßiges, meint meine Freundin, die den
       Pullover liebt.
       
       Wolle aus unterschiedlichen Farbbädern hatte ich, weil gute Wolle teuer
       ist. Der neue Landwirtschaftsminister Özdemir hätte sein Plädoyer, dass
       [10][Lebensmittel das kosten müssten], was sie wert sind, auch auf Kleidung
       erweitern können. Bei Strickwolle aus Naturfasern sieht man, wie teuer der
       Preis dann wäre. Den Star-Trek-Streifen hat mein Pullover, weil ich
       manchmal aus Kostengründen auf Ebay hässliche Pullover aus guter Wolle
       ersteigere, wo ich erkenne, dass ich die Pullover aufribbeln kann. Beim
       Ersteigern sah ich nicht, dass da Farbnuancen waren.
       
       Einmal, das fiel in die Zeit Anfang der 80er Jahre, als Stricken gerade
       gestrig wurde, jobbte ich in einem schlecht gehenden Wolleladen unweit der
       Berliner Schaubühne. Ich war meist allein dort. Weil ich damals meine
       Magisterarbeit über „Unsichtbares Theater“ schrieb, machte ich kleine
       Inszenierungen. Etwa saugte ich Staub, während der Öffnungszeiten. „Ist
       jemand hier?“, fragte eine Frau, die den Laden betrat – und ich dachte:
       „Bingo.“ Eine Putzfrau ist niemand.
       
       Ein anderes Mal setzte ich mich strickend ins Schaufenster und studierte
       die Reaktionen der Männer und Frauen, die vorbeigingen. Die meisten
       deuteten die Zeichen falsch. Die Männer checkten mich, es störte sie nicht,
       wenn ich sie dabei beobachtete. Die Frauen blickten zu Boden, wenn sie mich
       bemerkten, und hasteten weiter. Nur [11][Jutta Lampe], die Schauspielerin
       an der Schaubühne war, zwinkerte mir beim Vorbeigehen zu.
       
       13 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.tagesspiegel.de/kultur/strickende-maenner-alte-muster-neue-masche/20787518.html
 (DIR) [2] https://www.kunstkopie.de/a/meister-bertram/buxtehuder-marienaltar-be.html
 (DIR) [3] https://lizsutter.ch/geschichte-des-strickens/
 (DIR) [4] https://de.wikipedia.org/wiki/William_Lee_(Erfinder)
 (DIR) [5] https://www.edition-converso.com/b%C3%BCcher/buch-einzelansicht/die-nadeln-des-aufstands.html
 (DIR) [6] https://www.radiodresden.de/beitrag/panzer-eingestrickt-protest-gegen-den-krieg-am-militaerhistorischen-museum-113915/
 (DIR) [7] https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/stricken-als-protestmittel-was-es-mit-den-pussy-hats-auf-sich-hat/19314020.html
 (DIR) [8] https://tokio.sportschau.de/tokio2020/nachrichten/Goldmedaillen-Gewinner-Daley-zeigt-selbst-gestrickten-Olympia-Pulli,olympia10212.html
 (DIR) [9] /Die-Multikultur-in-der-Schokofabrik/!1690645/
 (DIR) [10] https://www.dw.com/de/%C3%B6zdemir-gegen-ramschpreise-f%C3%BCr-lebensmittel/a-60257511
 (DIR) [11] https://www.deutschlandfunkkultur.de/peter-stein-zum-tod-von-jutta-lampe-sie-war-immer-fuer-den-100.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Waltraud Schwab
       
       ## TAGS
       
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 (DIR) Berliner Stimmen aus der Quarantäne (9): „Ich will tanzen“
       
       Die Schriftstellerin Sarah Schmidt hat mit dem Stricken angefangen und
       freut sich darauf, wenn die Berliner Clubs irgendwann wieder aufmachen.