# taz.de -- Alter und neuer Kolonialismus: Den Selbstbegriff hinterfragen
       
       > Koloniale Muster setzen sich bis heute fort. Auf Kosten anderer
       > entledigen sich reiche Nationen ihrer klimapolitischen Pflichten.
       
       Die Neueröffnung des Humboldt Forums hat die Debatte über den Kolonialismus
       und dessen Erbe vielerorts erneut angestoßen. So meldete sich auch Richard
       Schröder zu Wort, emeritierter Professor für Philosophie und Theologie der
       Humboldt-Universität zu Berlin. Zweimal schreibt Schröder in einem
       Gastkommentar in der Neuen Zürcher Zeitung: „[1][Der Kolonialismus soll
       nicht beschönigt werden].“ Umso erstaunlicher ist es, dass er es selbst
       tut.
       
       Schröder lässt in seinen Texten nichts aus: die Verbreitung von westlichen
       Werten, die Zivilisierung von Eingeborenen und zu guter Letzt die demütige
       Dankbarkeit der missionierten „afrikanischen Christen“. Eine gute
       Gelegenheit, mal ein bisschen an dem Selbstverständnis zu kratzen, das
       seinem Text ganz offensichtlich zugrunde liegt: die Externalisierung von
       Kolonialität.
       
       Angesichts der andauernden Diskussionsrunden und Kommentare zu Rassismus,
       in denen selbsternannte Expert*innen sich der Thematik nähern, wie
       [2][Svenja Flaßpöhler oder Richard David Precht], scheint eine
       oberflächliche Aufarbeitung von Kolonialismus und Rassismus sowie das
       Zusammenspiel von beidem ein generelles Problem zu sein.
       
       Oft hört man von Vertreter*innen der „Differenzierung“ der
       Kolonialismusdebatte, der Kolonialismus wäre ja gar nicht so schlimm
       gewesen. Eine fast „harmonische“ Angelegenheit mit ein paar Ausnahmen wie
       König Leopolds Schreckensherrschaft im belgischen Kongo. Angesichts des
       Völkermords an den [3][Herero und Nama] ist dies eine Argumentation, die
       vor allem auch im deutschen Kontext an Geschichtsrevisionismus grenzt.
       
       ## Mythos des positiven Kolonialisten
       
       Zahlreiche Vordenker*innen, Wissenschaftler*innen und Kämpfer*innen
       mach(t)en es sich zur Lebensaufgabe, in akribischer Arbeit Jahrhunderte von
       systematischem Unrecht in Worte zu fassen. In der post- und dekolonialen
       Forschung haben sich verschiedene Gewaltbegriffe und damit einhergehend
       Dimensionen der Gewalt herausgebildet. Ziel sind nicht nur die Gräueltaten,
       sondern vor allem auch die künstlich konstruierte Normalität, in der diese
       stattfinden, greifbar zu machen.
       
       Friedensforscherin [4][Claudia Brunner] beschäftigt sich zum Beispiel mit
       dem Konzept der epistemischen Gewalt und welche Rolle Wissen in den
       verschiedenen Facetten von Gewalt und ihrer Legitimation spielt. Wer ordnet
       die Welt wie ein, nach welchen Kategorien und mit welchem
       Allgemeinheitsanspruch? Kolonialisierung war maßgeblich von
       wirtschaftlichen Interessen geleitet.
       
       Abgesehen von der frohen Kunde des Kapitalismus setzt sich die
       Zivilisierungsmission zusammen aus einer religiösen Komponente der Rettung
       und der vermeintlich universellen Rationalität der Aufklärung.
       Zusammengenommen beanspruchen diese Elemente eine Überlegenheit des
       „Westens“, der als ideelle Grundlage für die Kolonialisierung dient. Die
       „[5][White Man’s Burden]“ also, die Bürde sich den ansonsten „verlorenen“,
       „wilden“ „Massen“ anzunehmen.
       
       Zum Verhältnis von kirchlicher Mission und Kolonialismus spricht Historiker
       [6][Thoralf Klein] von einer „Wahlverwandtschaft“, in der sich beide
       Phänomene Eigenschaften teilen, jedoch nicht immer komplett übereinstimmen.
       Interessanterweise nährt beide ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis, das
       sich bei näherer Betrachtung offenbart. Der Missionar braucht die
       Missionierten.
       
       ## Glückselige Missionierte
       
       Sowohl in der Absolution der Missionarstätigkeit als auch der des
       Kolonialismus. Wenn Schröder also schreibt: „Afrikanische Christen sagen
       heute: Wir sind den Missionaren dafür dankbar, dass sie uns von der
       Geisterfurcht befreit haben“, spricht daraus vor allem der Versuch einer
       Daseinsberechtigung, der scheinbar doch eher den Missionierenden als den
       Missionierten gilt. Und so gibt sich die vermeintliche Glückseligkeit der
       Missionierten als ein notwendiges Instrument für die Glückseligkeit der
       Missionierenden zu erkennen.
       
       Den Kolonialismus hat der [7][Historiker Jürgen Zimmerer] als „strukturell
       rassistisches Unrechtssystem“ bezeichnet. Die Frage jedoch, was genau
       strukturell in diesem Unrechtssystem ist, wird in der deutschen
       Medienlandschaft selten gestellt. In ähnlicher Weise rauschen viele
       Analysen oft komplett an der grundlegenden Verzweigung von Rassismus und
       Kolonialismus vorbei und bleiben so an der Oberflächlichkeit verhaftet.
       
       In diesem Kontext hinterfragt die Philosophin [8][Sylvia Wynter] die
       scheinbare Objektivität und Universalität der Grundbegriffe, die in
       Debatten oft verwendet werden. Wynter situiert die spezifisch europäische
       Auslegung des Konzepts „Mensch“ in zwei kolonialgeschichtlichen
       Wendepunkten.
       
       Zum einen in der konzeptuellen Erschaffung des „Menschen“ als religiöse
       Einheit und als politisch rationales Subjekt, welche maßgeblich von der
       kolonialen Begegnung auf dem amerikanischen Kontinent beeinflusst wurde.
       Zum anderen im auf Charles Darwin folgenden Diskurs, der den „Menschen“ als
       evolutionsbiologisch definiert und auf dem die „wissenschaftliche“
       Rassentheorie fußt. Aus beiden Formulierungen steigt der westeuropäische
       Mann als sinnbildlich für die „Menschheit“ hervor.
       
       ## Identitätsloses Ich
       
       Und in beiden Fällen speist sich die Selbstproduktion der eigenen Identität
       aus der Abgrenzung vom kolonialisierten, rassifizierten „Anderen“. Diese
       bedeutungsgebende Funktion des „Anderen“ setzt sich zunehmend in den
       Geistes- und Sozialwissenschaften durch, wo vermehrt nicht nur die
       vermeintliche Andersartigkeit erforscht wird, sondern inwiefern diese
       sinnstiftend für das „Wir“, die „Nichtandersartigen“ ist. Damit verschiebt
       sich das Subjekt des Rassismus und unser Blick darauf.
       
       Vereinfacht gesagt geht es also nicht mehr nur um das „Schwarzsein“,
       sondern auch um eine Auseinandersetzung damit, welche Rolle das Konstrukt
       des „Weißseins“ spielt. Der Fokus auf Identität wird jüngst als Feindbild
       des demokratischen Prozesses angeprangert und der Spaltung der Gesellschaft
       beschuldigt. Ironischerweise positionieren sich die Ankläger*innen
       damit oft außerhalb jeglicher Identität.
       
       Es ist immer schön, wenn sich dann in irgendeiner Talkshow oder Kolumne
       wieder jemand über die sogenannte Identitätspolitik echauffiert, als würden
       alle Otto Normalverbraucher der Mehrheitsgesellschaft identitätslos,
       umhüllt vom Schimmer der Objektivität durch die Welt schweben. Das
       Gegenteil ist natürlich der Fall. Wir alle argumentieren ausgehend von
       einem Referenzrahmen, der sich an unserer Identität orientiert.
       
       Im Grunde könnte man diese Leugnung der Subjektivität und der eigenen
       Verflechtung mit der Geschichte sogar als die ursprüngliche
       „Identitätspolitik“ begreifen. Dieser Selbstbegriff ist keine rein
       theoretische oder abstrakte Angelegenheit. Sie hat konkrete politische
       Auswirkungen und spiegelt sich zum Teil in den Herausforderungen unserer
       Zeit wider. Wir sind konfrontiert mit einer Klimakatastrophe, die uns alle
       sofort zum Handeln bringen müsste. Und doch passiert politisch erstaunlich
       wenig.
       
       Konsequentes politisches Handeln wird in die Zukunft verschoben, auch weil
       die, die heute schon an den Folgen sterben oder vor ihnen fliehen,
       irgendwie nicht als relevant angesehen werden. Gleichzeitig leben wir
       angesichts unseres Ressourcenverbrauchs klimatechnisch auf Kosten der
       Lebensgrundlage anderer. Die Professoren Ulrich Brand und Markus Wissen
       nennen dies „imperiale Lebensweise“.
       
       ## Der Blick auf Materielles allein reicht nicht
       
       Immer mehr reiche Nationen kaufen sich durch
       Emissionskompensationsprojekte im Globalen Süden aus ihrer
       Bringschuld frei. Dem sogenannten carbon colonialism oder auch
       „Kohlenstoffkolonialismus“. Damit verfallen die westlichen Staaten mit
       einer Selbstverständlichkeit in koloniale Muster, die wenig Spekulation zur
       Gegenwärtigkeit des Kolonialismus zulässt.
       
       Trotz allem steht das eigene Selbstverständnis gewissermaßen über und
       außerhalb des ganzen Durcheinanders von Kolonialismus und
       Umweltzerstörung. Dieser Externalisierungsreflex lässt sich angesichts der
       heutigen Probleme nur mit der schwersten Gehirngymnastik oder eben einer
       Identität aufrechterhalten, die auf Kolonialität fußt. Nicht nur aus
       ethischen Gründen, aber auch für eine zukunftsfähige Gesellschaft, Politik
       und Welt müssen wir dieses Externalisieren ablegen.
       
       Eine ehrliche Analyse des Kolonialismus durchleuchtet, inwiefern unser
       momentanes kapitalistisches Wirtschaftssystem auf einer extrahierenden
       Logik beruht, die im Kolonialismus perfektioniert und globalisiert wurde.
       Auch die Debatte um die Rückgabe von kolonialen Raubgütern ist eine
       wichtige, genauso wie die Aufarbeitung von kolonialen Verbrechen wie dem
       Genozid an den Herero und Nama. Gleiches gilt für die Diskussion um
       neokoloniale Strukturen der globalen politischen Ökonomie.
       
       Aber wenn die Aufarbeitung des Kolonialismus bei der Diskussion um
       materielle Werte verharrt, bleibt sie in der Oberflächlichkeit verhaftet.
       Essenziell für die Dekolonialisierung ist daher, dass Deutschland, Europa –
       der „Westen“ – vermeintliche Normen konfrontiert und dekonstruiert.
       
       Das heißt sich zu fragen, inwiefern die eigene Lebensweise, das eigene
       Selbstverständnis nicht im Vakuum existiert, sondern vielerorts aus einer
       Normsetzung erfolgt, die sich rein in Abgrenzung zum kolonialisierten und
       rassifizierten „Abnormalen“, „Abweichenden“ definiert. Es gilt, die
       identitätslose Maske vom Gesicht zu nehmen. Das Erbe des Kolonialismus
       liegt nicht nur im Humboldt Forum.
       
       Ganz im Gegenteil, es springt quicklebendig in unseren Köpfen herum und
       lässt sich nur mit grundlegender Ehrlichkeit konfrontieren. Die dringende
       Frage ist folglich, ob der Teil der Bevölkerung, der sich bislang als
       scheinbar unberührt vom Kolonialismus erfand, bereit ist, sich mit dieser
       gegenseitigen Komponente auseinanderzusetzen. Traut er sich, gründlich in
       den Spiegel zu schauen?
       
       30 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.nzz.ch/meinung/kolonialismus-soll-nicht-beschoenigt-werden-aber-die-afrikanischen-verhaeltnisse-werden-in-diesem-kontext-nicht-selten-verklaert-ld.1649803
 (DIR) [2] https://www.youtube.com/watch?v=rKw5vqh0pgQ
 (DIR) [3] /Voelkermord-an-Herero-und-Nama/!5771500
 (DIR) [4] https://www.gender.hu-berlin.de/de/graduiertenkolleg/mitglieder/doktorand-innen/dr.-claudia-brunner
 (DIR) [5] http://historymatters.gmu.edu/d/5478/
 (DIR) [6] https://d-nb.info/1090808046/34
 (DIR) [7] https://www.b-b-e.de/fileadmin/Redaktion/05_Newsletter/01_BBE_Newsletter/2021/10/BBE-Newsletter_21-Zimmerer.pdf
 (DIR) [8] https://offshootjournal.org/what-will-be-the-cure-a-conversation-with-sylvia-wynter/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Aisha Kadiri
       
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