# taz.de -- Osnabrücker Tanzstück „Zeit“: Fesselnde Dichte
       
       > Choreografin Marguerite Donlon beschäftigt sich als neue Direktorin der
       > Osnabrücker Dance Company mit dem Phänomen Zeit. Es ist ein furioser
       > Einstand.
       
 (IMG) Bild: In Osnabrück fusionieren klassisches Ballett und zeitgenössischer Tanz
       
       Als die Evolution beginnt, treibt Nebel über die Bühne.
       Scheinwerferstrahlen bohren sich ins Dunkel. Eine mächtige Skulptur
       ineinander verschlungener Ringe ragt vor uns auf, gleißend, blendend weiß.
       Ewigkeit spricht aus ihr, Unendlichkeit. An Planetenbahnen erinnert sie, an
       Molekularstrukturen. Manchmal wirkt sie wie ein DNA-Strang.
       
       Menschen drängen sich vor ihr; fast gleich sehen sie aus. Ihr Blick ist in
       eine Ferne gerichtet, die voller Verheißung ist und voller Ungewissheit,
       voller Fremdheit und voller Möglichkeiten. In einer Linie stehen sie, einer
       hinter dem anderen, jeder wie von der gleichen imaginären Kraft bewegt,
       zwanghaft, fremdbestimmt. Fragend blicken sie, scheu, ungläubig. Sie
       spüren: Etwas geschieht mit ihnen. Dann individualisieren sie sich, erobern
       einen Raum, der erfüllt ist von sphärischen, fast hypnotischen Klängen.
       
       Marguerite Donlons symbolistisches Tanzstück „Zeit“ beginnt
       schwergewichtig, fordernd, stark, und schon nach wenigen Augenblicken ahnen
       wir, dass uns hier eine Dichte entgegentritt, die anhält, die trägt, die
       fesselt, bis es Zeit ist für den Schlussapplaus. Große Theaterabende sind
       selten. Theaterabende, die berühren. Theaterabende mit Zauber, mit Magie.
       „Zeit“ ist einer davon.
       
       So sperrig Donlons Thema ist, so feinsinnig und kraftgeladen nimmt uns das
       Bühnengeschehen gefangen, so gedankenweckend und spannungsdicht, so
       emotional und klug. Seine zwei Stunden vergehen, als seien es nur eine. Und
       wer es erlebt, weiß: Das Theater Osnabrück hat gut daran getan, Donlon zur
       neuen Direktorin und Choreografin seiner Dance Company zu machen.
       
       „Zeit“ ist Donlons erster Osnabrücker Abend. Und je weiter er
       fortschreitet, desto klarer wird: Das Ensemble, das hier am Werk ist, mit
       seiner sensibel austarierten Schnittmenge aus klassischem Ballett und
       zeitgenössischem Tanz, setzt für Osnabrück neue Maßstäbe.
       
       Hier stimmt alles: Jede Geste ist von hoher Bewusstheit. Jeder Blick, oft
       tief hinein ins Publikum, ist beseelt, inspiriert. Die Athletik überzeugt,
       das Timing, das Charisma. Jede Fußstellung und Kopfdrehung ist hochpräzise,
       jede Hebung und jeder Sprung, und selbst herausforderndste Bewegungsabläufe
       gelingen in fast lautloser Leichtigkeit. Das Ensemble zeigt
       Gemeinschaftsgeist und ist zugleich zu eindrucksvollen Soli fähig – viele
       der hochenergetischen Pas de Deux wirken fast wie eine Hommage an Jiří
       Kyliáns legendäre Choreografien für das Nederlands Dans Theater.
       
       Zeit, sagt eine Stimme ganz am Anfang, sei „ein sonderbares Ding“. Es sei
       „no time left“, sagt eine andere später. „Does time even exist?“
       Psychologisches und Poetisches über die Zeit sagen diese Stimmen, und
       manchmal wiederholen sie sich dabei, überlagern einander, verlieren sich in
       Verzerrungen. Donlon signalisiert damit: Die Zeit ist ein Rätsel. Jeder von
       uns erlebt Zeit anders. Und: Die Zeit ist stets zugleich ein Einst und ein
       Jetzt.
       
       So erklärt sich auch die Bizarrerie des Geschehens: Wesen treten uns
       entgegen, deren Arme zugleich Fühler sind, Tentakel, Flügel. Wesen treten
       uns entgegen wie lebende Uhren. Zeit, zeigt das, ist Fortentwicklung. Und
       Fortentwicklung bringt Wundersames hervor, mitunter Beängstigendes.
       Selbstzweck ist diese Bizarrerie nie. Alles hat Sinn in Donlons Welt, auch
       das Spielerische.
       
       Und alles bildet eine Synergie. An-Hoon Song leitet das Osnabrücker
       Symphonieorchester so feinsinnig, so akzentuiert, dass es ein Genuss ist,
       ihm dabei zuzusehen. Erlischt in seinem Orchestergraben das Licht, weil
       Elektronisches eingespielt wird, von Michio Woirgardt, verfolgt er fast
       andachtsvoll das Bühnengeschehen. Belén Montoliú hat sich für die
       Hell-Dunkel-Kontraste ihres minimalistischen Bühnenbilds und ihrer Kostüme
       gesagt, dass weniger mehr ist, Ernst Schießl für sein teils eisig kaltes
       Lichtdesign dasselbe. Donlons Tänzerinnen und Tänzer zeigen Angst und
       Zweifel, zeigen Verwunderung und Sehnsucht, zeigen Kampf und Elegie, gehen
       und gleiten, beobachten und ertasten, sind so explosiv wie melancholisch.
       Sie werfen riesige Schatten. Seismische Klänge triggern sie, rhythmische
       Donnerschläge, An-Hoon Songs filigrane Zartheit, technoide Sounds, die
       klingen wie U-Boot-Sonare.
       
       Die Ringe der Skulptur drehen sich, Mal um Mal, ein doppeltes Bild der
       Unendlichkeit, verdunkeln sich in bleierndes Grau, in abwehrendes Rauschen.
       Eine fortlaufende Handlung findet zu ihren Füßen nicht statt, denn das
       Leben besteht aus Fragmentation. Aber das Ende, wenn die Stunde schlägt,
       und schlägt, und schlägt, die Stunde neuen Wandels, neuer Evolution,
       verweist auf den Anfang: Statt strenger, willenloser Uniformität herrscht
       nun lebensfrohe Freiheit, und der leere Blick der Blindheit für die Welt
       ist der Neugier auf die Abenteuer des Lebens gewichen, die jenseits des
       Horizonts warten. Eine hoffnungshelle Botschaft.
       
       Marguerite Donlon, in Irland geboren, vordem selbst Tänzerin, war vor ihrem
       Engagement in Osnabrück Ballettdirektorin und Chefchoreografin am Theater
       Hagen. Als Choreografin hat sie von den USA bis Portugal Spuren
       hinterlassen, vom Stuttgarter- bis zum Moskauer Bolschoi-Ballett. In
       Osnabrück folgt sie auf Mauro de Candia, der das Haus verließ, als mit der
       Spielzeit 2021/2022 die Intendanz von Ulrich Mokrusch begann.
       
       Ihr Ensemble sieht sie als Co-ChoreografInnen. Fast alle Tänzerinnen und
       Tänzer kommen im Programmheft zu Wort. „Zeit ist nicht greifbar“, sagt
       Tänzerin Marine Sanchez Egasse. „Zeit ist Leben“, sagt Tänzerin Ambre
       Twardowski. „Zeit ist wie ein Notizbuch“, sagt Tänzerin Jeong Min Kim.
       „Blättere ich eine Seite in die Zukunft, sehe ich eine leere Seite mit der
       Gewissheit, dass ich sie füllen werde.“ Und Donlons Tänzerinnen und Tänzer
       schreiben nicht nur über die Zeit. Ihre Stimmen sind auch auf der Bühne zu
       hören. Aber das Eigentliche sagen sie anders.
       
       2 Nov 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Harff-Peter Schönherr
       
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