# taz.de -- LGBTI-Feindlichkeit in Spanien: Angst und Unsicherheit
       
       > Die antiqueere Gewalt in Spanien wird sichtbarer. Behörden zählten
       > vergangenes Jahr fast ein Viertel mehr LGBTI-feindliche Vorfälle als noch
       > 2016.
       
 (IMG) Bild: LGTBI-Gruppen gehen von viel mehr Übergriffen aus, als in Statistiken verzeichnet
       
       Plötzlich stand er vor mir, beschimpfte mich als ‚schwuler Hurensohn‘ und
       schlug mir mit der Faust ins Gesicht“, erinnert sich Axel Sarraillé an
       jenen Sonntag im März. Er saß in der Linie 5 der Madrider U-Bahn, fuhr nach
       Hause, hörte mit Kopfhörern Musik und schrieb Textnachrichten, als „dieser
       Typ“ aus heiterem Himmel auf ihn einschlug und an der nächsten Haltestelle
       verschwand. Die Brille zerbrach, die Scherben zerschnitten Sarraillés
       Gesicht.
       
       „Ich blutete sehr stark“, erinnert sich der 25-jährige Anthropologiestudent
       und Chef eines Kleinverlags. „Der Wagen war relativ gut besetzt. Niemand
       hielt den Täter auf, niemand half mir“, fügt er dann hinzu. Eine Anzeige
       brachte keinen Erfolg. Es gab keine Zeugenaussagen, und das, obwohl der
       Übergriff mit Fotos des Opfers durch die Presse ging.
       
       „Ich dachte, so etwas würde mir nie passieren“, sagt Sarraillé bedrückt,
       der natürlich weiß, dass Aggression, Beleidigungen und Übergriffe gegen
       Menschen, die ihre Differenz gegenüber dem heteronormativen Mainstream
       offen zum Ausdruck bringen, in Spanien ständig zunehmen. Das
       Innenministerium zählt im vergangenen Jahr 22,6 Prozent mehr
       LGBTI-feindliche Vorfälle als noch 2016.
       
       Insgesamt wurden 282 Fälle zur Anzeige gebracht, das ist nur einer weniger
       als 2019 – und das trotz dreimonatigem Covidlockdown und anschließenden
       Einschränkungen in Freizeit und Nachtleben. 25,5 Prozent davon waren
       Drohungen, in 23 Prozent der Fälle blieb es nicht dabei. Das Opfer wurde
       verletzt.
       
       „Immer mehr und mit immer mehr Gewalt“, beschreibt das Innenministerium die
       Tendenz, die auch dieses Jahr nicht abreißen will. Allein in den ersten
       sechs Monaten 2021 nahmen die Vorfälle um weitere 9,3 Prozent zu. Die
       meisten LGBTI-feindlichen Delikte sind in Großstädten zu verzeichnen. Im
       nordwestspanischen A Coruña wurde gar ein junger Mann, [1][Samuel Luiz, zu
       Tode geprügelt].
       
       Was das Innenministerium berichtet, ist vermutlich nur ein Teil der reell
       geschehenen Übergriffe. LGTBI-Organisationen zählen, je nach Jahr, drei-
       bis viermal so viele wie die offiziellen Statistiken. Das Dunkelfeld ist
       größer, weil nicht alle Delikte angezeigt werden: „Der Weg zu uns ist
       einfacher“, weiß Gabi Aranda.
       
       ## In circa 90 Prozent der Fälle wird keine Anzeige erstattet
       
       Der 39-jährige Informatiker ist Sprecher von [2][Acropoli], einer
       LGTBI-Gruppe, die in Madrid das regionale „Observatorium gegen
       LGTBI-Phobie“ unterhält. „Obwohl wir juristische und psychologische
       Betreuung anbieten, und die Opfer zur Polizei begleiten, trauen sich viele
       nicht, Anzeige zu erstatten“, fügt er hinzu. Scham und die Furcht zum
       Gerede im persönlichen oder beruflichen Umfeld zu werden, seien die
       Hauptgründe dafür.
       
       Eine jüngste Umfrage des spanischen Innenministeriums zeigt das ganze
       Ausmaß der Angst vor dem Weg zur Polizei. 87,1 Prozent derer, die angeben,
       wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Identität Gewalt erlebt zu haben,
       erstatteten keine Anzeige. Laut der Agentur der Europäischen Union für
       Grundrechte (FRA) sind es in Spanien gar 91 Prozent.
       
       Nach dem Grund für die Zunahme der Hassaktionen befragt, zögert Eduardo
       Rubiño keinen Augenblick: „Der Zuwachs der extremen Rechten ist wie ein
       Brandbeschleuniger für die LGTBI-feindlichen Aggressionen“, sagt der
       Abgeordnete der linksalternativen Más Madrid im Regionalparlament und
       Mitglied des spanischen Senats. Der 30-Jährige meint damit die
       rechtsextreme VOX, die sowohl in der Stadt, als auch in der Region Madrid
       mit ihren Stimmen die konservative Partido Popular (PP) an der Regierung
       hält.
       
       „Spanien war Vorreiter in Sachen LGTBI-Rechte, so zum Beispiel bei der
       Homoehe. Die PP hat dies nach anfänglichen Protesten akzeptiert. Jetzt, wo
       VOX stark ist, lässt sich die PP von der extremen Rechten mitreißen“,
       erklärt sich Rubiño die Lage, der aus seiner eigenen Homosexualität keinen
       Hehl macht.
       
       Der Sonderstaatsanwalt für Hassverbrechen in Barcelona, Miguel Ángel
       Aguilar, sieht dies ähnlich. Es gebe „politische Ideen, die den Diskurs der
       Intoleranz verstärken und weißwaschen, und so für Teile der Bevölkerung
       akzeptabel machen“, erklärt er zum Thema LGTBI-Feindlichkeit.
       
       So mancher PP-Politiker tut sich mit der eindeutigen Verurteilung von
       LGBTI-feindlichen Aggressionen schwer. So etwa die Chefin der
       Regionalregierung Madrids, Isabel Díaz Ayuso. Sie verurteilt lieber
       „jedwede Gewalt gegen egal wen, aus egal welchem Grund“. Die
       LGTBI-Feindlichkeit gebe es sowieso „nur in den Köpfen der Linken“.
       
       ## Finanzielle Kürzung für die LGBTI-Organisation Acropoli
       
       VOX-Sprecher Iván Espinosa de los Monteros wird noch deutlicher: „In
       Spanien haben wir einst Schwule verprügelt, und jetzt drücken sie uns ihr
       Gesetz auf“, erklärte er. Das hindert ihn nicht daran, „gewaltsame
       Übergriffe vollständig zu verurteilen“, um dann im nächsten Satz zu
       erklären, es brauche dennoch keinen besonderen Schutz für Menschen aus dem
       LGTBI-Millieu und schon gar keine Subventionen für deren Organisationen.
       Gruppen wie das Observatorium in Madrid gelten ihnen als „chiringuito“, was
       so viel heißt wie Strandbude – ein Ort für Freunde, die es sich gutgehen
       lassen. [3][In Madrid, wo VOX das Zünglein an der Waage ist], wurden
       Acropoli die Zuschüsse gekürzt.
       
       „Die Linke will den Ruf Madrids beschmutzen“, wetterte Bürgermeister José
       Luis Martínez-Almeida, als Anfang September ein junger Mann Anzeige
       erstatte. Er sei von acht Männern überfallen und misshandelt worden. Als
       die Ermittlungen wenige Tage später ergaben, dass er in Wirklichkeit Sex
       außerhalb seiner festen Beziehung hatte und dies mit einer Falschanzeige
       vor seinem Partner kaschieren wollte, nutzen PP und VOX dies, um die
       zunehmenden Aggressionen wegen sexueller Orientierung der Opfer insgesamt
       in Zweifel zu ziehen.
       
       „Es wäre ungerecht, wenn wegen dieses Vorfalls die LGTBI-feindlichen
       Übergriffe heruntergespielt werden“, erklärt Ignacio Paredero, Vorsitzender
       der spanienweiten Föderation [4][La Federación Estatal de Lesbianas, Gais,
       Trans y Bisexuales] (LGTB), ein Zusammenschluss der 18 wichtigsten
       LGTBI-Organisationen des Landes. Die Demonstrationen überall in Spanien
       wurden trotz der überraschenden Wende bei den Ermittlungen
       aufrechterhalten. „Wir dürfen vor lauter Bäumen den Wald nicht übersehen“
       und „Die Prügel und die Morde sind echt“ stand auf den Transparenten zu
       lesen.
       
       „Die Angst und die Unsicherheit existieren“, bekräftigt Paredero. „Durch
       das Erstarken der politisch extremen Rechten kommt zum Vorschein, was lange
       verdeckt existierte“, fügt Rubiño hinzu. „Klar passt du mehr auf, wenn du
       aus was weiß ich für einer Disco kommst oder ein Armband mit
       Regenbogenfarben trägst“, sagt Rubiño. Viele Pärchen überlegten sich gar
       wieder, ob sie Händchen haltend spazieren gehen oder nicht.
       
       Es sind Vorsichtsmaßnahmen, die auch mit dem Verhalten der Polizei
       zusammenhängen könnten: Ende September zogen rund 200 Neonazis durch den
       Szenestadtteil Chueca in Madrid. Dort, wo seit Jahren die Regenbogenfahne
       das Schild zum U-Bahn-Eingang ziert, hallten Rufe wie „Schwule raus aus
       unseren Stadtteilen“ und „Aids-Verseuchte raus aus Spanien“ über den Platz.
       Die Polizei, die nach dem Tod von Samuel Luiz auf [5][gegen
       LGTBI-Feindlichkeit Demonstrierende in der Hauptstadt] einprügelte, ließ
       auch in Chueca die Nazis gewähren und schützte sie vor aufgebrachten
       Anwohnern.
       
       15 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.theguardian.com/world/2021/jul/06/protests-spain-gay-man-samuel-luiz-beaten-death-galicia
 (DIR) [2] https://arcopoli.org/
 (DIR) [3] /Wahlen-in-Spanien/!5770252
 (DIR) [4] https://felgtb.org/
 (DIR) [5] /Proteste-nach-homofeindlicher-Gewalttat/!5784268
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Reiner Wandler
       
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