# taz.de -- Roman übers Westberlin der 1980er: Berliner Weiße mit Schuss
       
       > Till Raethers Roman „Treue Seelen“ spielt im Westberlin der 1980er. Mit
       > Sprachwitz und historischer Genauigkeit erzählt er von einer verbotenen
       > Liebe.
       
 (IMG) Bild: Westberlin 1986: Ein Mann pflegt seinen Schrebergarten an der Berliner Mauer
       
       Westberlin, anno 1987. In der Zehlendorfer Wohnanlage bereitet die
       Hausgemeinschaft das Sommerfest vor: Es gibt Schultheiß aus der Flasche,
       Steaks vom Grill und Frau Sudaschewskis legendären Zwiebeldip.
       
       Mit dabei und doch im Kopf woanders: Barbara und Achim, frisch zugezogen
       aus der rheinischen Provinz. Während Barbaras Gedanken um die radioaktive
       Wolke kreisen, die seit dem Reaktorunglück in Tschernobyl über Berlin
       hängt, hat Achim nur Augen für Nachbarin Marion. Die alte Frau Selchow,
       Naziwitwe mit Dackel und große Beobachterin alles Nachbarschaftlichen,
       spricht am Grill schon mal eine Warnung aus: „Sie müssen ’n bisschen besser
       aufpassen!“
       
       Verbotene Liebe in Westberlin. Zwei begegnen sich auf dem Dachboden beim
       Wäscheaufhängen und dann … Vielleicht nicht der originellste aller Plots,
       aber das muss man sich als Autor erst einmal trauen: in der tausendfach
       literarisch mystifizierten Frontstadt des Kalten Kriegs mit einer ganz
       normalen Liebesgeschichte daherzukommen.
       
       ## Keine besetzten Häuser
       
       Keine besetzten Häuser und wilden Straßenschlachten, kein kreativer
       Müßiggang und schon gar keine Protagonisten, die sich in den Freiräumen der
       Stadt neu erfinden, so wie es [1][Herr Lehmann aus Bremen] tat und vor ihm
       schon [2][Christopher Isherwood aus England] oder Doris, das „kunstseidene
       Mädchen“ aus dem Rheinland es wenigstens versuchte.
       
       Nein, Barbara aus Remagen und Achim aus Bad Godesberg, liiert seit der
       „Ersti-Fete“ an der Uni, kamen nur ein bisschen wegen David Bowie,
       hauptsächlich aber einer Stellenanzeige wegen: Bundesamt für
       Materialprüfung sucht Pyrotechniker in leitender Funktion. Berlinzulage,
       Verbeamtung nach sechs Monaten. Und jetzt steht Barbara jeden Tag zwischen
       halb ausgepackten Kisten in der zu großen Wohnung und wartet, dass ihr Mann
       vom Feuerwehrraketentesten nach Hause kommt. Dann gibt es Nudeln mit
       Fertigsoße und ein Glas Wein.
       
       Im Hintergrund läuft die Waschmaschine in Dauerrotation – die Kleidung von
       draußen ist schließlich potenziell kontaminiert. Achim verschwindet immer
       häufiger auf den Dachboden, Wäschekorb im Arm, Zigaretten in der
       Jeanstasche, in Vorfreude auf Marion, die immer ihre Kittel für den Job im
       Ami-Supermarkt zu Hause wäscht.
       
       „Treue Seelen“ ist ein toller Berlinroman, der mit Sprachwitz und
       historischer Genauigkeit einfängt, wie Westberlin, Sehnsuchtsort der
       bundesdeutschen Provinzjugend, eben auch war: unspektakulär, spießig,
       klein. Die Mehrheit derer, die fernab der Kreuzberger oder Schöneberger
       „Szene“ ihrem Alltag nachgingen, dürften es so erlebt haben: ein öder, aber
       sicherer Job bei irgendeiner Bundeseinrichtung, gepflegte Wohnanlage mit
       Rhododendronbüschen, am Wochenende in die Laube oder raus zum Wannsee. Ein
       Käseglockenleben im Schatten der Mauer.
       
       ## Punk und No Future
       
       In die Bundesanstalt für Materialprüfung in Lichterfelde dringt nur ein
       schwaches Echo der Subkulturen, in Gestalt der schillernden Laborantin
       Sonja Dobrowolski: „ ‚Bis vor fünf, sechs Jahren war ick Punker‘, sagte
       Sonja Dobrowolski und fixierte ihn ernst. ‚No future.‘ (…) ‚No future‘,
       sagte Achim, fast andächtig, weil ihm das gerade so fremd war. ‚Na ja‘,
       sagte Sonja Dobrowolski und wedelte rhetorisch mit dem Klemmbrett, ‚dit
       janze System, erst ma. Und dann der Atomkrieg. Und jetze …‘ – sie zeigte
       mit dem Klemmbrett auf das Geigerzählerröhrchen in seiner Hand – ‚… die
       ganze Tschernobühl-Kacke. Wat soll sein. Aber bis dahin hab ick
       Bundesanjestelltentarif.‘ Achim nickte. ‚Und Ihr Freund …‘ Sie schüttelte
       den Kopf. ‚Nee, nee. Ooch keen Punker mehr. Der ist bei der BfA am Fehrbe
       (Bundesversicherungsanstalt am Fehrbelliner Platz – d. Red.). Nur der Hund.
       Der hat immer noch dit Halstuch.‘ “
       
       Während Barbara in eine Depression rutscht und ganze Tage im Bett
       verbringt, sucht Achim den Ausbruch aus dem Alltag in seiner neuen Liebe.
       Die Grenzen sind allerdings eng: Der Ehemann, die Kinder, die Nachbarn …
       Marion aber ist mit 15 Jahren kurz vor dem Mauerbau allein aus Ostberlin
       geflohen und hat ihre kleine Schwester bei der SED-Funktionärs-Mutter
       zurückgelassen – was läge da näher, als das Tagesvisum für den Osten als
       kleine Liebesflucht zu nutzen und nebenbei ein paar emotionale Schulden aus
       der Vergangenheit abzutragen?
       
       Doch die Hauptstadt der DDR ist keine Kulisse für Verliebte und Marions
       Schwester Sibylle politisch aktiv. In seiner Unbedarftheit macht Achim
       einen dummen Fehler, der nicht nur Sibylle teuer zu stehen kommen wird. Am
       Ende weht ein Hauch Agententhriller durch diesen Roman, der sich von Anfang
       bis Ende so süffig liest wie eine Berliner Weiße mit Schuss.
       
       5 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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