# taz.de -- Feministische Kämpferin gestorben: Rebellin wider den Zeitgeist
       
       > Die feministische Autorin Jutta Heinrich ist vorige Woche in Hamburg
       > gestorben. Aufgefallen war sie durch klare Analysen der
       > Geschlechterverhältnisse.
       
 (IMG) Bild: Hörte auf zu schreiben, weil sie sich nicht wiederholen wollte: Jutta Heinrich
       
       Hamburg taz | Sie war eine starke, zeitlebens politisch engagierte
       Persönlichkeit. Sie verschrieb sich einer Sache mit Haut und Haaren und
       führte sie zum Erfolg. Nur, dass die Schwerpunkte wechselten im Leben der
       1940 in Berlin geborenen Autorin Jutta Heinrich, die vor wenigen Tagen in
       Hamburg starb.
       
       Da war einmal die 14-Jährige, die sich nach dem Weggang der Mutter auch um
       die jüngeren Schwestern kümmerte und im väterlichen Unternehmen
       mitarbeitete. Da war später die selbstständige Handelsvertreterin und
       Unternehmerin, die zwar der bürgerlichen Enge entkommen war, aber oft
       männliche Dominanz erlebte. Erfolgreich war sie trotzdem, die Geschäfte
       florierten.
       
       Ausschließlich aufs Materielle fixiert war Jutta Heinrich dabei nie, hat
       schon als Kind geschrieben. Dafür habe sie sogar manchmal die Schule
       geschwänzt, erzählt ihre langjährige Weg- und Lebensgefährtin Heidemarie
       Ott. Sie holte ihr Abitur nach, studierte 1972 Sozialpädagogik, 1975
       Literaturwissenschaft und Germanistik. Früh hat Jutta Heinrich auch die
       strukturelle und individuelle [1][Unterdrückung der Frau] gespürt und sie
       1966 in ihrem Debütroman „Das Geschlecht der Gedanken“ beschrieben.
       
       ## Radikal und so gar nicht larmoyant
       
       In dem Buch rebelliert ein Mädchen gegen die beengende Erziehung zur Frau
       im kleinbürgerlichen Milieu, gegen männliche Dominanz und den Chauvinismus
       der deutschen Nachkriegsgesellschaft überhaupt. Der Roman ist analytisch
       scharf, erbarmungslos, bissig. Er hätte sofort erscheinen können – wenn
       sich Jutta Heinrich ein männliches Pseudonym zugelegt hätte. Denn die
       Verlage wollten ein so radikales, nicht larmoyantes Buch nur einem Mann
       zuschreiben – zynischer Beleg für den im Buch verhandelten
       [2][Herrschaftsanspruch.]
       
       Aber Jutta Heinrich wollte sich nicht verleugnen und genau jene Strukturen
       stärken, gegen die sie schrieb. Also wartete sie, bis auch die Verlags- und
       Feuilletonbranche so weit war, und brachte das Buch 1977 heraus.
       
       Das Echo: furios. Statt der bis dato Frauen zugeschriebenen
       Leidensliteratur sei dies die „Rache des Opfers“, schrieb die Zeit. Es sei
       ein Buch über „tote Seelen“ fand der Spiegel. „Eines der aufregendsten,
       poetischsten und genauesten Bücher über die Wechselwirkung von
       Unterdrückung und Gewalt“, schrieb Prof. Renate Möhrmann im „Kritischen
       Lexikon der Gegenwartsliteratur“. Und der Autor Jürgen Strasser schrieb für
       das PEN-Zentrum Deutschland, dem Jutta Heinrich seit 1999 angehörte: „Sie
       war eine wichtige Wegbereiterin des Feminismus und verstand es oft mit
       pointiertem Witz, traditionelle Rollenbilder in Frage zu stellen.“
       
       ## Angst vorm atomaren Super-GAU
       
       Doch so radikal Jutta Heinrich auch war: Sie hatte auch eine zarte,
       ängstliche Seite, ja: eine Ur-Angst, die nach dem Fast-Atom-[3][GAU] von
       Harrisburg 1979 viel Raum bekam: „Mit meinem Mörder Zeit bin ich allein“
       heißt die Sammlung von Briefen, Romanfragmenten, Traumprotokollen,
       Tagebuchaufzeichnungen und Gedichten, mit denen sie gegen das Verdrängen
       der atomaren Bedrohung anschrieb.
       
       „Diese Texte sind Ausdruck meiner körperlichen und seelischen Reaktionen
       auf ein Leben unter dem Atompilz, es ist die rebellische, irrende Suche
       nach einer Heimat meines Lebens, unser aller Leben, in einer Zeit, die
       immer zeitloser wird, in einer Zukunft, die explodiert“, hat die Autorin
       laut Homepage des Fischer-Verlags einmal über ihr Buch gesagt.
       
       Schreiben war für Jutta Heinrich Verarbeitung, Politikum und Botschaft
       zugleich, und auch in ihrem Habitus war sie absolut: Ihre Wut und
       Hoffnungslosigkeit über die gesellschaftlichen Verhältnisse sei frisch wie
       eh und je, aber sie wolle sich nicht wiederholen, hat sie der taz 2016
       anlässlich der Neuauflage einiger ihrer Werke gesagt. Deshalb schreibe sie
       nicht mehr – weder Literatur noch Radiobeiträge.
       
       ## Weitergabe an die nächste Generation
       
       Stattdessen produzierte Jutta Heinrich in den letzten Jahren spitze,
       spritzige Kabarett-Texte und betrieb vor allem die transgenerationelle
       Weitergabe durch Schreibwerkstätten für die Jüngeren. Für diejenigen, die
       ihren literarischen Ausdruck noch nicht gefunden hatten.
       
       Jutta Heinrichs eigene professionelle Literatenkarriere liest sich fast wie
       eine jener „Erweckungsbiografien“, in denen ein Manager nach einer
       Grenzerfahrung plötzlich zum Aussteiger wird. Für Jutta Heinrich markierte
       1966 eine Aufführung von Anton Tschechows „Möwe“ den Wendepunkt. Da wusste
       sie: Sie war gefangen, würde sich fortan der Literatur verschreiben. „Das
       Unternehmertum gehörte zu ihrer Abenteuerlust, bis das Schreiben
       durchbrach, wie sie es selbst nannte“, sagt Heidemarie Ott.
       
       Und Jutta Heinrich machte Ernst: Gab ihr Unternehmen auf, eröffnete einen
       kleinen Imbiss in Hamburg. Las dabei wie besessen Literatur; machte den
       Imbiss zum Debattenort. Und dann gab es kein Halten mehr: Sie schrieb,
       erhielt Preise und Arbeitsstipendien – unter anderem im Jüdischen Museum
       Rendsburg, in Worpswede, Amsterdam, Berlin und im Wendland, wo ihre vier
       Schwestern leben.
       
       Ab 2000 nahm sie außerdem Lehraufträge in Hamburg und Bremen wahr, auch
       eine Gastprofessur für Szenisches Schreiben an der Universität der Künste
       Berlin; leitete ein interkulturelles Theaterprojekt in Augsburg. 2017 ehrte
       sie Hamburgs Senat, verlieh ihr für ihre künstlerischen und kulturellen
       Verdienste die Senator-Biermann-Ratjen-Medaille.
       
       ## Nie zum Zeitgeist gepasst
       
       Jutta Heinrich liebte Männer und Frauen, lebte die letzten 24 Jahre mit
       Heidemarie Ott in einer Wohnung am Hamburger Hafen. „Uns verband
       unerschütterbares Vertrauen zueinander und die Idee der Liebe als ein Kind
       der Freiheit“, sagt Ott. „Wir haben Liebe nicht mit Sexualität
       gleichgesetzt. Wir haben viele Leben und Lieben gelebt, sind einander aber
       ein Zuhause geblieben.“
       
       So ganz zum Zeitgeist gepasst hat Jutta Heinrich allerdings nie: „Ohne
       meinen Chauvi-Geist wäre ich längst tot“, hat sie der taz einmal gesagt.
       „Ihre punktuelle ,Über-Heblichkeit' bezog sich auf Einverleibungsversuche
       und identitäre Zuschreibungen“, erklärt Heidemarie Ott. „Meine Sexualität
       ist ja an und für sich in Ordnung, nur nicht im Verhältnis zur Welt“, fand
       Jutta Heinrich selbst.
       
       Durch deren plötzlichen Tod nach kurzer, unberechenbarer Krankheit am 23.
       7. 21 habe sie den Anschluss an ihr Leben verloren, sagt Heidemarie Ott.
       „Irgendwann wird es mir wieder gelingen. Jetzt aber erscheint mir die Welt
       wie ein echoloser Raum.“
       
       31 Jul 2021
       
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