# taz.de -- Sommerschulen gegen Lernrückstände: Pauken in den Ferien
       
       > In Berlin machen Nachhilfeprojekte des Senats in den Sommerferien Schule,
       > doch muss das sein? Ein Besuch im Angesicht steigender Inzidenz.
       
 (IMG) Bild: Kunst-Theater-Musikprojekt während der Sommerferien in Berlin-Neukölln
       
       Berlin taz | Man blicke nun, hatte Berlins Bildungssenatorin Sandra
       Scheeres (SPD) vor den Sommerferien im Juni gesagt, „mit Optimismus nach
       vorn“. Das vergangene Schuljahr sei „hart“ gewesen, aber „zum Glück“ gehe
       diese schwierige Zeit nun zu Ende – doch das war vor den Sommerferien. Dann
       kam die Delta-Variante in Berlin richtig an. Inzwischen ist sie
       vorherrschend bei den Neuansteckungen. Und mit den wieder steigenden
       Inzidenzen schwindet der Optimismus.
       
       Denn bei allen Anstrengungen, die nun unternommen werden, um
       pandemiebedingte Lernlücken bei den Kindern und Jugendlichen zu schließen,
       darf man nicht vergessen: Die drängendste Frage ist, ob die Schulen im
       Herbst wieder im normalen Regelbetrieb laufen werden.
       
       Denn sollte es eine Rückkehr zu Wechselunterricht und Homeschooling geben,
       ist klar: Auch Nachhilfe in den Ferien kann nicht kompensieren, was gerade
       diejenigen Kinder verpassen, die zu Hause wenig Unterstützung bekommen
       (können), sollten die Schultore sich nicht wieder weit und uneingeschränkt
       öffnen.
       
       Die Schere der Chancenungleichheit, sie geht weiter auf: Nicht überraschend
       stellte eine repräsentative Allensbach-Umfrage im Auftrag der Telekom
       Anfang Juli fest: GymnasiastInnen sind der eigenen Einschätzung nach besser
       durch die Pandemie gekommen als SchülerInnen anderer Schulformen. Etwa 27
       Prozent aller Befragten waren der Meinung, „deutlich“ im Rückstand zu sein.
       Immerhin noch 52 Prozent befanden, sie seien „etwas“ im Rückstand. Und: Je
       besser das Elternhaus digital ausgestattet war, desto besser lief, wenig
       überraschend, das Homeschooling.
       
       ## Sind die Ferien zum Lernen da?
       
       Die Sommerschulen, die die Berliner Bildungsverwaltung über das
       [1][Bundesprogramm „Stark trotz Corona“] finanziert, sind ohne Frage
       wichtig. Die zusätzlichen Gelder aus demselben Topf für mehr Jugend- und
       Familien(sozial)arbeit sind sicher dringend nötig nach eineinhalb Jahren
       Pandemie.
       
       Vielleicht sollte man an dieser Stelle aber auch einwenden, wie es etwa die
       Lehrergewerkschaft GEW und PädagogikexpertInnen taten: Sind die Ferien
       wirklich zum Lernen da? Oder wäre es nicht besser, den Kids eine Pause zu
       gönnen – und stattdessen, die Politik in die Pflicht zu nehmen, die Schulen
       rechtzeitig fit zu machen? Einige Länder, wie etwa Thüringen und Sachsen,
       gehen deshalb auch einen anderen Weg und sagen: Aufholen ja, aber das
       kriegen wir auch noch im kommenden Schuljahr hin.
       
       Lernlücken sind ein Symptom der lange geschlossenen Schulen, die eben nicht
       – wie von der Politik versprochen – in der Pandemie als Letztes zu- und als
       Erstes wieder aufgemacht wurden.
       
       Erst in der letzten Ferienwoche Anfang August wird sich der Hygienebeirat
       mit der Bildungsverwaltung zusammensetzen, um das bestehende Hygienekonzept
       für das neue Schuljahr eventuell noch mal zu überdenken. Eine Woche vor
       Schulbeginn, das ist spät.
       
       ## Luftfiltergeräte und Pool-PCR-Tests
       
       Es wird dann auch um die eventuelle Anschaffung von noch mehr
       [2][Luftfiltergeräten für die Berliner Klassenzimmer] gehen, hatte ein
       Sprecher von Senatorin Scheeres der taz gesagt. Zur Erinnerung: Die
       Besorgung der bisherigen rund 8.000 Geräte hat etwa ein dreiviertel Jahr
       lang gedauert.
       
       Selbst wenn der Bund jetzt auch mit 200 Millionen Euro die Anschaffung von
       mobilen Luftfiltergeräten – bisher gab es nur für fest verbaute Geräte Geld
       – in den Ländern fördert: Es ist doch unschwer abzusehen, dass die ersten
       zusätzlichen Geräte kaum vor Beginn der kalten Jahreszeit, wenn Lüften
       wieder vielerorts wegen maroder Fenster oder mangelnder Möglichkeit zum
       Querlüften zum Problem wird, in den Klassen ankommen werden.
       
       Immerhin: Seit dem 19. Juli läuft ein Modellprojekt der Berliner
       Bildungsverwaltung in den Kitas mit [3][Pool-PCR-Tests]; der Pilotversuch
       soll danach auch auf die Grundschulen ausgeweitet werden. Die Kinder
       lutschen dabei für etwa 15 Sekunden an Wattestäbchen, die Speichelproben
       werden gesammelt, und nur wenn das Ergebnis des gesamten Pools mittels
       PCR-Test positiv ausfällt, wird einzeln nochmal nachgetestet. Die Vorteile:
       Man spart Testkapazitäten, und das Lutschen am Wattestäbchen ist angenehmer
       als ein Abstrich.
       
       PCR-Tests sind genauer als die Schnelltests („Nasenbohr-Tests“), mit denen
       sich die Kinder bisher in den Schulen selbst testen sollen. Zudem spart man
       bei der Poollösung Testkapazitäten, wenn nur gezielt nachgetestet wird.
       Laborkapazitäten für so ein PCR-Pooling gäbe es in Berlin genügend, hatten
       die akkreditierten Labore in der Medizin bereits geäußert.
       
       PCR-Pooltests, Luftfilter und auch die Diskussion darüber, wie man
       Impfanreize schafft für die Erwachsenen, die sich jetzt impfen lassen
       könnten – denn für Kinder und Jugendliche gibt es eine Impfempfehlung
       bekanntlich noch nicht: Letztlich geht es darum, dass nicht die Kinder und
       Jugendlichen in der Pflicht sein sollten, irgendetwas aufzuholen. Die
       Verantwortung liegt bei den Erwachsenen. Sie müssen Sorge tragen, dass die
       Kinder in Zukunft möglichst wenig aufzuholen haben werden.
       
       ## Sommerschulen sollen die Lücken füllen: Ein Vor-Ort-Besuch
       
       Wir befinden uns in der zweiten Ferienwoche, es ist kurz nach 9 Uhr am
       Montagmorgen und eigentlich sollte man als Neuntklässlerin an so einem
       Ferienmontagmorgen entweder noch im Bett liegen und ausschlafen oder mit
       den Freunden unterwegs an den nächstgelegenen See sein. Sarah, Mailin und
       Lailani machen nichts dergleichen. Sie sitzen in einem Klassenraum der
       [4][Bettina-von-Arnim-Schule im Märkischen Viertel] und zerlegen folgenden
       Satz in seine grammatikalischen Einzelbestandteile: „Meine Oma kauft eine
       große Portion Pommes.“ – „Denkt dran, das Prädikat sagt immer etwas über
       das Subjekt aus“, hilft Monika Gottwald, die Lehrerin. „Aber wenn ‚die Oma‘
       das Subjekt ist“, sagt eines der Mädchen ratlos, „was ist dann bitteschön
       ‚eine Portion Pommes‘?“
       
       Es ist Sommerschule in Berlin, eines der zentralen
       Pandemie-Nachhilfeprojekte der Senatsbildungsverwaltung. Insgesamt 44
       Millionen Euro bekommen die Berliner Schulen in den kommenden Monaten, um
       coronabedingte „Lernrückstände“ bei den SchülerInnen auszugleichen – oder
       besser, es zumindest zu versuchen. Die Mittel kommen vom Bund: „Stark trotz
       Corona“ heißt das „Aufholprogramm“.
       
       Die Sommerschulen in den großen Ferien sind die erste Maßnahme, die Berlin
       mit diesem Geld finanziert. Insgesamt 5,3 Millionen Euro finanzieren laut
       Bildungsverwaltung rund 5.000 Plätze in den jüngsten Grundschulklassen 1–3
       und in den Jahrgangsstufen 7–8. Mit EU-Mitteln werden zudem Plätze für
       ältere Klassen wie in der Bettina-von-Arnim-Schule gefördert. Jeweils zwei
       Wochen lang gehen diese Nachhilfekurse in den wichtigsten Fächern Deutsch,
       Mathe, Englisch. Immer morgens von 9 bis 12 Uhr, kleine Gruppen von rund 10
       SchülerInnen pro LehrerIn.
       
       Die Plätze zumindest für die jüngeren Klassen 1–3 und 7–8 seien
       übernachgefragt, sagt ein Sprecher von Bildungssenatorin Sandra Scheeres
       (SPD). Man könnte auch sagen: Es gibt nicht genug. Oder zumindest kann man
       wohl feststellen, dass der Ruf nach Hilfe nach 1,5 Schuljahre Homeschooling
       und Wechselunterricht einigermaßen laut und deutlich ist.
       
       ## Durchaus motiviert lernen – der See kann auch warten
       
       Die SchülerInnen, die da morgens im Klassenraum von Monika Gottwald sitzen,
       sind durchaus motiviert – der See kann warten, zumindest für sie. Auch
       dieses Opfer verlangt ihnen Corona ab, „aber was soll’s?“, sagt Lailani,
       und guckt herausfordernd: „Ich nehm jede Hilfe mit, die ich kriegen kann.“
       
       Mailin: „Ich stand in Mathe auf 1, jetzt hatte ich eine 3 zuletzt. Da hab
       ich selbst entschieden, dass ich Nachhilfe brauche.“
       
       Sarah: „Ich stand 2 in Mathe, jetzt hab ich eine 4. Ich habe bei meiner
       Lehrerin im Onlineunterricht einfach nichts mehr verstanden.“
       
       Lailani: „Ich hab mich im Homeschooling eine Weile lang nur auf die
       Nebenfächer konzentriert, das war ganz schlecht.“ Es sei gar nicht so
       leicht, plötzlich selbst rausfinden zu müssen, was wichtig ist, sagt sie.
       Ihre Freundin Mailin hingegen sagt, sie wüsste jetzt immerhin eines,
       nämlich dass sie sich selbst gut organisieren kann.
       
       Sarah, Mailin und Lailani werden wohl von der Sommerschule profitieren. Es
       wird ihnen nutzen, wenn nächstes Jahr der Mittlere Schulabschluss ansteht.
       
       ## Millionen maßgeschneidert einsetzen
       
       Andererseits ist wohl eher die Frage: Wer sitzt jetzt im Sommer nicht
       freiwillig hier, wen sieht man nicht? Im vergangenen Schuljahr, als die
       Schulen nur nach den Sommerferien bis Weihnachten für einige Monate mal
       kurz im Regelbetrieb liefen, habe sie etwa die Hälfte ihrer MitschülerInnen
       beim Videounterricht wiedergesehen, sagt Lailani. „Die, die sonst auch
       meistens nicht in die Schule kommen oder Quatsch machen, die waren auch
       nicht online“, sagt sie.
       
       Die Sommerschulen sind nicht das Einzige, was die Bildungsverwaltung den
       pandemiegebeutelten SchülerInnen angedeihen lassen will. Das kommende
       Schuljahr, das in Berlin am 9. August beginnt, soll mit individuellen
       Lernstandserhebungen für die SchülerInnen starten. Darauf aufbauend sollen
       die Schulen selbstständig entscheiden dürfen, wie sie einen Großteil der 44
       Millionen Euro möglichst maßgeschneidert einsetzen wollen. Man denke da
       etwa, schlägt die Bildungsverwaltung vor, an „Lerncoaching“, an mehr
       Personalbudget für Förderunterricht, an „digitale Tools und vieles mehr“.
       
       20 bis 25 Prozent der SchülerInnen, heißt es auf taz-Anfrage aus der
       Berliner Bildungsverwaltung, hoffe man so zu erreichen. Die Schulen, an
       denen mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen entweder in der
       Grundstufe die Mindestziele in den Vergleichsarbeiten „verfehlen“ oder „die
       weiterführende Schule ohne Schulabschluss verlassen“, sollen „besonders
       berücksichtigt werden“. Man gehe dabei von etwa 20 Prozent der
       allgemeinbildenden Schulen aus, Gymnasien übrigens explizit ausgenommen,
       die sich so Hoffnungen auf ein etwas größeres Stück vom Kuchen machen
       können.
       
       Lehrerin Gottwald sagt, die Jugendlichen kämen „mit echten Lücken.“
       Teilweise wiederhole sie noch die Mathe-Basics aus der 8. Klasse mit den
       angehenden Zehntklässlern. Denn auch das zweite Halbjahr der 8. Klasse
       haben die SchülerInnen ja bereits unter Pandemiebedingungen absolviert, und
       gerade in dem Halbjahr waren die Schulen digital mehr oder weniger völlig
       unvorbereitet fürs Homeschooling.
       
       ## „Endlich mal wieder etwas verstanden“
       
       Wie löse ich Gleichungen mit mehreren Variablen, wie berechne ich einen
       Zylinder, wie ging noch mal der Satz des Pythagoras? Lailani sagt, sie
       könne jetzt endlich x und y berechnen. Mailin sagt, sie habe in der
       Sommerschule „endlich mal wieder etwas verstanden“.
       
       Die Sommerschulen seien ein Anfang, sagt Gottwald, die bei einem freien
       Projektträger angestellt ist und auch außerhalb der Ferien als
       Nachhilfelehrerin arbeitet. „Aber es ist auch klar, dass wir nicht alles
       aufholen können.“ Entscheidend werde das kommende Schuljahr, glaubt
       Gottwald. Sie sagt, man müsse eigentlich viel kleinere Lerngruppen
       anstreben, um mehr differenzieren zu können, „weil die Schere bei den
       Leistungsunterschieden in der Pandemie noch mal auseinandergegangen ist.“
       
       Doch dafür hat Berlin schlicht weder Personal noch Raum in den Schulen.
       Schon jetzt ist die Rekrutierung des ohnehin benötigten Lehrkräftebedarfs
       zu Beginn eines jeden Schuljahrs alles andere als ein Selbstläufer
       angesichts des bundesweiten Fachkräftemangels. Zum Schuljahr 2021/22 müssen
       rund 2.500 Stellen neu besetzt werden.
       
       Lailiani sagt, ihr sei das Wichtigste, dass die Schulen überhaupt wieder
       aufmachen im Herbst: „Hauptsache, alles ist irgendwann mal wieder ganz
       normal.“
       
       Den Wunsch nach Normalität, den sieht auch Todd Fletcher. Er verantwortet
       beim freien [5][Jugendhilfeträger PluralArts] ein Ferienprojekt in
       Neukölln, von dem vor allem geflüchtete Kinder und Jugendliche profitieren
       sollen. Zwei Wochen lang werden die Kids, die meisten von ihnen zwischen 7
       und 14 Jahre alt, in drei Lerngruppen aufgeteilt, zum einen zum Deutsch
       lernen – und zum anderen, um möglichst kreativ gemeinsam Freizeit
       verbringen. Die Teenager schreiben einen eigenen Popsong, studieren ein
       Musical auf Englisch ein. Sie kochen mittags zusammen in der Küche des
       Nachbarschaftshauses in der Karlsgartenstraße, wo die „Ferienschule“, wie
       das Programm korrekt heißt, stattfindet.
       
       ## Run auf die Ferienschule
       
       „Die Nachfrage war so groß, dass wir in diesem Jahr eigentlich keine
       Werbung dafür machen mussten“, sagt Fletcher. „Wie 2016“ sei das gewesen,
       als Berlin viele Geflüchtete, vor allem aus Syrien, aufnahm. Die Kids, sagt
       Fletcher, „wollen einfach raus nach dem Lockdown, sie kommen von alleine“.
       
       65 Anmeldungen habe es gegeben für die Ferienschule, sagt Fletcher. Maximal
       45 Kids, aufgeteilt in drei Lerngruppen, konnte er aufnehmen. Dass es nicht
       mehr sein durften, lag nicht etwa an mangelndem Personal – da könnte er
       locker noch eine Gruppe mehr betreuen, sagt der Musikpädagoge. Es gebe aber
       schlicht weniger Budget in diesem Jahr als noch 2020, wo er sechs Gruppen
       gehabt habe.
       
       Tatsächlich stehen den Ferienschulen laut Bildungsverwaltung mit einem
       Budget von 700.000 Euro in diesem Jahr 100.000 Euro weniger zur Verfügung
       als noch 2020. Allerdings werden die Mittel als Doppelhaushalt bewilligt,
       das heißt es gab für 2020/21 eine Gesamtsumme von 1,5 Millionen Euro. Aus
       dem „Aufholen“-Bundesprogramm wird es eine halbe Million Euro zusätzlich
       geben, allerdings erst ab 2022.
       
       „Wir könnten jetzt mehr machen“, sagt Isabel Kuttner. „Wir nehmen in der
       Pandemie ganz klar einen höheren Bedarf wahr.“ Kuttner koordiniert beim
       übergeordneten Projektträger Deutsche Kinder- und Jugendstiftung die
       Verausgabung der Ferienschulenmittel an die einzelnen Träger vor Ort.
       
       Insgesamt sind es 33 Akteure, die berlinweit „in allen Bezirken“, wie
       Kuttner betont, Angebote machen – für rund 1.500 Kinder und Jugendliche.
       Insbesondere Kinder in den sogenannten Willkommensklassen will man
       erreichen, gesonderte Lernklassen, insbesondere für geflüchtete Kinder, wo
       vor allem erst mal Deutsch gelernt wird. Etwa 6.000 Kinder lernen derzeit
       in Berlin in solchen Willkommensklassen, sagt Kuttner.
       
       ## Einer von ihnen ist Khalid Haidari
       
       Tatsächlich könnte man also vermutlich „mehr machen“. Immerhin: Sie habe
       „positive Signale“, sagt Kuttner, dass die Förderung für die Ferienschulen
       im kommenden Doppelhaushalt in ähnlicher Höhe aufgenommen würde.
       Beschlossen werden die Mittel allerdings erst frühestens im Januar, wenn
       sich die neue Regierungskoalition nach der Abgeordnetenhauswahl im
       September gefunden hat.
       
       In der Turnhalle des Nachbarschaftshauses in der Karlsgartenstraße sitzen
       kurz vor der gemeinsamen Mittagspause 25 Jugendliche auf dem Boden und
       singen den Popsong mit, den sie sich gemeinsam ausgedacht haben. Irgendwie
       sei das ja wohl eine Art Liebeslied geworden, wie Fletcher am Keyboard
       scheinbar überrascht bemerkt – und nicht jeder der Teenager kommt denn auch
       ohne Kicheranfall über die Zeilen: „Ohne dich fühle ich mich leer / wie
       tief gesunken im Meer.“
       
       Vier oder fünf der Jugendlichen tragen weiße T-Shirts mit dem Schriftzug
       des Trägers, PluralArts, darauf. Einer von ihnen ist Khalid Haidari. Als
       die Batterien des Keyboards schwächeln, springt er gleich auf und besorgt
       neue. Die Jugendlichen in den weißen Shirts sind bereits meist seit einigen
       Jahren regelmäßig in der Ferienschule. Sie unterstützen die
       SozialarbeiterInnen, organisieren den Tag, helfen in der Verwaltung oder
       sind AnsprechpartnerInnen für die neuen Kinder. „Ich habe hier
       Verantwortung, ich lerne dadurch viel“, sagt Haidari. Er hat gerade die 10.
       Klasse mit dem Mittleren Schulabschluss abgeschlossen. Nach den
       Sommerferien will er auf ein Oberstufenzentrum mit Schwerpunkt Wirtschaft
       wechseln.
       
       Verantwortung übernehmen, die Erfahrung machen, dass einem Menschen etwas
       zutrauen: Vermutlich sind es Erfahrungen wie diese, die manchmal den
       Unterschied machen, ob man genug Energie hat, sich im Deutschunterricht dem
       Dativ zu widmen und am Ende den Mittleren Schulabschluss zu machen.
       
       ## „Intransparenter Schlüssel“ bei Verteilung der Mittel
       
       In der [6][Otfried-Preußler-Grundschule] im Reinickendorfer Stadtteil
       Heiligensee sitzt der angehende Drittklässler Henry über dem
       Rechenschieber. 44 + 10 soll er rechnen, – „weiß ich aber gerade nicht“.
       Lehrer Sebastian Thull hilft, dann weiß Henry es doch.
       
       Auch die Sommerschule für die jüngeren Klassen 1–3 seien sehr nachgefragt,
       sagt Akteja Stoitscheva, Projektleiterin beim Studienkreis Tegel, der das
       Personal für die Sommerschule an der Otfried-Preußler-Grundschule stellt.
       Zwei Gruppen hat die Schule von der bezirklichen Schulaufsicht bewilligt
       bekommen. „Wir hätten auch Personal für mehr gehabt“, sagt Stoitscheva.
       
       Markus Glage vom Projektträger Intellego, der die Sommerschule in der
       Bettina-von-Arnim-Schule koordiniert, kritisiert den „intransparenten
       Schlüssel“, nach dem die Sommerschulen-Mittel verteilt worden seien.
       „Manche Schulen haben von der Schulaufsicht alle Gruppen genehmigt
       bekommen, andere gar keine.“ Eine Schule habe sogar mehr Gruppen zugewiesen
       bekommen, als sie schließlich benötigt habe – „das konnten wir zum Glück
       noch umverteilen“, sagt Glage.
       
       „Wir sehen die Defizite durch die Pandemie, was zu Hause nicht geübt werden
       konnte“, sagt Stoitscheva vom [7][Studienkreis Tegel]. Nicht alle der
       Kinder, die in den Nachhilfeschulen sitzen, könnten nach der 1. Klasse
       sicher die Buchstaben des Alphabets erkennen. „Und nach der 2. Klasse
       sollten aber alle sicher sein im Lesen und Schreiben, denn dann geht es in
       der 3. Klasse mit Grammatik los.“
       
       ## „Wir brauchen mal eine Pause“
       
       Die LehrerInnen, die die Kinder für die Sommerschulen angemeldet haben,
       hätten den Sommerschul-Kräften passgenaues Übungsmaterial für jedes Kind
       hinterlassen, sagt Stoitscheva. Ein Junge, der etwas ungelenk
       Schwungübungen für das große C macht, seufzt: „Seien Sie froh, dass Sie mit
       der Schule fertig sind“, sagt er zu Nachhilfelehrer Thull.
       
       Projektleiterin Stoitscheva sagt, im Sommer 2020, nach dem ersten Lockdown,
       sei das Interesse an Nachhilfe sogar noch größer gewesen als in diesem
       Sommer. Der Studienkreis bietet auch abseits der Sommerschulen
       Nachhilfeunterricht an, die dann allerdings von den Familien privat bezahlt
       werden muss. „Ich glaube, bei ganz vielen gibt es jetzt das Gefühl: Wir
       müssen in den Urlaub, wir brauchen mal eine Pause, Normalität.“
       
       Bei den NeuntklässlerInnen an der Bettina-von-Arnim-Schule haben Lailani,
       Mailin und Sarah noch eine Weile überlegt und dann rausbekommen, wie sie
       nach der „Portion Pommes“ fragen müssen: Wen oder was kauft die Oma? Ah, es
       ist der Akkusativ.
       
       25 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/corona-pandemie/aufholen-nach-corona
 (DIR) [2] /Luftfilter-in-Schulen/!5780981
 (DIR) [3] /Pandemieschutz-in-der-Kita/!5760937
 (DIR) [4] https://www.bettina-schule.de/
 (DIR) [5] http://pluralarts.de/
 (DIR) [6] https://www.ops-berlin.de/
 (DIR) [7] https://www.studienkreis.de/nachhilfe-berlin/tegel/
       
       ## AUTOREN
       
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