# taz.de -- Änderung des Infektionsschutzgesetzes: Ausgangssperren weiter umstritten
       
       > Mit den Stimmen von Union und SPD hat der Bundestag die Bundesnotbremse
       > beschlossen. Die Opposition kritisiert die Ausgangsbeschränkungen.
       
 (IMG) Bild: Einheitliche und verbindliche Regelungen sollen die Ausbreitung des Coronavirus eindämmen
       
       Berlin taz | Trotz heftiger Einwände der Opposition hat der Bundestag am
       Mittwoch mit den Stimmen der Großen Koalition die sogenannte
       Bundesnotbremse in der zweiten und dritten Lesung beschlossen.
       Vorbehaltlich der Zustimmung durch den Bundesrat gilt damit nun ein
       verbindlicher bundeseinheitlicher Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung der
       Coronapandemie.
       
       „Wir können das Virus nicht wegtesten, wir können auch gegen eine Welle
       nicht animpfen“, begründete Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die
       von Union und SPD in namentlicher Abstimmung durchgesetzten Änderungen des
       Infektionsschutzgesetzes. „Wir müssen also erst diese dritte Welle
       brechen.“ Dazu gebe es nur ein „ebenso banales wie wirksames Mittel“: das
       Reduzieren von Kontakten.
       
       Das heißt konkret: Wenn im einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt die
       Sieben-Tage-Inzidenz der gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000
       Einwohner:innen an drei Tagen hintereinander über 100 liegt, gilt dort
       zwischen 22 und 5 Uhr eine nächtliche Ausgangsbeschränkung. Eine Ausnahme
       gibt es bis Mitternacht für Spaziergänger:innen oder Jogger:innen.
       Allerdings müssen sie alleine unterwegs ein.
       
       Untersagt wird bei einem Sieben-Tage-Inzidenzwert von 100 auch die Öffnung
       von Freizeiteinrichtungen, Museen, Kinos, Gaststätten, Theatern und
       ähnlicher Einrichtungen. Fürs Einkaufen ist dann ein negativer Coronatest
       und eine Terminbuchung erforderlich. Ausnahmen gelten für
       Lebensmittelgeschäfte, Drogerien, Buchhandlungen und Ähnliches. Steigt der
       Wert über 150, ist nur noch das Abholen bestellter Waren (Click & Collect)
       erlaubt. Ab einer Sieben-Tage-Inzidenz-von 165 gibt es ein Verbot des
       Präsenzunterrichts in den Schulen.
       
       „Die Lage ist unverändert ernst“, sagte Bundesfinanzminister Olaf Scholz
       (SPD). „80.000 Bürgerinnen und Bürger dieses Landes sind gestorben und
       darüber kann man nicht hinwegreden und auch nicht hinwegsehen.“ Gefordert
       seien „Klarheit und Konsequenz“. Deswegen seien nun Regeln notwendig, die
       „überall in Deutschland und immer und in jedem Fall“ gelten.
       
       ## Scharfe Kritik von der Opposition
       
       Die Opposition hegt jedoch deutliche Zweifel an der Tauglichkeit der
       Maßnahmen. Es handele sich um eine „halbherzige Notbremse“, die erst
       greife, „wenn der Zug schon gegen die Wand fährt“, kritisierte die grüne
       Bundestagsabgeordnete Kirsten Kappert-Gonther. Die FDP-Abgeordnete
       Christine Aschenberg-Dugnus bescheinigte der Regierungskoalition: „Ihr
       Gesetzentwurf hat erhebliche handwerkliche Mängel.“ Die Bundesregierung
       taumele „von einem Murks zum nächsten“, sagte Linksfraktionschefin Amira
       Mohamed Ali.
       
       Obwohl der hohe Anteil an Ansteckungen am Arbeitsplatz wissenschaftlich
       sehr gut belegt sei, würden trotzdem die Arbeitgeber nach wie vor „nicht
       richtig in die Pflicht“ genommen, so Mohamed Ali. „Wir brauchen endlich
       Schutz für alle Menschen an allen Arbeitsplätzen und auch auf dem Weg zur
       Arbeit“, forderte sie.
       
       Entschieden lehnten sowohl Linkspartei, FDP als auch Grüne die nächtlichen
       Ausgangsbeschränkungen ab. Diese seien „keine geeigneten Maßnahmen“, sagte
       die FDP-Frau Aschenberg-Dugnus. Denn für ihre Wirksamkeit gebe es „keine
       wissenschaftliche Evidenz“. Als „verfassungsrechtlich höchst umstritten“,
       bezeichnete sie die Grüne Kappert-Gonther.
       
       Linkspartei und FDP stimmten deswegen gegen die Gesetzesänderung, die
       Grünen enthielten sich. Insgesamt votierten in der namentlichen Abstimmung
       342 Abgeordnete dafür. Es gab 250 Nein-Stimmen und 64 Enthaltungen.
       
       ## Achillesferse Ausgangsbeschränkungen
       
       Tatsächlich sind die Ausgangsbeschränkungen die Achillesferse des
       geänderten Infektionsschutzgesetzes. Denn nicht nur bei der Opposition ist
       ihre Wirksamkeit zur Eindämmung der Pandemie ebenso umstritten wie die
       Frage, ob sie verfassungskonform sind. Das zeigen zwei Ausarbeitungen des
       Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, die der taz vorliegen.
       
       In dem ersten Papier sichtet der Bundestagsdienst die – bislang dünne –
       wissenschaftliche Studienlage zur Wirkung von Ausgangsbeschränkungen. Das
       Fazit fällt ernüchternd aus. So würden verschiedene Studien zwar darauf
       hindeuten, „dass eine nächtliche Ausgangssperre einen Effekt auf die
       Verbreitung von SARS-CoV-2 und auf das Mobilitätsverhalten der Bevölkerung
       zeigen kann“.
       
       Aber dieser Effekt sei „im Vergleich zu anderen Maßnahmen gering und von
       weiteren Faktoren wie dem Beginn der Ausgangsbeschränkungen und anderen
       zeitgleich und im Vorfeld angewendeten Maßnahmen abhängig“. Im
       ungünstigsten Fall könnte es sogar „zu einer Ballung von Kontakten
       außerhalb des Geltungszeitraums kommen, wenn mobiles Verhalten schlicht auf
       eine andere Tageszeit vorverlagert wird“.
       
       Im zweiten Papier geht es um die verfassungsrechtliche Bewertung der neuen
       Infektionsschutzgesetzgebung. „Die Ausgangsbeschränkung in der Nacht ist
       kritisch zu bewerten“, schreibt der Wissenschaftliche Dienst. „Ob sie einer
       abschließenden verfassungsgerichtlichen Prüfung standhielte, dürfte
       zweifelhaft sein.“ Auf jeden Fall erforderlich seien Ausnahmen für
       Geimpfte.
       
       „Maßnahmen gegen die Pandemie sind unverzichtbar, und in gewissem Umfang
       muss man dafür auch Grundrechtseinschränkungen hinnehmen – aber bei
       nächtlichen Ausgangssperren ist die Verhältnismäßigkeit nicht gegeben“,
       sagte die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Ulla Jelpke, der
       taz. „Ich halte sie für verfassungswidrig und zudem für höchst unsozial.“
       Denn sie träfen vorzugsweise jene Bevölkerungsteile, die ohnehin schon
       benachteiligt sind, weil sie in beengten Wohnverhältnissen leben.
       
       ## AfD protestiert innerhalb und außerhalb des Reichstags
       
       Zu Beginn der Bundestagsdebatte am Mittwoch hatte die AfD, deren
       Abgeordnete demonstrativ keine Masken im Plenum trugen, vergeblich die
       Absetzung des Tagesordnungspunktes beantragt. Als einen „Tabubruch“
       bezeichnete der AfD-Fraktionschef Alexander Gauland die Gesetzesänderung.
       Ausdrücklich ergriff er Partei für für die
       Anti-Coronamaßnahmen-Protestler:innen, [1][die am Mittwoch in Berlin
       demonstrierten]: „Sie können nicht das halbe Volk zu Querulanten machen“,
       warf er den anderen Fraktionen und der Regierung vor.
       
       Ab morgens 9 Uhr hatten sich die mehrere tausend Demonstrant:innen auf
       der Straße des 17. Juni versammelt. Alle Wege ins Regierungsviertel waren
       von der Polizei, die ein Großaufgebot von mehr als 2.000 Beamt:innen und
       Wasserwerfern aufgebot, hermetisch abgeriegelt worden. Auf zwei Bühnen
       sprachen etwa der AfD-Abgeordnete Hansjörg Müller oder auch Anselm Lenz,
       der Initiator der „Hygienedemos“. Dass das nächste „Ermächtigungsgesetz“
       sie geradewegs in die Diktatur führt, war unter ihnen ebenso Konsens wie
       die Ablehnung des „Maskenzwangs“ und des Abstandsgebots.
       
       Die Polizei reagierte auf die massenhafte Verletzung der
       Hygienebestimmungen durch die etwa 8.000 Teilnehmer:innen mit der
       Auflösung der Versammlung am Mittag. Infolgedessen zog ein großer Teil von
       ihnen in Richtung der Absperrungen vor dem Brandenburger Tor. Zwischen
       Hippies und Verschwörungsideolog:innen sammelten sich immer mehr
       erkennbare Neonazis und Hooligans.
       
       Viele von ihnen setzten sich gegen Festnahmversuche zur Wehr. Flaschen
       flogen, Polizist:innen wurden körperlich angegangen und mussten sich
       teilweise vor der wütenden Menge aus dem Tiergarten zurückziehen. Die
       Beamt:innen reagierten mit dem Einsatz von Pfefferspray. Bis zum
       Nachmittag wurden dutzende Menschen festgenommen.
       
       Es sei „nicht nur unanständig, sondern es ist unwürdig gegenüber den
       Betroffenen und gegenüber den Familienangehörigen, dass Sie davon faseln,
       dass die Pandemie herbeigetestet wurde“, hielt SPD-Fraktionschef Mützenich
       der AfD im Bundestag entgegen. Der parlamentarische Geschäftsführer der
       Linksfraktion, Jan Korte, sprach von „braunem Klamauk“.
       
       21 Apr 2021
       
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