# taz.de -- Essayband über Natur und Mensch: Der Garten, den wir haben
       
       > Migrierende Pflanzen und wandernde Grenzen: „Paradise Now“ von Violeta
       > Burckhardt und Günther Vogt ist eine unterhaltsame Essaysammlung.
       
 (IMG) Bild: Arbeiter decken den Schneeferner-Gletscher auf der Zugspitze bei Garmisch-Partenkirchen ab
       
       Das Frühjahr ist Gartenzeit – zumal in der Pandemie. Wenn sonst nichts zu
       tun ist: Aussäen und Umgraben geht immer. Wer es eher theoretisch mag, kann
       im Liegestuhl über das Wesen des Gartens philosophieren. Der schmale
       Essayband der LandschaftsarchitektInnen Günther Vogt und Violeta
       Burckhardt, eignet sich dafür perfekt.
       
       Unter dem verheißungsvollen Titel „Paradise Now“ werden am Beispiel
       menschengeformter Landschaften [1][die Grenzen zwischen Natur und Kultur]
       ausgelotet, die sich im Anthropozän zunehmend verschieben. Anhand
       verschiedener Gartenmodelle zeigen Vogt und Burckhardt auf, wie der Mensch
       Natur modelliert und das Land gleichzeitig den Menschen kultiviert.
       
       Die Gedankenreise beginnt im Iran des 6. Jahrhunderts. Dort herrschte
       bereits die Vorstellung des Gartens als einem von der großen Welt
       abgegrenzten intimen Raum: Aus dem Altpersischen pairi (herum) und daeza
       (Mauer) entwickelte sich das Garten-paradies, in dem Wege, Wasserkanäle und
       bepflanzte Flächen der Nahrungsmittelproduktion, Erholung und
       Kulturproduktion dienen.
       
       Im 21. Jahrhundert fließen die Grenzen zwischen dem „wohlgeordneten“
       Erhalten des Gartens und dem „Zufälligen der freien Natur“ immer öfter
       ineinander. Etwa im [2][Saatguttresor im norwegischen Spitzbergen.]
       
       ## Ein Paradies, das nur wenigen offensteht
       
       Den unterirdischen Bunker, in dem Samenkörner aus aller Welt
       katastrophensicher eingelagert sind, lesen Vogt und Burckhardt als
       „potenziellen“ Garten: „Ein zukünftiger Wald, eine andere Erde. Hier
       schlummern Landschaften und wohnen Verbündete einer kommenden Welt; einer
       Welt, für die plausible wissenschaftliche Prognosen ein düsteres Bild
       zeichnen.“
       
       Freilich, so konstatieren sie, ist auch dies ein Paradies, das nur wenigen
       offensteht: Dem Träger Global Crop Diversity Trust und seinem ökologischen
       Archegedanken misstrauen besonders Entwicklungsländer und kleine
       Produzenten, die befürchten, ihr kulturelles Erbe dem Patenthunger der
       globalen Agrarindustrie auszuliefern.
       
       Interessant auch die Überlegungen zu den Grenzen im alpinen Lebensraum: Der
       Essay rekapituliert im Schnelldurchlauf, wie das Gebirgsmassiv von einer
       geografischen Barriere zum überstrapazierten Tourismuspark avancierte, in
       den abenteuer- und erholungssuchende Menschen immer weiter vordringen –
       während die Erderwärmung die Vegetationslinie immer weiter nach oben
       verschiebt.
       
       Die Versuche der Schweiz, das Abschmelzen der Gletscher und die
       Verkleinerung der Skigebiete durch Planenabdeckungen und Schneekanonen
       aufzuhalten, sind in den Augen der AutorInnen so amüsant wie starrsinnig.
       Einleuchtender scheint ihnen der Pragmatismus, mit dem sich Italien und die
       Schweiz auf eine „bewegliche Grenze“ verständigt haben.
       
       ## Liegestuhlkompatible Erkenntnis
       
       Da der Klimawandel die Ländergrenzen buchstäblich ins Rutschen bringt,
       verlangt die Umfriedung des territorialen „Gartens“ fluide Lösungen. Auch
       die Migration der Pflanzen ist den Menschen entglitten, wie das Beispiel
       der Chinesischen Hanfpalme (Trachycarpus fortunei) zeigt.
       
       Am schweizerisch-italienischen Lago Maggiore siedelten wohlhabende Bürger
       im 15. Jahrhundert die Zierpflanze an, um damit die Gärten ihrer Villen zu
       schmücken. Inzwischen hat sich das Gewächs derart vermehrt, dass es
       ikonisch sämtliche Ansichtskarten der Region ziert. Als Ornament
       willkommen, wurde die pflanzliche Migrantin vom Schweizer Bundesamt für
       Umwelt zur Gefahr für die lokale Biodiversität erklärt.
       
       Gewächshauslandschaften unter künstlichem Licht, Solarfelder, unterseeisch
       gezündete Bomben: Vogt und Burckhardt nehmen die LeserInnen mit in die
       Höhen menschlicher Naturbeherrschung und in die Tiefen ihrer Zerstörung.
       Auch wenn sich der Mensch vermeintlich unabhängig gemacht hat von der
       Natur, so die Botschaft des Buches, ist er doch unfähig, die langfristigen
       Wechsel- und Nachwirkungen dieser Eingriffe zu kontrollieren.
       
       Von der neuen Wildnis in der Sperrzone um Tschernobyl bis zu den
       Hochgeschwindigkeitskabeln unter der Arktis, vom problematischen Begriff
       des „Naturerbes“ bis zum vertikalen Farming rund um London – „Paradise Now“
       ist eine unterhaltsame wie lehrreiche Gedankenreise. Am Ende steht die
       liegestuhlkompatible Erkenntnis, dass „die Erde unser größter Garten ist
       und der einzige, den wir haben“.
       
       19 May 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Historische-Gaerten-in-der-Klimakrise/!5712174
 (DIR) [2] /Karge-Landschaften-auf-Spitzbergen/!5693780
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nina Apin
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Essay
 (DIR) Menschen
 (DIR) Garten
 (DIR) Saatgut
 (DIR) Gletscher
 (DIR) Literatur
 (DIR) Schwerpunkt Klimawandel
 (DIR) Schwerpunkt Artenschutz
 (DIR) Park
 (DIR) Comic
 (DIR) Bäume
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) John Green und das Anthropozän: Die Welt wird wohl überleben
       
       Autor John Green fördert in seinem ersten Sachbuch Überraschendes über
       unser Erdzeitalter zutage – mit einer nahezu unerträglichen Leichtigkeit.
       
 (DIR) Ergebnisse der „Polarstern“-Mission: Ein Ozonloch am Nordpol?
       
       Ein Jahr lang war der Forschungseisbrecher „Polarstern“ in der Arktis
       unterwegs. Erste Ergebnisse der Expedition offenbaren Erschreckendes.
       
 (DIR) Aichi-Ziele der UN-Konvention: Welt verfehlt Artenschutzziel
       
       Die gute Nachricht: Schutzgebiete wurden in den letzten zehn Jahren
       deutlich ausgeweitet. Ziele scheinen durchaus Wirkung zu zeigen.
       
 (DIR) Die Parks des Fürsten Pückler Muskau: Dandy und Gärtner
       
       Seine Parkanlagen sind das größte Vermächtnis des reisenden Fürsten
       Pückler-Muskau. Zu Coronazeiten sind sie allseits beliebte Ausflugsorte.
       
 (DIR) Comics vom Ende der Welt: Die Rache der Natur
       
       Zeps Graphic Novel „The End“ erzählt vom Aufstand der Bäume. Lukas Jüligers
       „Unfollow“ verspricht Heilung durch die Rückbesinnung.
       
 (DIR) Ausstellung zum Baum in der Kunst: Die großen Alchemisten der Welt
       
       Die Ausstellung „Nous les arbres“ fordert Besucher mit Erkenntnissen über
       Bäume heraus. Sie ist gedankenreich und zugleich exzentrisch.