# taz.de -- HipHop-Szene in Chicago: Der Tod von Carlton D. Weekly
       
       > Chicago ist Mordhauptstadt der USA. Auch zwischen Rap und Gangaktivitäten
       > bestehen viele Zusammenhänge. Aber es gibt Alternativen.
       
 (IMG) Bild: Rapper Chief Keef auf der Bühne in Los Angeles 2019
       
       Es ist ein warmer Tag in einer belebten Einkaufsstraße an der Goldcoast,
       dem nobelsten Innenstadtviertel von Chicago. Im Norden der
       Dreieinhalb-Millionen-Einwohner-Metropole gelegen, grenzt Goldcoast direkt
       an Downtown, die Innenstadt, die in Chicago Loop genannt wird. Am Ufer des
       Michigansees ist nur an der Goldcoast ein Sandstrand aufgeschüttet.
       
       An jenem 4. August 2020 steigen ganz in der Nähe vier Bewaffnete aus ihren
       Autos und eröffnen inmitten von Passanten sofort das Feuer auf Carlton D.
       Weekly. Weekly stirbt im Kugelhagel, zwei seiner Begleiter werden verletzt
       und einige Schaufenster zersplittern. Das Mordopfer ist ein Star der
       Chicagoer Drill-Szene, einem lokalen Subgenre von Rap, das in den zehner
       Jahren entstanden ist und inzwischen auch in New York und England sehr
       populär ist.
       
       Unter dem Künstlernamen FBG Duck veröffentlicht Carlton Weekly Musik, 2018
       landet der 26-Jährige mit dem Song „Slide“ seinen größten Hit. Das Video
       wurde bis heute 61 Millionen Mal auf Youtube angeschaut und macht FBG Duck
       zu einem der vielversprechendsten Talente der Chicagoer Drillszene. Wie
       andere Künstlerkollegen wurden FBG Duck Verbindungen zur Chicagos
       Gangkultur nachgesagt.
       
       So soll auch das Tatmotiv für den Mord in den Reimen seines Songs „Dead
       Bitches“ liegen. Darin, so heißt es, zelebrierte er vermutlich die Morde an
       Mitgliedern einer berüchtigten Gang, den Black Disciples. Gewaltverbrechen,
       wie der Mord an FBG Duck sind in der Chicagoer Drill-Szene trauriger
       Alltag.
       
       Konkurrenten und die ihnen nahestehenden Gangs zu beleidigen, ist weder neu
       noch einzigartig. Es ist nur ein Mittel, um die eigene Bekanntheit in den
       sozialen Medien zu steigern. Am Verstörendsten erscheint dabei die
       Tatsache, dass gerade die Wahrscheinlichkeit einer blutigen Vergeltung die
       Clickzahlen erhöht.
       
       ## Gewalt in der Drillszene
       
       Die mörderische Gewalt in der Drillszene spiegelt lediglich das allgemeine
       Gangproblem der Stadt wider, das schon seit den 1960er Jahren in
       unterschiedlicher Drastik besteht und unzählige Menschenleben gekostet hat.
       Chicago ist ein Knotenpunkt für den nordamerikanischen Drogenhandel, bis
       hierher reicht der lange Arm der mexikanischen Kartelle.
       
       Ein Flickenteppich aus Gangs bekriegt sich auf unterschiedlichen
       Territorien der Stadt mit Waffengewalt. Inzwischen wird dieser Konflikt
       auch in Tweets und Textzeilen der Songs von Drillrapper:Innen
       fortgeführt. 2020 verzeichnete Chicago 774 Morde, 2019 waren es noch 504.
       Es wird jedes Jahr schlimmer. Damit rangiert die drittgrößte Stadt des
       Landes auf dem traurigen ersten Platz der Städte mit den meisten Mordopfern
       in den USA.
       
       Rapper:Innen sind im digitalen Zeitalter immer auch kleine
       Multimedia-Unternehmer:Innen, es geht nicht nur um die Vermarktung ihrer
       Musik, sondern auch um den Onlinecontent, der auf verschiedenen Plattformen
       geteilt wird. Gerade in Chicago findet die Bandenkriminalität unter
       benachteiligten jugendlichen Schwarzen, die in struktureller Armut
       aufwachsen, schnell ihren Weg ins Internet.
       
       Das hat sich auch in Chicagos Drillszene herumgesprochen. Der
       (inter-)nationale Erfolg einiger lokaler Rapper:Innen in den letzten
       Jahren hängt auch mit der Digitalisierung von Gang-Aktivitäten zusammen.
       
       Der kommerzielle Erfolg von Drillsound und der damit verbundenen
       Onlinefeindseligkeiten beginnt im Jahr 2012. Der Song „I Don’t Like“ von
       Chicagos bekanntestem Driller [1][Chief Keef] gilt als Blaupause, für alle
       danach entstandenen Drill-Lieder. Chief Keefs rasanter Aufstieg beginnt
       buchstäblich im Wohnzimmer seiner Großmutter.
       
       ## Der Song geht sofort viral
       
       Der damals erst 16-jährige Rapper steht zu diesem Zeitpunkt noch unter
       polizeilichem Hausarrest. Deshalb entschließen er und seine pubertierenden
       Freunde sich kurzerhand dazu, das Video zu „I Don’t Like“ von zu Hause aus
       zu drehen und es eigenhändig über Youtube zu verbreiten.
       
       Ohne Mittelsmänner von Majorlabels wird der Song zum viralen Hit. „I Don’t
       Like“ war ein künstlerisches Produkt, welches zwar mit simplen Mitteln
       entstand, aber visuell und klanglich eine bis dahin ungesehene und
       ungehörte Ästhetik lieferte. Der sich langsam aufbauende Beat,
       MG-Garben-artiges Hi-Hat-Zischeln und Snaredrum-Schläge durchbohren die
       Streicherarrangments und das langsam anschwellende Glockengeläut.
       
       Dazu der eingängige, sehr repetitive Refrain. Im Videoclip sieht man Chief
       Keef und seine Gangmitglieder von den „GloryBoyz“ und „Lamron 300“, die im
       Takt des Beats mit nackten Oberkörpern ihre Dreadlocks herumwedeln. Das
       Video wirkt roh und kommt ohne Verfremdungseffekte aus, es verleiht der
       Atmosphäre eine neue Ebene von Authentizität.
       
       In der Gegenwart der kriminalitätsbesessenen Unterhaltungskultur im Netz
       schien „I Don’t Like“ einen drastischen, ungezügelten Einblick in eine
       soziale Welt zu bieten, der die Öffentlichkeit zugleich erschreckt und
       fasziniert. Was Chief Keef über Nacht zu einem Internet-Phänomen machte.
       Auch [2][HipHop-Superstar Kanye West,] der selbst aus Chicago stammt,
       bekannte sich als Fan von Chief Keef und wurde Feature-Gast auf dem Remix
       von „I Don’t Like“.
       
       Chief Keefs Bekanntheitsgrad stieg durch eine Social-Media-Kampagne, die
       hauptsächlich auf Twitter und Youtube stattfand. Die Zeiten, in denen
       Rapper mit selbstgebrannten CDs Passanten ihre Musik zusteckten, während
       sie fragten: „Hey, hörst du Hip-Hop?“, waren spätestens nach „I Don’t Like“
       Geschichte. Es scheint, als hätten Chief Keef und andere
       Drillrapper:Innen aus Chicago ihre Marken direkt auf dem Rücken ihrer
       mit einer Gang verbundenen und gewalttätigen Persönlichkeit aufgebaut.
       
       ## Je populärer desto beleidigender
       
       Nur, je höher Popularität und finanzieller Erfolg, desto stärker wurden die
       Namen der Künstler:Innen auch mit Kriminalität in Verbindung gebracht.
       Dafür werden gerne Beleidigungen und Provokationen über Twitter und
       Instagram in Richtung der rivalisierenden Gang geschickt, die dann auch mal
       in der Realität zurückgefeuert werden, und zwar mit Waffengewalt.
       
       Einer der bekannteren Fälle dieser Onlinebarbarei war der Mord an dem
       18-jährigen Joseph Coleman, der unter dem Namen Lil JoJo rappte. Coleman
       wurde im September 2012 in Chicago von Mitgliedern einer Gang erschossen,
       die er in seinen Liedern immer wieder schmähte. Colemans Fehler, er postete
       auf Twitter seinen Standort, der sich im feindlichen Gang-Territorium
       befand. Auch FBG Duck teilte vor seiner Ermordung seinen Standort auf
       Facebook mit.
       
       Obwohl Künstlerinnen bis heute in Chicagos Drill- und Gangszene in der
       Minderheit sind, waren sie nicht immer nur Zuschauerinnen. Wie es der Fall,
       der mit 17 Jahren verstobenen Rapperin, Gakirah Barnes zeigt, die sich
       gewaltsam rächte, als Mitglieder einer Gang sich in Form von Memes über den
       Tod eines Freundes von ihr lustig machten.
       
       Es gibt aber Lichtblicke, in der von Nihilismus und Gewalt geprägten
       Rap-Szene Chicagos. Auch wenn sie schändlicherweise weniger mediale
       Aufmerksamkeit erhalten. Zum Beispiel das Label ETC des Chicagoer
       Produzenten Radius, das sich darauf konzentriert, in Songs und Videos
       positive Botschaften über Chicago zu verbreiten. Mit seinem verspielten,
       vom Jazz inspirierten Sound unterscheidet sich Radius musikalisch deutlich
       vom eher düsteren Drillsound. Hi-Hats und Snares werden hier von
       Bläsersamples und Soulsampling ersetzt.
       
       In den Videos schafft man es, die Mietskasernen und industriellen
       Stadtlandschaften Chicagos als vielfältigen Raum und Gesellschaftslabor zu
       präsentieren. Zudem leistet Radius mit seinem Label ETC ehrenamtliche
       Gemeindearbeit, unter anderem mit Freiwilligendienst und
       Urban-Gardening-Projekten. In der Videoauskopplung zu seiner Single „Most
       High“ gibt es eine Szene, die die Botschaft von ETC symbolisiert.
       
       ## Die besonnenen Botschafter der Stadt
       
       Ein Passant nimmt sich Essen aus einem selbstgebauten
       Food-Sharing-Automaten, in der Szene danach zeigt die Kamera zwei Menschen,
       die sich symbolisch die Hand reichen. Das ist gelebte nachbarschaftliche
       Nächstenliebe. Eine lebenswichtige Alternative in einer Stadt, in der
       Gangaktivitäten und der tonangebende Drillsound inzwischen untrennbar
       scheinen.
       
       Der zweifache [3][Grammy-Sieger Common] gehört mit seinen sozialkritischen
       Texten immer auch zu den besonnenen Botschaftern der Stadt. Das
       Rap-Urgestein hat neben zahlreichen Alben inzwischen auch zwei Bücher
       veröffentlicht, mit der zentralen Aussage: Selfempowerment als Grundlage
       für ein friedliches Miteinander. Und er wird gehört.
       
       Das mittlerweile auf Social Media und in der Drillszene zelebrierte
       Gewaltproblem beschäftigt Chicago schon seit den 1960er Jahren. Damals
       bildeten sich die ersten Gangs in Chicago, zunächst als Bürgerwehr gegen
       Übergriffe von weißen Rassisten. Ungünstige städtebauliche Entscheidungen
       halfen dabei, das Bandenproblem weiter zu kultivieren.
       
       Chicago ist eine segregierte Stadt. Die schwarzen Arbeiterfamilien waren
       hauptsächlich in Hochhausprojekten im Süden und Westen der Stadt
       angesiedelt. Mit dem Wegfall von Jobs in der Schwerindustrie verloren vor
       allem die schwarzen Familien im Süden Chicagos ihre Arbeit. Die dadurch
       entstandene soziale Isolierung befeuerte Bandenaktivitäten und legte den
       Grundstein für die im Drill und auf Social Media ausgelebten Gewaltexzesse.
       
       Sie gipfeln in sinnlosen Taten wie dem Mord an FBG Duck und verhelfen
       Rappern wie Chief Keef zum Erfolg. Aber sie motivieren auch
       Künstler:Innen wie Radius von ETC, einen Unterschied zu machen.
       
       8 Apr 2021
       
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