# taz.de -- Theologin über den Monat Ramadan: „Fasten schafft Dankbarkeit“
       
       > Am Montagabend beginnt der Ramadan. Die Theologin Mira Sievers über die
       > Bedeutung, Sexualethik und die Verantwortung von islamischer Theologie.
       
 (IMG) Bild: Fastenbrechen in der Sehitlik Moschee in Berlin nach dem Freitagsgebet
       
       taz: Frau Sievers, am Abend des 12. April beginnt der Ramadan. Was bedeutet
       der Fastenmonat für Sie als muslimische Theologin? 
       
       Mira Sievers: Es ist für mich immer eine sehr schöne Zeit, es wird öfter
       gekocht als normalerweise, es gibt religiöse Musik. Es ist eine Zeit, in
       der sich der Lebensrhythmus ändert und in der sich Prioritäten verschieben.
       Also eine ganz grundsätzliche Veränderung in der Atmosphäre.
       
       Das klingt sehr nett. 
       
       Ein Islam, der das Leben der Menschen verschlechtert, wäre nicht mehr der
       Islam. Aber ich will keine Wohlfühl-Rhetorik betreiben. Es gehört auch zum
       Widerständigen am Islam, dass er Gebote und Rituale kennt. Gerade auch das
       Ramadanfasten, das aus der Perspektive einer evangelischen Christin
       vielleicht ein extremes Fasten ist. Es geht dabei um den Verzicht des
       Essens, Trinkens, Rauchens und auf Sex – also um ganz grundsätzliche
       Bedürfnisse.
       
       Aber warum überhaupt verzichten auf diese grundsätzlichen Bedürfnisse? 
       
       Weil das einen Bewusstseinswandel herbeiführen kann. Der Koran sagt: Ein
       Grund dafür, dass wir fasten sollen, ist, die Dankbarkeit zu kultivieren.
       Wir erfahren plötzlich eine Dankbarkeit für ganz alltägliche Dinge: das
       Mittagessen, den morgendliche Kaffee. Es gibt auch Aktionen zum
       Plastikfasten, mit denen ökologisches Bewusstsein geweckt wird. „Es gibt
       Menschen, die haben vom Fasten nichts als Hunger und Durst“, lautet eine
       berühmte Überlieferung des Propheten. Das ist aber eben nicht, was gewollt
       ist. Gewollt ist die veränderte Perspektive auf das Leben. Der Ramadan ist
       aber auch der Monat des Korans. In dreißig Tagen wird der gesamte Koran von
       Anfang bis Ende gelesen.
       
       Die Koranverse zum Ramadan zeichnen ein realistisches Bild des Menschen.
       Nachts ist Sex auch in der Fastenzeit erlaubt, heißt es in Sure 2, alles
       andere sei Selbstbetrug. 
       
       Der 187. Vers der zweiten Sure weist auf eine Veränderung in den
       Ramadan-Geboten hin. Es ist nicht so, dass es seit dem Jahr 610, seit
       Mohammed als Prophet aufgetreten ist, dieses Fasten gab. Erst in der Zeit,
       in der die Gemeinde von Mekka nach Medina ausgewandert ist, wird das Fasten
       eingeführt – als ein abrahamitisches Ritual. Das heißt, es gibt einen Bezug
       zum jüdischen und auch christlichen Brauch, der darin steckt. Aus der
       anderen religiösen Literatur wissen wir, dass das erste Fasten wohl das
       Aschura-Fasten war. Und das entspricht dem jüdischen Jom-Kippur-Fasten. In
       der ersten Zeit scheint das Fasten ein derart strenges Fasten wie im
       Judentum gewesen zu sein, ein 24-stündiges. In der reformierten Form wird
       das Fasten alltäglicher gemacht. Am Tag, aber nicht in der Nacht. Mit dem
       familiären Essenaspekt und der Sexualität, die nun einen Platz bekommt.
       
       Der Ramadan ist also schon eine Art Fasten light? 
       
       „Gott will für euch das Leichte und er will für euch nicht das Schwere“,
       lauten die Verse davor. Das heißt: Das Fasten ist nicht als eine
       Beschwernis gedacht. Das gilt im Übrigen auch für das islamische Recht, die
       Scharia. Es geht darum, das Wohl der Menschen herbeizuführen. Jemand, der
       krank ist, muss nicht fasten. Jemand, der reist, muss nicht fasten. Es geht
       um gesunde Menschen, die dazu in der Lage sind. Und jede Nacht stellt eine
       Pause vom Fasten dar.
       
       Angesprochen werden aber nur Männer. 
       
       Meine Kollegin, die Islamwissenschaftlerin Nimet Seker, hat
       herausgearbeitet, dass es im Koran keine einzige Stelle gibt, in der Frauen
       direkt angesprochen werden. Es gibt Stellen, in denen sie indirekt
       angesprochen werden. Und es gibt eine sehr berühmte Stelle, in der – auf
       die Intervention einer Frau hin – der Koran angefangen hat, männliche und
       weibliche Formen zu nennen. Eine Art koranische Form des Genderns.
       
       Mann und Frau seien füreinander so wichtig wie Bekleidung, heißt es auch in
       den Ramadan-Versen. Gilt das auch für gleichgeschlechtlich begehrende und
       nicht-binäre Menschen? 
       
       Auf nicht-binäre Menschen wird im Koran an einer oder zwei Stellen
       angespielt. Das ist Teil der Lebensrealität gewesen in der altarabischen
       Gesellschaft. Es gibt das altarabische dritte Geschlecht, die Mukhannathun.
       Sie werden beschrieben als Männer, die einen weiblichen Geschlechtsausdruck
       hatten. Also Frauenkleidung getragen und geredet haben wie Frauen. Wir
       wissen aber nur von den Exegeten, also durch spätere Auslegungen, dass sie
       damit gemeint waren. Die normativen Verse, das koranische Recht, richtet
       sich aber immer an Männer und Frauen. Homosexualität im heutigen Sinne ist
       kein Konzept, das wir im 7. Jahrhundert voraussetzen können. Das gilt ja
       auch für die weit ältere Thora und das Neue Testament.
       
       Das Projekt [1][„Wege zu einer Ethik“, das Sie an der HU Berlin leiten],
       beschäftigt sich mit sexualethischen Fragen. Warum „Wege“? Gibt es noch
       keine islamische Ethik? 
       
       Die islamische Ethik können wir nicht einfach voraussetzen. Das islamische
       Recht ist mit Normen beschäftigt. Die Kalam-Tradition, also die
       systematische Theologie, auch. Vor allem mit der Letztbegründung der
       Normen. Also: Was ist gut und böse? Wie kann man das erkennen? Und wie
       verhält sich Gottes Gesetz zu diesem Gut-und-Böse? Gerade habe ich mich mit
       meinem Doktoranden über die Theorie der guten Mitte bei Aristoteles
       unterhalten, die in der islamischen Philosophie rezipiert wurde und wird.
       In der islamischen Mystik wiederum ist die Rede von bestimmten
       Charaktereigenschaften, die man kultivieren soll.
       
       Ethisches Denken findet sich also in unterschiedlichen Disziplinen. Wenn
       wir heute als Theologinnen und Theologen mit ethischen Problemen
       konfrontiert sind, haben wir diese reiche Tradition zur Verfügung. In dem
       Projekt fragen wir uns: Wie kann man diesen Schatz heute anwendbar machen?
       
       Der Islam als Problemlöser statt als Problem? 
       
       Ja. Meistens werden wir als muslimische Theologinnen und Theologen
       angefragt zu islamspezifischen Themen: zur Burka in der Schweiz, zum
       Neutralitätsgebot in Berlin, zum IS. Da haben wir natürlich auch klare
       Meinungen. Aber wir möchten auch zu einem Thema wie der Sterbehilfe in
       Deutschland einen Beitrag leisten. Es ist ganz selbstverständlich, dass der
       vorige Vorsitzende des Ethikrates ein evangelischer Theologe war. Dass auch
       die islamische Theologie einen Beitrag zu gesamtgesellschaftlichen Debatten
       leisten kann, ist neu. Das kann auch erst jetzt kommen, nachdem die
       islamische Theologie an deutschen Universitäten etabliert worden ist.
       
       Sie sind Konvertitin und stehen für wissenschaftliche Aufklärung. Sind Sie
       der „deutsche Islam“, den sich konservative Politiker*innen wünschen? 
       
       Ich verstehe mich als Muslimin, aber den Begriff „deutscher Islam“ finde
       ich schwierig. Auch andere Religionen werden normalerweise nicht mit dem
       Adjektiv „deutsch“ versehen. Mir ist aber wichtig, dass der Islam und die
       Muslim*innen als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft gesehen
       werden.
       
       Wird Ihre Arbeit außerhalb der Wissenschaft überhaupt wahrgenommen? 
       
       Wir haben das Beispiel der Sexualethik genommen, weil wir von unseren
       Partner*innen aus der Praxis wissen, dass dies ein besonderes Anliegen
       ist. Wir haben Kooperationen mit Beratungsstellen zum Thema Sexualität und
       Religion und werden auch einen Praxisfellow haben. Also eine Person, die
       gleichzeitig in die Forschungsgruppe und in die Beratungspraxis eingebunden
       ist. Dadurch soll ein Leitfaden entstehen. Viele muslimische Jugendliche
       haben Anliegen im Bereich der Sexualität.
       
       Zum Beispiel? 
       
       In der Mehrheitsansicht der Muslime ist die Ehe der einzig legitime Ort für
       Geschlechtsverkehr. Wenn sie jetzt mit Jugendlichen zu tun haben, die sehr
       viel später heiraten können, als sie Lust auf Sex haben, entsteht da ein
       Problem. Wir wollen aber auch Positionen entwickeln zum Umgang mit
       intergeschlechtlichen Kindern. Die Existenz von Menschen, die nicht in das
       binäre Geschlechtersystem passen, ist etwas, das wir schon aus dem
       islamischen Recht kennen.
       
       Sie sind [2][die erste Theologieprofessorin Deutschlands mit trans
       Biografie]. Warum wurde das zuerst in der islamischen und nicht in den hier
       viel länger etablierten christlichen Theologien möglich? 
       
       Diese Frage müssen Sie den christlichen Kolleg*innen stellen, da will
       ich mich nicht einmischen. Islamischerseits ist es so, dass das trans Sein
       einer Person natürlich nicht über die Qualifikation als Theolog*in
       entscheiden kann. Es entscheidet auch nicht über das Bekenntnis. Es gibt
       einen ganz berühmten Koranvers, der an den Propheten adressiert ist: „Wir
       haben dich als eine Barmherzigkeit für alle Menschen entsandt.“ Der Islam
       ist auch eine Religion für trans Personen, er ist eine Religion für alle
       Menschen. Er macht Angebote für Menschen mit ihren ganz verschiedenen
       Hintergründen und Eigenheiten, das finde ich wichtig.
       
       12 Apr 2021
       
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