# taz.de -- Kritik vietnamesischer Vereine: Verschiedene Perspektiven
       
       > Vietnamesen in Berlin wehren sich gegen Medienberichte über
       > Menschenhandel. Die Emotionalität der Debatte ist in der
       > Migrationsgeschichte begründet.
       
 (IMG) Bild: Razzia der Bundespolizei gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution in Berlin, März 2021
       
       Berlin taz | Vietnamesische Vereine im Ostteil Berlins lehnen es ab, bei
       der illegalen Migration von Vietnam nach Europa von Menschenhandel zu
       sprechen. Duc Nguyen von der Vereinigung der Vietnamesen in Berlin und
       Brandenburg hat sich an die taz gewandt, weil er „das Medienbild
       zurechtrücken will“, wie er sagt. Denn in Filmen und Presseberichten, aber
       auch in Darstellungen der Polizei ist immer wieder davon die Rede, Kinder
       aus Vietnam würden von Schlepperbanden nach Europa gebracht werden, um
       hier ausgebeutet zu werden.
       
       Nguyen sagt: „Hier wird mit dem Bild von Kindern zu sehr auf Emotionen
       gesetzt.“ Diese Kritik werde „von allen Vereinen artikuliert, die sich in
       der Arbeitsgruppe Vietnam treffen“. Das sind Vereine im Ostteil Berlins.
       Ehemalige Bootsflüchtlinge aus Vietnam, mit denen die taz auch gesprochen
       hat, teilen die Kritik nicht.
       
       Wenn die Polizei, wie in diesem Monat geschehen, einer Bande das Handwerk
       lege, die neu in Berlin angekommene Frauen in die Prostitution zwinge,
       dann, so Nguyen, „verurteilen wir diese Taten selbstverständlich auf das
       Schärfste“. Kriminologen sprechen eindeutig von Menschenhandel, wenn
       Menschen in ausbeuterische Verhältnisse gezwungen werden.
       
       Doch ist das typisch für die vietnamesische Migration nach Europa? Die
       Frage ist auch unter Polizeiexperten umstritten. In einem im Januar
       ausgestrahlten Film der RBB-Autoren Adrian Bartocha und Jan Wiese über
       vietnamesische Kinder, die nach Europa verbracht, unterwegs festgehalten
       und zur Arbeit gezwungen werden, sprechen die Bundespolizei, aber auch die
       Polizeien in Polen und Großbritannien von Menschenhandel, weil die Opfer in
       ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen landen.
       
       Das Berliner Landeskriminalamt lehnt das ab und geht nur in Ausnahmefällen
       von ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen aus, in der Regel von illegaler
       Migration und Schwarzarbeit. Die Frage ist wichtig, denn Opfer von
       Menschenhandel können staatlichen Schutz in Anspruch nehmen. Demnächst wird
       der Innenausschuss des Abgeordnetenhauses dazu beraten.
       
       ## Zwei Kritikpunkte
       
       Nguyens Kritik lässt sich in zwei Punkten zusammenfassen: Erstens behauptet
       er, dass fast alle Menschen aus Vietnam freiwillig und aktiv nach Europa
       kommen und dafür sogar viel Geld zahlen. In Medienberichten und von
       Polizisten werde jedoch der Eindruck erweckt, sie kämen einzig nach Europa,
       weil ihnen Schleuserbanden falsche Hoffnungen auf ein besseres Leben machen
       würden und sie in ausbeuterische Arbeitsverhältnisse pressen wollten.
       
       Nguyen: „Wer sich auf den Weg nach Europa macht, weiß, was ihn erwartet.
       Nach unserer Kenntnis suchen sich die Neuankömmlinge in Berlin selbst
       Schwarzarbeit. Wenn Medien und Polizei suggerieren, ganze Branchen würden
       Kinder als Sklaven ausbeuten, ohne das zu belegen, bringen sie diese
       Branchen in Verruf.“
       
       Sein zweiter Kritikpunkt: Oft seien diejenigen, die sich als Kinder
       ausgäben, längst erwachsen. „Sie erhoffen sich Vorteile davon, wenn sie
       sich jünger machen. Von Kinderarbeit kann aber keine Rede sein.“ Der RBB
       sagt dazu: „Unsere Berichte, Informationen und Zeugenaussagen wurden
       sorgfältig recherchiert und überprüft. Inzwischen bestätigt auch das
       Bundeskriminalamt die Recherchen.“ Die Vereinigung der Vietnamesen und
       weitere Vereine aus dem Ostteil der Stadt erarbeiten derzeit einen
       Fragebogen, den sie der Polizei schicken wollen. „Wir wollen Fakten sammeln
       gegen das Medienbild, unter dem wir leiden.“
       
       Überraschend ist die Vehemenz, mit der vietnamesische Vereine Medien- und
       Polizeikritik üben. Einige Vereinsmitarbeiter akzeptieren es nicht einmal,
       wenn in Fachgremien das Wort „Menschenhandel“ überhaupt in den Mund
       genommen wird. Woher kommt diese Emotionalität?
       
       ## Vergleich mit Vietnam
       
       Da gibt es eine „deutsche“ und eine „vietnamesische“ Sicht. Wenn ein
       Nagelstudio beispielsweise eine neu aus Vietnam eingereiste Frau für 500
       oder 800 Euro im Monat rund um die Uhr beschäftigt, ist das aus deutscher
       Sicht ein ausbeuterisches Arbeitsverhältnis. Vietnamesen vergleichen
       dagegen mit dem Einkommen in Vietnam und akzeptieren diese Bezahlung. Die
       Nagelstudioinhaberin sieht sich nicht als Ausbeuterin, sondern als
       Wohltäterin, die einer armen Frau aus dem bitterarmen Zentralvietnam Arbeit
       und Auskommen gibt.
       
       In vielen vietnamesischen Geschäften und Familien arbeiten solche Menschen,
       die in keiner deutschen Statistik auftauchen und oft erst nach Jahren durch
       Zufall in eine Polizeikontrolle geraten. Viele vietnamesische Teenager
       wurden über Jahre durch Kindermädchen erzogen, die schwarz in der Familie
       lebten, haben ein gutes Verhältnis zu ihnen und sehen ihre Eltern nicht als
       Ausbeuter. In der Coronakrise werden für diese Menschen im Schattendasein
       Armenspeisungen organisiert und man ermutigt sich in Facebookgruppen, sie
       weiterhin kostenlos wohnen zu lassen.
       
       Wer so etwas tut, begreift sich nicht als Ausbeuter – zumal viele dieser
       illegalen Arbeitgeber vor Jahren selbst illegal nach Deutschland kamen und
       sich hochgearbeitet haben. Solche Erfolgsgeschichten trauen sie auch den
       Neuankömmlingen zu.
       
       Anmerkung: In einer früheren Version war erwähnt worden, das auch der
       Verein Reistrommel sich an dem Fragebogen für die Polizei beteiligt. Dem
       ist nicht so. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.
       
       5 Apr 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marina Mai
       
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