# taz.de -- Vietnamesische Community in Corona-Krise: Sie helfen sich selbst
       
       > Die Corona-Pandemie brockte der vietnamesischen Community in Berlin
       > Probleme wie allen anderen Bevölkerungsschichten ein – und ganz
       > spezifische.
       
 (IMG) Bild: Journalist Vu Luong Vu und Ehefrau Kim Yen Le, Geschäftsführerin des „Le Nails Ausbildungszentrum“
       
       Am Eingang des Ladens im Asiamarkt Dong-Xuan-Center in Berlin-Lichtenberg
       steht ein Spender für Desinfektionsmittel. Wollen Kunden das Geschäft
       betreten, ohne sich zuvor die Hände zu desinfizieren, schickt die
       Verkäuferin sie zurück. Die Vietnamesin trägt selbstverständlich eine Maske
       wie die übergroße Mehrheit des Personals und der Kunden hier in Berlins
       größtem Asiamarkt. Coronavorsorge wird unter vietnamesischen BerlinerInnen
       großgeschrieben.
       
       Anders als andere BerlinerInnen mussten sich Zuwanderer aus Vietnam auch
       gar nicht erst an Masken gewöhnen. In vietnamesischen Großstädten ist es
       seit Jahren üblich, Mundschutz im Straßenverkehr zu tragen. Nicht aus
       Schutz vor Infektionskrankheiten, sondern vor den Abgasen der Fahrzeuge und
       der Industrie. In Berlin tragen ebenfalls seit Jahren vietnamesische
       Angestellte in Nagelstudios Mund-Nasen-Schutz, um sich vor den giftigen
       Lösungsmitteln zu schützen.
       
       Und doch gab es unbemerkt von den Medien Ende Mai bis Anfang Juli unter
       vietnamesischen BerlinerInnen eine kleine Coronawelle. Glaubt man dem
       Community-Journalisten Vu Luong Vu, der die Community kennt wie kaum ein
       anderer, dann kam es in zwei Fällen zu Krankenhauseinweisungen. Zudem soll
       bei drei schwangeren Frauen, die völlig symptomfrei waren, im Mai der
       Coronabefund bei einer Vorsorgeuntersuchung für Schwangere festgestellt
       worden sein. Eine amtliche Bestätigung dafür gibt es nicht, denn
       Corona-Erkrankungen werden grundsätzlich nicht nach Staatsangehörigkeit
       oder Nationalität erfasst.
       
       Damit wollen die Gesundheitsbehörden rassistischen Ressentiments den Boden
       entziehen. Die taz hat sich aus diesem Grund auch entschieden, erst nach
       dem Abklingen der Fälle darüber zu berichten. Lediglich für die Gruppe der
       Asylsuchenden wird eine nach Staatsangehörigkeit unterschiedene Statistik
       im Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten geführt. Ihr zufolge gab es
       neun Coronafälle unter vietnamesischen Asylsuchenden, alle zwischen Anfang
       Mai bis Anfang Juli.
       
       ## Panik in der Community
       
       Die Einzelfälle sprachen sich herum, und es trat Panik auf in der
       vietnamesischen Gemeinde. Ängste gab es vor allem gegenüber solchen
       Landsleuten, die sich illegal in Deutschland aufhalten, weil die drei
       schwangeren Frauen lange gemeinsam mit vielen anderen illegal in Berlin
       gelebt hatten, bevor sie im achten Schwangerschaftsmonat Asyl beantragt
       hatten und kurz darauf die unerkannte Corona-Infektion festgestellt wurde.
       Ein gemeinnütziger Verein und sogar die vietnamesische Botschaft in Berlin
       warnten in Rundschreiben vor Coronafällen unter Vietnamesen in Berlin und
       Brandenburg und rieten zur freiwilligen Selbstquarantäne.
       
       Laut dem Journalisten Vu Luong Vu führte die Panik dazu, dass
       VietnamesInnen kaum noch im Dong-Xuan-Center einkauften. Inzwischen gebe es
       aber keine neuen Fälle, und es kämen wieder mehr Kunden in den Asiamarkt,
       sagt der Mann, dessen Ehefrau dort ihr Geschäft hat. Um Vertrauen zu
       schaffen, wurden in den Gewerbehallen sogenannte Mieterwachen geschaffen.
       Die achten darauf, dass die Nachbarn einen Mund-Nasen-Schutz tragen und
       dass niemand zur Arbeit kommt, der eigentlich Quarantäne einhalten sollte.
       
       „Ja, es gab ab Ende Mai relativ viele Fälle“, bestätigt die
       vietnamesischstämmige Ärztin Mai Thy Phan-Nguyen der taz. Ihre Arztpraxis
       habe an einigen Wochenenden in Sondersprechstunden in Absprache mit dem
       Lichtenberger Gesundheitsamt rund 800 VietnamesInnen getestet. Dabei habe
       es 60 positive Coronabefunde gegeben. Meist hätten die Menschen gar keine
       oder nur geringe Krankheitssymptome gehabt. „Die Leute sind alle freiwillig
       zum Test gekommen, das Bedürfnis, sich testen zu lassen, war riesig,“ sagt
       die Ärztin. Inzwischen sei die Welle abgeebbt.
       
       Die Gründe für die recht zahlreichen Coronafälle sieht die Ärztin in
       Übertragungen im privaten Bereich. Beispielsweise gab es Geburtstagsfeiern
       und möglicherweise auch Zusammenkünfte zum Kartenspiel.
       
       ## Neun Nonnen in Quarantäne
       
       Auch die [1][vietnamesische Pagode Linh Thuu] in der Heidereuterstraße in
       Spandau, ein Treffpunkt für buddhistische VietnamesInnen aus Berlin,
       Brandenburg und weiteren Bundesländern, hatte Coronafälle. Nach Angaben von
       Lars Struve vom Bezirksamt Spandau wurden, nachdem eine Nonne erkrankt war,
       alle 13 dort tätigen Nonnen auf das Coronavirus getestet. Neun von ihnen
       sowie drei Gläubige waren Covid-19-positiv. Die Pagode wurde für den
       Besucherverkehr geschlossen. Die Nonnen mussten in der Pagode, in der sie
       auch wohnen, die Quarantäne einhalten.
       
       Ende Juni wurden die Maßnahmen zwar durch den Bezirk Spandau aufgehoben,
       doch die Pagode öffnete vorsichtshalber noch länger nicht für die
       Gläubigen, die dort an den Wochenenden ihrer toten Ahnen gedenken, Feste
       feiern und Buddha um Segen für persönliche Vorhaben bitten – und ihre
       Gesundheit.
       
       Thanh Huu Nguyen von der [2][Vereinigung der Vietnamesen in Berlin und
       Brandenburg e. V.] hat beobachtet, dass die Vorsicht Berliner
       VietnamesInnen gegenüber dem Coronavirus in einem Zusammenhang steht zu dem
       Geschehen in Vietnam. Denn viele Einwanderer der ersten Generationsehen
       ausschließlich das vietnamesische Staatsfernsehen. Wird dort über einen
       lokalen Lockdown berichtet, wird zur Vorsicht gemahnt oder über
       Hygieneregeln informiert, dann seien auch vietnamesische BerlinerInnen
       besonders vorsichtig, so der Sozialberater. Laufe hingegen in Vietnam alles
       glatt, dann geraten auch in Berlin mitunter die guten Vorsätze zeitweise
       ein wenig in Vergessenheit.
       
       Dabei ist die vietnamesische Gemeinde von den wirtschaftlichen Folgen der
       Coronapandemie besonders betroffen. 26.000 Menschen mit vietnamesischen
       Wurzeln leben in Berlin. Wer als VertragsarbeiterIn in die DDR gekommen
       war, hatte nach der Wende nur eine Perspektive: wirtschaftlich
       selbstständig in Nischen zu arbeiten.
       
       ## Staatlichen Hilfen überlebenswichtig
       
       Viele vietnamesische Restaurants, Imbisse, Blumen- und
       Geschenkartikelläden, Änderungsschneidereien und Obst- und Gemüseläden,
       sogar das Dong-Xuan-Center in Lichtenberg – mit sechs Markthallen Berlins
       größter Asiamarkt – sind daraus hervorgegangen. Nagelstudios kamen später
       hinzu.
       
       Wie für andere kleine Gewerbetreibende waren auch für diese Ladeninhaber
       die staatlichen Hilfen für Soloselbstständige im Frühjahr
       überlebenswichtig. „Dafür bin ich Deutschland sehr dankbar,“ sagt L.
       Nguyen, ein Gastronom aus Lichtenberg. „Deutschland lässt niemanden
       zurück.“
       
       Unter vietnamesischen Zuwanderern der ersten Generation gab es im Frühjahr
       Bekundungen der Dankbarkeit gegenüber Deutschland. Sowohl die ehemaligen
       DDR-Vertragsarbeiter als auch die Bootsflüchtlinge waren dankbar, in
       Deutschland aufgenommen worden zu sein und während der weltweiten Pandemie
       im sozialen Netz versorgt zu werden. Sie wollten etwas zurückgeben. Das
       betraf ausschließlich VietnamesInnen, die noch selbst nach Deutschland
       eingewandert waren.
       
       Die zweite Generation nimmt ihre Teilhabe in der deutschen Gesellschaft
       hingegen als Selbstverständlichkeit hin und mahnt eher Defizite und
       Rassismus an. Logisch, denn sie vergleichen ihre Situation mit der von
       gleichaltrigen Deutschen, während sich die erste Generation eher mit
       Vietnamesen in anderen Staaten weltweit vergleicht. Etliche VietnamesInnen
       der zweiten Generationen beteiligten sich an den
       Black-Lives-Matter-Demontrationen, mit denen Vertreter der ersten
       Generation eher nichts anfangen können.
       
       ## Gesten der Dankbarkeit
       
       Die Gesten der Dankbarkeit der Angehörigen der ersten Generationen nahmen
       teilweise kuriose Züge an. So wurde auf Facebook dafür plädiert, sich erst
       gegen das Coronavirus impfen zu lassen, wenn ein in Deutschland
       entwickelter Impfstoff auf dem Markt sei. Sollte beispielsweise ein
       Impfstoff aus China schneller vorhanden sein, wollte man den meiden, aus
       Angst vor möglichen Nebenwirkungen. Zu chinesischen Innovationen haben
       viele VietnamesInnen kein Vertrauen.
       
       Und die Männer und Frauen, die ab März wegen der Schließung ihrer Läden zum
       Nichtstun verdammt gewesen wären, legten nicht die Hände in den Schoß,
       [3][sondern begannen, die ersten Alltagsmasken für Berlin zu nähen]. Damit
       wollten sie Deutschland etwas zurückgeben. Auf Facebook und Youtube wurden
       Wettbewerbe ausgetragen, welche Nähgruppe die meisten Masken genäht und an
       gemeinnützige Organisationen verschenkt hatte.
       
       Als Nähgruppen formierten sich teilweise Leute, die in der DDR gemeinsam in
       Textilbetrieben gearbeitet und dort den Umgang mit der Nähmaschine
       professionell erlernt hatten. In Youtube-Videos ermutigten sie andere, es
       ihnen gleichzutun. Großhändlerin Trinh Thi Mui beispielsweise hatte
       säckeweise T-Shirts aus ihrem Laden für die MaskennäherInnen gespendet.
       Nicht ohne Wehmut, denn eigentlich wollte sie die T-Shirts noch verkaufen.
       Aber sie ging im März und April davon aus, dass das Sommergeschäft für
       Textilien ohnehin kaum stattfinden würde.
       
       Andere VietnamesInnen kochten in der Coronakrise für das Personal Berliner
       Krankenhäuser, erzählt die Ärztin Mai Thy Phan-Nguyen. „Von meinen Kollegen
       wurde das leckere Essen dankbar angenommen“, erzählt sie, die als
       vietnamesischstämmige Ärztin mitunter zwischen Krankenhäusern und den
       Spendern einer sich spontan gebildeten Gruppe „Gemeinsam helfen“ vermittelt
       hatte.
       
       ## Geld spenden für Deutschland – und Vietnam
       
       Ab Mai importierten Vietnamesen auch medizinische Masken aus Vietnam. Es
       begann mit einem Aufruf eines Mannes aus Süddeutschland, der sich als
       Funktionär der „Vaterländischen Front Vietnams“ zu erkennen gab. Dabei
       handelt es sich um einen Dachverband der kommunistischen Partei und aller
       legalen Massenorganisationen in Vietnam.
       
       Der Mann forderte in einem auf vielen Onlinekanälen und in staatlichen
       vietnamesischen Medien publizierten Aufruf seine in Deutschland lebenden
       Landsleute auf, gleichzeitig Vietnam und Deutschland zu helfen: Wer Vietnam
       und Deutschland liebe, solle ihm Geld spenden. Er werde das Geld an die
       Vaterländische Front in Vietnam schicken und die würde davon hochwertige
       medizinische Schutzmasken produzieren und nach Deutschland schicken. Und
       wer vom deutschen Staat 5.000 Euro Soforthilfe bekommen habe, könne dieses
       Geld doch eigentlich spenden. Für Vietnams Produktion und für Verbraucher
       in Deutschland.
       
       Gerade in Berlin regte sich Widerstand. „Ich bekomme die Hilfe vom
       deutschen Staat, weil ich die zum Leben brauche. Wie kann ich spenden?“,
       war eine häufige Kritik in den sozialen Netzwerken. Doch aus anderen
       Bundesländern wurde fleißig gespendet.
       
       Am 30. April, sicher nicht ganz zufällig am Jahrestag des Endes des
       Vietnamkrieges, landete eine Sondermaschine der Vietnam Airlines in
       Frankfurt am Main mit 100.000 medizinischen Schutzmasken. Sie wurden in
       mehreren Bundesländern in Anwesenheit des vietnamesischen Botschafters an
       Landesregierungen und medizinische Einrichtungen übergeben.
       
       ## Große Politik kein Thema
       
       Der Community-Journalist Vu Luong Vu sitzt in dem von seiner Frau Kim Yen
       Le betriebenen Ausbildungszentrum für Nageldesignerinnen im
       Dong-Xuan-Center. Der Mann, Anfang 60, hat in einem Hinterzimmer der
       Berufsschule auch sein Büro. Von einem kurzen Intermezzo in Moskau
       abgesehen, arbeitete Vu als Lokaljournalist in einer vietnamesischen
       Provinzstadt. Bis ihn vor sieben Jahren die Liebe nach Berlin lockte. Er
       führt seiner Frau den Haushalt, hilft mit praktischen Tätigkeiten aus,
       schreibt auf Facebook über das vietnamesische Leben in Berlin.
       
       Die große Politik ist nicht sein Thema. Obwohl seine deutschen
       Sprachkenntnisse bescheiden sind, kann er im deutschsprachigen Internet
       sicher recherchieren. Er meldet jeden Tag, wie viele Coronafälle es in
       Berlin gibt. Er lässt seine Leser wissen, was deutsche Zeitungen über das
       Dong-Xuan-Center berichten. Und er erzählt Geschichten, die außerhalb der
       vietnamesischen Community niemand kennt.
       
       Beispielsweise die Geschichte einer Frau, deren letzter Wunsch es war, in
       Vietnam zu sterben. Doch wie sollte die unheilbar an Leukämie erkrankte
       Berlinerin vietnamesischer Herkunft mitten in der Coronakrise nach Vietnam
       gelangen? Vu zeigt auf seinem Handy ein Foto der Frau. Ihr Alter kann man
       schwer schätzen, sie hat keine Haare mehr. „Das größte Problem war, dass es
       keine Flugverbindungen gibt“, erzählt Vu Luong Vu.
       
       Mit drei Zwischenlandungen und etlichen Transitvisa sowie mehreren tausend
       Euro an Spendengeldern aus der vietnamesischen Gemeinde in Berlin war es im
       Juni endlich gelungen, der Frau ihren letzten Flug zu buchen. Vu hat mit
       seinen Berichten mit dazu beigetragen, dass die Spendengelder
       zusammenkamen. Darauf ist er ein wenig stolz.
       
       ## Nach Vietnam fliegt grad niemand
       
       „Urlaub macht natürlich in diesem Sommer niemand aus Berlin in Vietnam wie
       in anderen Jahren“, sagt Vu Luong Vu. Es gibt keine direkten und kaum
       indirekte Flugverbindungen. Zudem verpflichtet Vietnam alle, die aus dem
       Ausland einreisen, eine vierzehntägige Quarantäne einzuhalten. Und wer
       weder die vietnamesische Staatsangehörigkeit hat noch dort ein Unternehmen
       führt, darf gar nicht einreisen. Mit so rigiden Maßnahmen hat Vietnam
       Corona gut in Schach gehalten. Bisher gibt es wenige hundert Infizierte und
       keinen einzigen Toten.
       
       Und wo machen Berlins Vietnamesen gerade Urlaub? Vu Luong Vu winkt ab.
       Viele Vietnamesen der ersten Generation sind selbstständige
       Gewerbetreibende. Nach der coronabedingten Zwangspause seien sie froh,
       wieder Geld verdienen zu können. Urlaub sei kein Thema.
       
       Sieht man sich in vietnamesischsprachigen Facebookgruppen aus Berlin um,
       dann gibt es einige ganz wenige Urlaubsberichte, und die kommen nicht von
       den selbstständigen Händlern: Eine Altenpflegerin hat ihr Hotelfrühstück an
       der Ostsee gelobt und fotografiert. Ein Dolmetscher zeigt
       Sehenswürdigkeiten in Wien. Ein Künstler postet Familienfotos vor Berliner
       und Brandenburger Seen und von einer Kahnfahrt durch den Spreewald. Es
       bleiben Ausnahmen. Wer allerdings in Deutschland geboren wurde, macht ganz
       selbstverständlich Urlaub wie andere BerlinerInnen auch, und das in diesem
       Jahr öfter mal im Berliner Umland.
       
       Der Lichtenberger Gastronom L. Nguyen sagt der taz: „Ich habe mich ja im
       Frühling, als die Restaurants schließen mussten, gut erholt und ein Gefühl
       bekommen, wie es ist, Rentner zu sein. Das war kein schlechtes Gefühl. Aber
       drei bis fünf Jahre muss ich noch arbeiten.“ Und jetzt haben seine beiden
       Restaurants ja wieder öffnen dürfen. Es kommen auch wieder Gäste. Nicht so
       viele wie vor der Coronakrise, aber es reiche zum Leben. „Sollte ich wieder
       schließen müssen, kann ich mich wieder ausruhen“, sagt der Gastronom. Ja,
       wegfahren würde er dann ganz gerne mal. „Am liebsten ins Tropical Island.
       Da war ich schon lange nicht mehr.“ Aber das könnte geschlossen haben,
       falls ein Lockdown wie im Frühling ihm Zeit zum Reisen gäbe.
       
       ## Deutschunterricht jetzt online
       
       Die Lockdownphase im März und April bedeutete auch für die Vereinigung der
       Vietnamesen in Berlin und Brandenburg einen extrem hohen Arbeitsaufwand.
       „Wir haben unsere Beratungstätigkeit auf Onlineberatung umgestellt und
       hatten einen Arbeitsaufwand, den wir trotz Überstunden kaum bewältigen
       konnten“, sagt Thanh Huu Nguyen vom Verein.
       
       VietnamesInnen mit schlechten Deutschkenntnissen brauchten Hilfe beim
       Beantragen von Arbeitslosengeld, Insolvenzgeld, Kurzarbeitergeld oder bei
       staatlichen Hilfen für selbstständige Gewerbetreibende. „Außerdem gab es
       eine Vielzahl von Krankenhäusern und Notärzten, für die wir am Telefon
       Patientengespräche übersetzen sollten. Oder Landsleute klagten, dass sie
       Coronasymptome hatten, aber bei der Telefonhotline nicht durchkamen.“
       
       Als im Mai der Arbeitsaufwand nachgelassen hatte, erstellte der Verein
       Videos, in denen das Ausfüllen von Anträgen auf Arbeitslosengeld oder
       staatliche Zuschüsse erläutert wurde. Thanh Huu Nguyen: „Wir haben auch
       unseren Deutschunterricht online weitergeführt. Allerdings machten wir da
       die Erfahrung, dass das den Präsenzunterricht nicht ersetzen kann. Viele
       Schüler kamen nicht mit dem Computer klar.“ Erfolgreicher war der
       Onlineunterricht für Existenzgründer, den der Verein im Auftrag des
       Berliner Senats durchführt. Nguyen ist stolz darauf, dass sein Verein als
       berlinweit erster diese Seminare online durchführte.
       
       Wenn man über Corona und die vietnamesische Gemeinde in Berlin spricht,
       dann kommen immer wieder diejenigen Vietnamesen zur Sprache, die in der
       Statistik nicht auftauchen: Menschen, die kein Aufenthaltsrecht haben. Wie
       viele von ihnen in Berlin leben, weiß niemand so genau und niemand möchte
       in diesem Zusammenhang zitiert werden. Ein Dolmetscher, der anonym bleiben
       möchte, schätzt die Zahl auf über 10.000, einschließlich derjenigen, die,
       wie er es nennt, halblegal hier leben würden. „Damit meine ich Menschen,
       die eine Aufenthaltserlaubnis für Tschechien oder Bulgarien haben, aber
       hier leben und Gelegenheitsjobs annehmen.“
       
       ## Mit Zielland Großbritannien
       
       Hinzu kämen diejenigen, die er „die echten Illegalen“ nennt: Menschen, die
       aus Zentralvietnam auf der Suche nach einem finanziell sorgenfreien Leben
       illegal nach Europa kommen. Für die meisten von ihnen ist Großbritannien
       das Zielland, aber auf dem Weg dorthin leben sie mehrere Tage bis Monate in
       Berlin.
       
       „Dass sie von Schleppern festgehalten werden, wie das immer in Zeitungen
       steht, trifft nur auf eine Minderheit zu“, sagt der Mann. „Die meisten
       leben als illegale Untermieter in vietnamesischen Familien, betreuen die
       Kinder oder helfen für wenig Geld in Geschäften aus.“ Die Coronakrise
       bedeutete für sie: Sie saßen in Berlin fest, kamen nicht weiter, hatten
       aber auch keinen Verdienst mehr. Denn viele selbstständige Vietnamesen
       hatten ja selber keine Arbeit und sie haben sich auch selbst um ihre Kinder
       gekümmert.
       
       Die Entwicklung schlägt sich in der Asylstatistik von Berlin nieder. Im
       zweiten Quartal 2020 haben 289 Menschen aus Vietnam in Berlin einen
       Asylantrag gestellt. In den Vorjahren lagen die Zahlen nur zwischen 80 und
       159. „VietnamesInnen vermeiden es normalerweise, in Berlin Asyl zu
       beantragen, weil die Anträge schnell abgelehnt werden und sie dann eine
       Ausreiseverfügung bekommen“, sagt der Dolmetscher.
       
       Nur wer sich wegen politischer Fluchtgründe Hoffnungen im Asylverfahren
       macht, und das sind sehr wenige, oder aber wer wegen Schwangerschaft nicht
       abgeschoben werden kann, beantrage normalerweise Asyl. „Außerdem muss man
       notgedrungen Asyl beantragen, wenn man in eine Behördenkontrolle geraten
       ist. Zwei Monate später wird der Asylantrag normalerweise abgelehnt. Gerät
       man danach noch einmal in eine Behördenkontrolle, kann man in Abschiebehaft
       genommen und kurz darauf abgeschoben werden.“
       
       ## Statuslose nicht krankenversichert
       
       Doch coronabedingt war das in diesem Jahr anders: Abschiebungen nach
       Vietnam waren und sind bis heute nicht möglich. Einige vietnamesische
       Flüchtlinge beantragten Asyl, weil sie kein Geld mehr zum Leben hatten oder
       krank geworden waren. Als Asylbewerber konnten sie zum Arzt gehen, als
       Statuslose waren sie nicht krankenversichert.
       
       Andere registrierten sich als Asylbewerber, weil sie aus dem
       coronaverseuchten Deutschland in das vor Ansteckungen sichere Vietnam
       zurückkehren wollten und das ohne Registrierung in Deutschland nicht
       funktioniert. Ein paarmal hat die Regierung in Hanoi Rückholaktionen für
       vietnamesische Staatsbürger organisiert. Man benötigt allerdings einiges an
       Beziehungen, um auf so eine Liste zu kommen.
       
       Doch was passierte mit denjenigen, die ungewollt länger in Berlin
       festhingen und hier nicht arbeiten konnten? In der Lockdownphase zeigte
       sich, wie eng das Leben der VietnamesInnen, die legal hier leben mit denen,
       die illegal hier leben, verwoben ist. Auf Facebook appellierte man
       aneinander, die illegalen UntermieterInnen nicht auf die Straße zu setzen
       und ihnen zumindest ein kleines Taschengeld zu zahlen.
       
       Ein Restaurant kochte mehrmals für „arme Menschen“, wie es hieß – doch
       jeder wusste, dass damit die Statuslosen gemeint waren. Das Essen wurde in
       Papiertüten vor das Restaurant gestellt, die Zeiten waren auf Facebook
       angekündigt worden. Und für diejenigen, die sich aus Angst vor einer
       Polizeikontrolle nicht persönlich zu dem Restaurant trauten, richtete ein
       Mann Mitte 40 einen Lieferservice für die Essenstüten an. Ganz ähnlich, wie
       die Aktion „Laib und Seele“ bedürftige BerlinerInnen in der Lockdownphase
       mit Essen versorgte. Aber hier war es ein geschlossener vietnamesischer
       Kreislauf und niemand musste seine Bedürftigkeit mit amtlichen Bescheiden
       nachweisen.
       
       Inzwischen haben die statuslosen VietnamesInnen in Berlin wieder Arbeit.
       Einige sind weiter nach Westeuropa gewandert, als die innereuropäischen
       Grenzen wieder öffneten. Nach Großbritannien zu gelangen ist seit dem
       Brexit und mit Corona aber noch schwieriger geworden. So hängen viele noch
       heute in Berlin fest.
       
       1 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.linhthuu.de/
 (DIR) [2] http://vietnam-bb.de/vi/trang-chu/
 (DIR) [3] /Vietnamesische-Community-in-Berlin/!5673486/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marina Mai
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Vietnamesen in Berlin
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Vietnam
 (DIR) Bootsflüchtlinge
 (DIR) Berlin-Lichtenberg
 (DIR) Was macht eigentlich …?
 (DIR) Vietnamesen in Berlin
 (DIR) Geflüchtete
 (DIR) Buddhisten
 (DIR) Menschenhandel
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) KP Vietnam
 (DIR) Dong-Xuan-Center
 (DIR) Vietnamesen in Berlin
 (DIR) Vietnam
 (DIR) Migration
 (DIR) Vertragsarbeiter
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Streit um Pagode in Berlin: Ein Platz zum Beten
       
       Die Lichtenberger Pho-Da-Pagode ist bedroht, weil sie in einem
       Gewerbegebiet steht. In einem taz-Talk aber war zu hören, dass es neue
       Hoffnung gibt.
       
 (DIR) Vietnamesische Ukraine-Flüchtlinge: Erster Fluchtpunkt Kirchenkeller
       
       Auch Vietnamesen flüchten aus der Ukraine nach Berlin. Sie stoßen hier auf
       ein europaweites Hilfsnetzwerk. Unklar ist für viele der Aufenthaltstatus.
       
 (DIR) Berliner Erfolgsgeschichte: Alles für die Familie
       
       Van Tuyen Pham kam als 14-Jähriger allein aus Vietnam nach Deutschland. Als
       Schüler jobbte er als Tellerwäscher, nun eröffnet er sein 6. Restaurant.
       
 (DIR) Buddhistische Pagode in Lichtenberg: Beten für eine Perspektive
       
       Eine buddhistische Pagode soll umziehen, weil sie nicht in einem
       Gewerbegebiet stehen darf. Dabei könnte der Bezirk wohl eine Ausnahme
       machen.
       
 (DIR) Kritik vietnamesischer Vereine: Verschiedene Perspektiven
       
       Vietnamesen in Berlin wehren sich gegen Medienberichte über Menschenhandel.
       Die Emotionalität der Debatte ist in der Migrationsgeschichte begründet.
       
 (DIR) Vietdeutsche in Berlin: Ein Leben für die Blumen
       
       Unsere Autorin hat als Kind viel Zeit im Blumenladen ihrer Eltern
       verbracht. Über vietdeutsches Leben und das harte Geschäft mit schönen
       Blumen.
       
 (DIR) Ecstasy-Connection Berlin–Hanoi: Vietnams Innenminister belastet
       
       Ein Verwandter von Vietnams Innenminister soll in Drogen-Schmuggel von
       Berlin nach Hanoi involviert sein. Die Ware war wohl als Kosmetika
       deklariert.
       
 (DIR) Brand im Berliner Dong-Xuan-Center: Keine Klärung des Sachverhalts
       
       Bitter für die, die ihre Ware in dem Feuer verloren haben: Strafrechtliche
       Ermittlungen zum Brand im Dong-Xuan-Center 2019 ohne Ergebnis eingestellt.
       
 (DIR) Vietnamesische Community in Lichtenberg: Kein Ort mehr für Begegnungen
       
       Das beliebte Dong-Xuan-Center soll nur noch für Großhändler zugelassen
       werden. KleingewerbebetreiberInnen stellt dies vor große Herausforderungen.
       
 (DIR) Corona in Vietnam: Rückschlag im Musterland
       
       Drei Monate meldete Vietnam keine neuen Corona-Infektionen. Nun traten
       gleich 15 Fälle innerhalb von wenigen Tagen auf.
       
 (DIR) Migration und Fachkräftemangel: Was immer ihn glücklich macht
       
       Ein junger Vietnamese bekommt in Thüringen die Chance, Elektroniker zu
       werden. Nach drei Monaten schmeißt er hin. Die Story eines
       Missverständnisses.
       
 (DIR) Vietnamesische Vertragsarbeiter in DDR: Sie blieben
       
       Vor 40 Jahren schloss die DDR einen Vertrag mit Hanoi, um vietnamesische
       Arbeiter ins Land zu holen. Ein Stück deutsche Geschichte.
       
 (DIR) Vietnamesische Community in Berlin: Solidarisch an der Nähmaschine
       
       Die Erwerbsgrundlage vieler Vietnamesen ist mit Corona zusammengebrochen.
       Während die einen Masken nähen, wollen andere zurück nach Vietnam.